Martyr
Kapitel 1
Biest
Seit ich entschieden habe, dass ich mit Harry befreundet bin, bin ich bereit gewesen, alles für ihn zu tun. Na ja, fast alles zumindest, denn als er mich bittet, ihm einen Gefallen zu tun, der moralisch gesehen mehr als einen Haken hat, bin ich mir bezüglich meiner freundschaftlichen Gefühle für ihn nicht mehr ganz so sicher.
Angefangen hat es damit, dass wir Snape ausspionieren wollten, weil wir vermuteten, dass Draco Malfoy zu einem Todesser geworden war. Außerdem behauptete Harry, er hätte ein eigenartiges Gespräch zwischen Snape und Draco mitverfolgt, in dem es um einen unbrechbaren Schwur ging.
Bis dahin war die Sache mit dem Ausspionieren ja noch völlig harmlos, es war ja schließlich nicht das erste Mal, dass wir so etwas taten. Nachdem wir jedoch keinen besonderen Erfolg verbuchen konnten, wurden wir ungeduldig und beschlossen, einen Schritt weiter zu gehen. Irgendjemand von uns sollte sich opfern, um mit aller Gewalt an Snape heranzukommen. Genau hier aber liegt der Hund begraben, denn das Los fiel auf mich.
Inzwischen kann ich behaupten, dass ich mich sehr unwohl in meiner Haut fühle, was wohl damit zusammenhängt, dass es sich um Snape handelt. Außerdem gefällt mir nicht, was die Jungs ausgeheckt haben. Doch da ich alles andere als ein Feigling bin, werde ich sehen, was ich tun kann.
Nach reichlicher Vorbereitung stehe ich also an der Tür zu Professor Snapes Büro und klopfe an. In den Kerkern ist es kühl und schon während ich darauf warte, dass er mich einlässt, fange ich zu frösteln an.
Endlich geht die Tür auf und er steht vor mir.
„Guten Abend, Professor", sage ich mit einem freundlichen Lächeln, wobei ich hoffe, dass es nicht zu aufgesetzt klingt, Snape ist schließlich nicht von gestern. Eine Falle würde er meilenweit gegen den Wind riechen.
Wenig begeistert von meinem Anblick legt er den Kopf schief und zieht eine seiner Brauen in die Höhe.
„Miss Granger … Was kann ich für Sie tun?"
Da seine Worte weder freundlich noch unfreundlich klingen, sondern einfach nur nach Snape, wage ich, einen Schritt weiterzugehen.
Mit zittrigen Fingern klappe ich meine Schultasche auf und hole etwas unbeholfen meine Notizen hervor, die ich aus den letzten Stunden in Zaubertränke zusammengefasst habe. Dass ich so nervös bin, sollte eigentlich ein kleines Ablenkungsmanöver sein, das ich genauestens einstudiert habe; nicht dass es nötig gewesen wäre, denn meine Unsicherheit kommt nicht von ungefähr: ich habe Schiss.
Snape wirft einen kurzen Blick auf meine Notizen und rümpft die Nase.
Während ich ihm ausführlich erkläre, dass ich mich genauestens an die Vorschriften meines Zaubertränkebuchs gehalten habe, ohne zu dem gewünschten Ergebnis zu kommen, seufzt er einige Male leise vor sich hin.
Als ich dann fertig bin, blinzle ich ihn voller Erwartung an.
„Sollten Sie das nicht lieber den Lehrer fragen, der das Fach unterrichtet?", äußert er kühl.
„Das weiß ich, Sir", gebe ich offen zu. „Es liegt mir ja auch wirklich fern, Professor Slughorn und seine Lehrmethoden zu kritisieren, Sir, aber unter diesen Umständen fürchte ich, bleibt mir nur noch, Sie um Hilfe zu bitten."
„Was genau wollen Sie damit andeuten Miss Granger?", will er ohne allzu große Anteilnahme wissen. „Dass mein Kollege nichts von seinem Fach versteht?"
Ich schüttle schnell den Kopf. „Oh, keinesfalls."
„Was dann?"
Mit gesenkter Stimme fahre ich fort. „Wissen Sie, unter uns gesagt, wünschte ich, Professor Slughorn würde seine Ahnenforschung lieber auf seine Freizeit verlegen ..."
Snapes Mundwinkel spielen, worauf ich schließe, dass er es genießt, dass sich jemand über Slughorn lustig macht. Gleich darauf ziehen sich jeodch seine Brauen zusammen. Er öffnet den Mund und scheint etwas sagen zu wollen. Doch noch ehe es dazu kommt, ergreife ich die Gelegenheit und lege erneut los, ihm zu erklären, wie wichtig es für mich ist, genauestens Bescheid zu wissen, was ich zu tun habe, damit mir nicht noch einmal derselbe Fehler unterläuft, sollte ich aufgefordert werden, denn Sud des lebenden Todes zu brauen.
Es dauert nicht lange, da wird er ungeduldig und wippt mit einem Fuß auf und ab. Bisher muss ich feststellen, dass alles nach Plan verläuft. Noch immer rede ich auf ihn ein und deute mit meinem Finger auf das Pergament.
„Sehen Sie? Als ich an dieser Stelle der Beschreibung angelangt war, hatte der Trank noch genau die richtige Farbe. Aber hier oder hier muss irgendwas schief gegangen sein."
Snape senkt derweil gelangweilt den Blick, sodass ihm seine ungepflegten Strähnen vors Gesicht fallen.
Wie auf Kommando beuge ich mich zu ihm rüber und berühre mit meiner Schulter seinen Arm. So eigenartig das auch klingt, macht es mir nicht einmal was aus. Er scheint in guter Stimmung zu sein an diesem Abend. Wenigstens bis gerade eben noch.
Als ihm bewusst wird, wie nahe ich bei ihm stehe, hebt er schlagartig den Kopf und sieht mich an. So durchdringend, wie seine Augen mich mustern, komme ich mir vor, als hätte er mich längst durchschaut.
Zwischen uns wird es still. Ich glaube, so nahe war ich ihm tatsächlich noch nie zuvor. Fast vergesse ich dabei mein Anliegen, vergesse, weshalb ich hier bin. Ich kann ihn riechen und seinen Atem hören, der gleichmäßig aus seiner Nase strömt, spüre die Wärme, die von ihm ausstrahlt.
Ohne den Blickkontakt zu mir zu unterbrechen, höre ich seine Kiefer mahlen. Seine Lippen sind fest aufeinander gepresst, als seine markante Stimme zu mir durchdringt.
„Zaubertränke also", schnarrt er vollkommen unerwartet.
Ich muss schlucken. Mist, die Katze ist dann wohl aus dem Sack.
Über sein zerfurchtes Gesicht legt sich ein süffisantes Grinsen, dazu ein Funkeln in den Augen. Dann, schlagartig, ist es mit seiner Ruhe vorbei. Seine Hand schlägt mir mit einer Bewegung meine Tasche aus dem Griff, die darauf befindlichen Notizen segeln durch die Luft.
Mein Herz macht einen Satz. Im nächsten Moment packt er mich an der Schulter und zerrt mich ins Innere seines Büros. Die Tür kracht ins Schloss, ich werde dagegen geworfen und kann nur noch hilflos auf Snapes vor mir aufragende, wild atmende Gestalt blicken, der sich mit vor der Brust verschränkten Armen vor mir aufbaut und auf eine Erklärung zu warten scheint, die ich nicht habe.
„Also", knurrt er nach einigen Sekunden fordernd. „Wer hat Sie geschickt? War es Potter?"
Mir fehlen nicht nur die Worte, sondern auch die Spucke, so trocken fühlt sich mein Mund an.
„Wie – wie kommen Sie darauf?", bringe ich unbeholfen hervor.
Snape stiert mich mit seinen schwarzen Augen an. „Richten Sie Ihrem Freund aus, er möge das nächste Mal wenigstens den Mut besitzen, selbst zu kommen, wenn er etwas über mich in Erfahrung bringen will."
Energisch wehre ich ab. „Nein! So war das nicht ..."
„Lügen Sie mich nicht an, Granger!", unterbricht er mich gefährlich knurrend. „Glauben Sie, ich wüsste nicht, was da gespielt wird?"
Während er sich bemüht, seine Atmung unter Kontrolle zu halten, bekomme ich Zweifel daran, ob es richtig war, seine Geduld auszureizen. Ich fühle mich schäbig, weil ich weiß, dass ich es verdiene, von ihm dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Und obwohl ich zugleich eine ungeheure Wut auf Harry und Ron verspüre, würde ich doch alles tun, um sie aus der Angelegenheit herauszuhalten, sie würden schließlich dasselbe für mich tun, wenn es andersrum gewesen wäre und er sie erwischt hätte.
„Was kann ich tun, damit Sie mir zuhören und glauben werden?", frage ich vorsichtig.
Es kostet mich eine gehörige Portion Überwindung, das zu tun, weil ich weiß, dass mich jede Lüge nur noch mehr in Schwierigkeiten bringen wird.
Snapes Nasenflügel beben vor Zorn. Sein sonst so aschfahles Gesicht hat eine eigentümliche Röte angenommen, wodurch er ein wenig verunsichert wirkt. Er scheint zu überlegen, was er mit mir tun soll.
Mir wird langsam bewusst, dass ich ihm ganz schön zugesetzt haben muss. Streng genommen kann ich es ihm nicht einmal verübeln, dass er so impulsiv reagiert hat, niemand wird gern von anderen zum Narren gehalten. Noch dazu nicht, wenn er ein Professor ist, dem man eigentlich mit Respekt begegnen sollte, was ich eindeutig nicht getan habe. Trotzdem war es untypisch für ihn, körperlich an mich heranzugehen, denn für gewöhnlich lässt er seinen Unmut eher auf verbale Weise zum Ausdruck kommen. Im Unterricht konnte ich ihn bereits mehrmals gereizt erleben, wenn Harry frech wurde oder Neville ihn mit seiner Tollpatschigkeit zur Weißglut getrieben hat. Auch mich schien er von Anfang an nicht sonderlich zu mögen. Seit unserer ersten gemeinsamen Stunde in Zaubertränke hat er meine Versuche, etwas Sinnvolles zum Unterrichtsgeschehen beizutragen, zurückgewiesen und mich und meinen Eifer vor der ganzen Klasse hochgenommen.
Langsam lässt er die Arme sinken und gleitet zu seinem Schreibtisch hinüber. Dort angekommen stützt er sich, die Zähne gefletscht, wie eine breitbeinige Bulldogge mit den Knöcheln auf der Tischplatte ab und bedeutet mir anhand eines finsteren Blicks, mich auf den freien Stuhl zu setzen, der so einladend vor seinem Tisch steht, als hätte er nur auf mich gewartet.
Das behagt mir gar nicht, um ihn jedoch nicht noch mehr zu reizen, gehorche ich und lasse mich wie ein Häufchen Elend vor ihm nieder.
Schweigend starrt er mich mit funkelnden schwarzen Augen an, ehe er behände seinen Umhang anhebt und sich ebenfalls auf seinen Stuhl setzt.
„Also", sagt er unwahrscheinlich ruhig, „versuchen wir es noch einmal. Was war die Absicht dieses Unternehmens, Granger? Wollten Sie mich verarschen?"
Überrumpelt von seiner Wortwahl muss ich blinzeln.
„Nein", sage ich kleinlaut.
Er legt den Kopf schief. „Was dann?", fragt er süßlich.
Wie er es nur immer wieder schafft, die Lage zu seinen Gunsten zu verändern, ist bemerkenswert. Schon im Unterricht ist mir das aufgefallen, doch ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, er würde seine Wut kurz und bündig zum Ausdruck bringen, anstatt mich hier zu quälen. Ich muss mir dringend eine neue Taktik einfallen lassen und schlucke.
„Ich wollte Sie sprechen", murmle ich leise. „Genau genommen wollte ich Sie sehen. Sie persönlich."
Wortlos öffnet er den Mund und macht ihn wieder zu - spüre ich da etwa den Hauch einer menschlichen Regung in Snape? Das Erwachen eines ihm fremden Gefühls? Immerhin hat er vorhin aufgrund meiner mehr oder weniger zufälligen Berührung fast die Fassung verloren.
Um sicherzugehen, dass ich mich nicht getäuscht habe, fahre ich fort.
„Ich – ich habe mich gefragt ..."
Oh mein Gott. Was tue ich da bloß? Er starrt mich so eigenartig an, dass ich nicht sicher bin, ob er mich anspringen und töten oder mich vielleicht sogar flachlegen wird, sobald ich ausgesprochen habe, was mir in den Sinn kommt. Wer weiß, vielleicht hat er es ja nötig...
„Ähm, ob Sie vielleicht gemerkt haben, dass ich … bitte verzeihen Sie, was ich jetzt sage. Ich hege gewisse Gefühle für Sie, die mir genaugenommen nicht zustehen, weil Sie unangemessen sind ..."
„Das war der Grund, weshalb Sie hier hergekommen sind?", fragt er emotionslos, noch ehe ich so richtig begreife, was ich überhaupt von mir gegeben habe.
Sein Stuhl schabt über den Boden, als er ihn ein Stück nach hinten zurückschiebt, um seinen Beinen mehr Freiheit zu gewähren. Er streckt seine langen Finger, lehnt sich entspannt zurück und verschränkt die Hände hinter dem Kopf, ohne mich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.
"Stehen Sie auf", sagt er seelenruhig.
Ich tue es, wobei ich mich unweigerlich frage, ob er die misslichen Lagen seiner Schüler schon des Öfteren für derartige Spielchen ausgenützt hat. Körperlich und auch sexuell betrachtet glaube ich eigentlich nicht, dass ihn jemand hier in Hogwarts anziehend finden würde. Snape selbst kam mir immer schon wie ein Eremit vor, aber wer weiß das schon so genau. Als er mich vorhin angestarrt hat, hatte ich jedenfalls ein eigenartiges Gefühl.
Verzweifelt klammere ich mich an das Vertrauen, das Dumbledore in ihn setzt. Wäre Snape jemand, der sich an seinen Schülern vergreift, würde Dumbledore ihn mit Sicherheit nicht hier unterrichten lassen. Andererseits belegen die Erlebnisse mit Umbridge im letzten Jahr deutlich, dass auch er nicht alles im Griff haben kann. Trotzdem glaube ich nicht, dass Snape so etwas tut. Er mag zwar einen gewissen Ruf haben, ein seltsamer Eigenbrötler zu sein, meine Menschenkenntnis warnt mich dennoch davor, ihm das zuzuschreiben. Snape und die Vorstellung, ihn mit einer Frau zu sehen, ist ehrlich gesagt schon schlimm genug. Oder Snape und ein Mann? Ich glaube eigentlich nicht, dass er auf Männer steht, sonst hätte er mich vorhin nicht so komisch angesehen und mich auch nicht dazu aufgefordert, mich ihm zu nähern. Auch der Gedanke, dass er überhaupt sexuelle Kontakte zu jemandem hat, erscheint mir geradezu absurd, schließlich ist er der unnahbarste Mensch, den ich kenne. Und einsam ist er vermutlich obendrein. Selbst wenn ich mich dabei irren sollte, dürfte er seiner Zugehörigkeit zu den Todessern zufolge eher dem Typ Mann entsprechen, der sich mit gekauften Frauen abgibt. Es gibt mehr als genug Gerüchte darüber, dass Todesser untereinander rege Orgien abhalten, schließlich ist Voldemort dagegen, dass sich seine Anhänger mit Muggeln paaren. Was wohl Snape davon hält? Welche Frau wäre bereit, mit jemandem zu schlafen, der emotional so kaltschnäuzig ist?
Snape sieht mir genauestens zu und mustert mich für einen endlos langen Moment vom Scheitel bis zum Rock. Weiter kommt er nicht, der Tisch ist seinem Blickfeld im Weg.
"Wie alt sind Sie, Granger?"
Meine Knie wanken. Es gibt wohl kaum etwas, was ich jetzt lieber täte, als einfach davonlaufen. Alleine die Vorstellung, von ihm entjungfert zu werden, jagt mir Angst ein. Ob es da was bringt, einen unschuldigen Blick aufzusetzen?
"Gerade bin ich siebzehn geworden, Sir."
Er wippt nachdenklich mit dem Kopf. "Das heißt, in unserer Welt sind Sie volljährig."
"Ja."
Er atmet tief und langanhaltend ein. "Und deshalb sind Sie natürlich auch bereit, die Konsequenzen Ihres Auftritts zu tragen, die dementsprechend auf Sie zukommen werden."
Ich schlucke mit trockener Kehle. "Sir …"
"Ich war noch nicht fertig", unterbricht er mich schneidend und fährt sich mit der Hand durch die langen Strähnen, etwas nervös, wie mir scheint. "Lassen Sie mich ausreden, Granger."
Betreten nicke ich und die tiefe Furche zwischen seinen Brauen gerät in Bewegung.
"Sie denken also, Sie können mir eins auswischen, indem Sie mir schöne Augen machen", fährt er trocken fort.
Ich wusste, dass es schief gehen würde. Vom Anfang an hatte ich ein komisches Gefühl bei Harrys Plan.
Seine Zunge benetzt die dünnen, farblosen Lippen. "Kommen Sie hier rüber", befiehlt er schlicht.
Sofort wird mir klar, Snape ist sowohl ein Genussmensch als auch ein Sadist. Er liebt es, mich für meine Dreistigkeit leiden zu lassen, genauso wie er es liebt, im Unterricht von den Dunklen Künsten zu reden.
Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen und umrunde den Tisch. Etwa einen Meter vor ihm mache ich Halt.
Er hebt eine seiner Brauen und sieht leicht amüsiert zu mir hinauf. "War das alles? Dafür, dass Sie, wie Sie sagten, Gefühle für mich hegen, hätte ich mir mehr erwartet, Granger."
Gott, wie ich dieses Spiel hasse! Seinen Zynismus kann er sich sparen. Was erwartet er denn von mir? Dass ich mich auf seinen Schoß setze? ... Wenn ich Harry und Ron sehe, bringe ich sie um!
In dem Bemühen, ihm meine Unsicherheit nicht zu deutlich zu zeigen, beuge ich mich zu ihm hinunter, lege meine Hände auf seine Schultern und sehe ihm ins Gesicht. Wieder sind wir uns eigenartig nahe. Ich kann ohne allzu große Schwierigkeiten und selbst bei dem diffusen Kerzenlicht, das in seinem Büro herrscht, jede seiner Poren erkennen. Er dürfte in etwa so alt sein wie Sirius, wenn er noch leben würde, immerhin sind sie zusammen in die Schule gegangen. Doch Snapes Haut lässt ihn aus dieser Perspektive weitaus älter erscheinen, als ich es für möglich gehalten hätte.
"Geben Sie zu, dass alles nur gelogen war, Granger, dann können wir das hier ganz schnell beenden", legt er mir unmissverständlich nahe.
In mir regt sich der Widerstand. Ich will ihn nicht gewinnen lassen, auch wenn das vielleicht trotzig und kindisch klingt. Angenommen, in der wahren Welt dort draußen, würde ich anderen Todessern gegenüberstehen - was würden die wohl alles von mir verlangen?
Er lächelt verhalten, was schon an sich eine Seltenheit ist, denn normalerweise bevorzugt er ein fieses Grinsen, um jemanden zu entwaffnen. Als Folge dessen übermannt mich mein Adrenalin. Noch mehr Trotz und Widerstand kommen in mir hoch. Genau das hatte ich vermeiden wollen, doch mir bleibt kaum etwas anderes übrig, wenn ich ihn nicht gewinnen lassen will.
Ermutigt von dem Gedanken, dass alles nur eine Vorbereitung auf mein zukünftiges Leben als Harrys beste Freundin ist, die bereit ist, alles für ihn zu opfern, setze ich mich tatsächlich auf seinen Schoß. Snape scheint für den Bruchteil einer Sekunde zu überrascht zu sein, um darauf zu reagieren. Spätestens jetzt bin ich mir sicher, dass noch kein anderer Schüler oder eine Schülerin es gewagt hat, ihn auf diese Weise herauszufordern. Ebenso wenig hatte er sexuellen Kontakt zu einem von ihnen. Gleich darauf hat er sich aber wieder gefasst und hält meinem Blick eisern stand. Meine Hände fahren langsam bis zu seiner Brust hinab, wo ich die Finger um die bebenden Knöpfe schlinge und mich ihm mit der Nase bis auf wenige Zentimeter nähere.
"Wie ist es jetzt, Professor?", frage ich leise. "Sind Sie immer noch überzeugt von Ihrem Urteil über mich und meine Absichten?"
Er schluckt hart. Ich kann es hören.
"Wer weiß, Granger", murmelt er scheinbar ungerührt. "Fürs Erste schlage ich vor, Sie überlegen sich gut, was Sie als Nächstes tun. Andernfalls kann ich für nichts garantieren."
Ich muss schaudern. Während ich ihn betrachte, kommt es mir vor, als hätte sich durch seine eigene Unsicherheit, die er vor mir verbergen möchte, meine Angst gelegt. Er ist mein Professor. Er unterrichtet mich. Ich habe hier auf seinem Schoß nichts zu suchen. Und trotzdem ist er ein menschliches Wesen aus Fleisch und Blut, das irgendwo tief in seinem Inneren versteckt ebenso wie ich nach Zuneigung und Nähe sucht. Der einzige, wirklich zählende Unterschied zwischen uns ist nur der, dass er es den Menschen unglaublich schwer macht, an ihn heranzukommen.
Sekunden vergehen. Ich kann seine Wärme spüren, die mich umgibt. Sie verschafft mir Trost in diesen kalten Mauern, obwohl ich weiß, dass ich das nicht zulassen sollte. Zugleich nehme ich wahr, dass sich seine Atmung noch einmal rapide beschleunigt hat, womit ich mich darin bestätigt fühle, dass die Situation auch für ihn ungewöhnlich ist.
Erst jetzt fällt mir auf, wie still er ist. Noch stiller als sonst jedenfalls. Etwas geschieht hier, das sich nur schwer erklären lässt. Keiner von uns sagt auch nur einen Ton, niemand rührt sich merklich. Und doch kann ich eine Veränderung wahrnehmen, die sich zwischen uns im Verborgenen abspielt, so wie eine Gefühlsregung ... Ist es möglich, dass einem die Sinne einen derartigen Streich spielen können? Vor wenigen Minuten noch hätte ich ihm am liebsten einen Fluch dafür aufgehalst, dass er mich so in Bedrängnis gebracht hat. Jetzt will ich, dass er den nächsten Schritt tut, damit ich mir nicht mehr so verloren vorkomme, weil ich keine Ahnung habe, was ich tun soll. Fest steht nur, dass ich den Punkt, einfach davonzulaufen, überschritten habe. Es kommt mir schon fast sinnlich und erotisch vor, wie ich bei ihm sitze. Ein Schulmädchen, das gerade mal erwachsen geworden ist und noch immer am Rande der Schwelle steht, die sie zur Frau werden lässt.
Snape scheint es auch zu spüren. Eine gewisse, zutiefst anziehende Ausstrahlung liegt in seinem Blick. Wie zufällig senkt er den Kopf, sodass ihm die Strähnen ins Gesicht fallen und mit einem Schlag alles eben noch dagewesene zunichte machen.
"Gehen Sie jetzt, Miss Granger", höre ich ihn plötzlich mit rauer Stimme sagen, wobei seine dünnen Lippen sichtbar vibrieren. "Sofort."
Wie paralysiert starre ich ihn an. So abrupt aus meinen Gedanken gerissen zu werden, gefällt mir gar nicht. Es löst ein Gefühl der Hilflosigkeit in mir aus. Ich mochte es, mir bewusst zu machen, was das eigentlich ist, das uns so voneinander unterscheidet, weil mir dabei klar wurde, dass ich ihn falsch eingeschätzt habe. Das eigentümliche Wesen des Professor Snape hat an Gewalt und Macht verloren. Es hat sich gegen ihn gewendet und seine Schwäche offenbart, hat mir gezeigt, dass immer noch ein Mensch mit Herz und Seele in ihm steckt, anders als bei Voldemort.
