DISCLAIMER: Alle in dieser Geschichte verwendeten Namen, Orte, Figuren sowie erwähnte Originalhandlungsstränge aus "Der Herr der Ringe" sind das Eigentum von J.R.R. Tolkien bzw. seiner Erben. Eine Urheberrechtsverletzung ist nicht beabsichtigt. Der Handlungsstrang dieser Geschichte ist Eigentum der Autorin.


Er war in einem Land der Finsternis, wo man die Tage, oder was man anderswo auf der Welt so nannte, wohl vergessen konnte; und jeden, der hierher kam, konnte man auch vergessen."

Der Turm von Cirith Ungol – Die Wiederkehr des Königs, J.R.R. Tolkien


Das Klagelied der Krähe

~12. bis 14. März 1421 nach Auenland Rechnung~

Teil I


„Gute Nacht denn, mein lieber Vetter" rief Merry und lachte viel zu laut. Es war ein Lachen, welches er dem köstlichen Bier zu verdanken hatte, das den Abend über seine Kehle hinab geronnen war. „Lass es dir nicht einfallen zu stolpern und zu fallen, nur um auf deiner feinen Nase zu landen." Merrys Stimme war verwaschen vom Alkohol und er grinste als er den feinen roten Hauch auf den Wangen seines Vetters gewahrte. Merry stand auf, umrundete den Tisch auf wackeligen Beinen und zog seinen Freund in eine feste Umarmung.

„Du solltest auch nach Hause gehen" japste der in Merrys enger Umarmung Gefangene und hatte es offensichtlich schwer, eine ausreichende Menge Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen. „Ich könnte es nicht gutheißen, wenn du irgendjemanden außer einen deiner Verwandten erstickst," sagte er. Er grinste und befreite sich aus den Armen des anderen Hobbits.

„So ist es, mein lieber Frodo. So ist es in der Tat" lachte Merry und hielt sich den Bauch mit beiden Händen. „Meister Samweis!" rief er und durchsuchte den großen Schankraum mit den Augen. „Meister Samweis!" rief er noch einmal, diesmal ein wenig lauter, da das Geplapper der anderen Gäste seinen eigenen Ruf fast unhörbar machte.

„Du musst nicht schreien, Herr Merry." Der gesuchte Hobbit tauchte aus dem Nichts neben Merry auf. Oder jedenfalls dachte dies genannter Hobbit, denn sein benebelter Geisteszustand hatte seine Sicht ebenfalls ein wenig getrübt.

„Meister Samweis!" lachte Merry und bedachte den treuen Freund seines Vetters mit einem Titel, der einem einfachen Gärtner unwürdig war. „Frodo wünscht sich für die Nacht zurückzuziehen und das obwohl er noch nicht annähernd genug von diesem hervorragendem …" Er griff nach seinem Krug und leerte ihn in einem Zug „… Gebräu hatte." Beendete er seinen Satz und fuchtelte mit dem leeren Krug in der Luft herum. „Kannst du ihn nicht überzeugen doch noch ein klein wenig länger zu bleiben? Der Abend hat eben erst begonnen." Er beobachtete seines Vetters besten Freund, wohl um zu erahnen, was seine Antwort sein würde.

„Es ist bald Mitternacht, Herr Merry und wenn Herr Frodo wünscht nach Hause zu gehen, so sollte er dies tun", sagte Sam und seufzte. „Komm, Herr Frodo. Beutelsend ist eine Meile oder zwei entfernt und du siehst ziemlich mitgenommen aus." In freundschaftlicher Geste legte er Frodo seinen Arm um die Schultern, aber zog ihn sogleich zurück, als er merkte, wie Frodo zusammenzuckte. „Was ist Herr Frodo?" fragte er mit Sorge in seinen großen braunen Augen.

„Nichts", winkte Frodo ab. Irgendetwas in seinen leicht geröteten Augen sagte Sam aber, dass dies nicht die ganze Wahrheit war. „Ich bin müde und du hast mich erschreckt." Der ältere Hobbit lächelte seinen Freund an in dem Versuch ihn zu überzeugen, dass tatsächlich alles so war, wie es sein sollte.

„Naja, dann ist es wohl besser, wenn ich dich nach Hause bringe, Herr Frodo. Die Herren Bilbo und Gandalf hätten sicher das eine oder andere Hühnchen mit mir zu rupfen, wenn man so sagen kann, wenn sie herausfänden, dass ich nicht ordentlich auf dich aufgepasst habe", sagte Sam und seine Stirn war in tiefe Falten gelegt. „Und auch Rosie wäre wohl nicht gerade erfreut. Sie ist nicht gerade bester Laune mit dem Kleinen im Bauch. Gar kein Zweifel", fügte Sam geplagt hinzu. Frodo musste unwillkürlich lachen, als er den fast schon verzweifelten Ausdruck im Gesicht seines Freundes sah.

„Mein lieber Sam", sagte er und lächelte den jüngeren Hobbit gutmütig an. „Ich bin kein Kind mehr und daher durchaus in der Lage selbst auf mich Acht zu geben. Du machst dir um mich alten Hobbit zu viele Sorgen."

„Darum geht es doch gar nicht, Herr Frodo", entgegnete Sam, der die Wirkung des Alkohols selbst spürte und wohl deshalb der Gnade seiner etwas zu locker sitzenden Zunge ausgeliefert war. „So versteh doch. Ich habe vor einer ganzen Weile ein Versprechen gegeben und ich habe vor es zu halten. Ich bin immer noch nicht überzeugt, dass mich Herr Gandalf nicht in etwas…" er zögerte einen Moment angestrengt nachdenkend „… unnatürliches verwandelt."

„Rosie würde das wohl nicht allzu sehr begrüßen", schalt Merry. Erneut erfüllte sein herzhaftes Lachen die ganze Schankstube. Sam lief ob Merrys lauten Worten puterrot an. Obwohl Rosie die seine war, konnte er sich immer noch nicht so ganz an den Gedanken gewöhnen, dass ein Mädchen wie sie nur Augen für ihn hatte. „Dann geh schon und bringe Herrn Frodo nach Hause. Wir wollen ja nicht, dass der gute alte Gandalf dich in eine Kröte verwandelt." Offensichtlich hatte das Bier auch Merrys Zunge gelockert.

„Gute Nacht, Merry", sagte Frodo. Er ging auf die Tür zu und wartete dort auf Sam, bis er sich ihm anschließen würde. Und das tat Sam auch nachdem auch er allen Lebewohl gesagt hatte.

Sie gingen in die kalte Frühlingsnacht hinaus und beinahe im selben Augenblick, als sie die kühle Nachtluft einsogen, wurde ihnen schwindelig. Auf wackeligen Beinen trotten sie über die Brücke bei Sandigmanns Mühle, den Hügel hinauf und brachten die beinahe zwei Meilen zwischen dem Grünen Drachen, durch Hobbingen und hinauf zum Beutelhaldenweg in weniger als einer Stunde hinter sich. Sams Blick wanderte über die sanften grünen Hügel, auf denen die im vergangenen Jahr gepflanzten Setzlinge langsam zu kleinen Bäumen heranwuchsen. Mit der Zeit würden sie das Bild eines zerstörten Landes in die Welt dunkler Erinnerungen verbannen. Tau benetzte die saftigen Wiesen und der Mond tauchte die kleinen Tropfen auf den Halmen in silbernes Licht. Ab und an sah man in den runden Fenstern der Häuser und Höhlen noch das Licht einzelner Kerzen flackern, jedoch waren um diese Zeit die meisten der anderen Hobbits bereits in das Land der Träume entschwunden. Oder sie tranken noch ein oder zwei Biere im Grünen Drachen. Frieden war in das Auenland und zu seinen Einwohnern zurückgekehrt. Die Wunden, die dem Land und den Hobbits zugefügt worden waren, waren längst verheilt und gequälte Seelen befriedet. Jedenfalls die meisten.

„Da sind wir", hob Sam an, als sie das Gartentor des Smials im Beutelhaldenweg 1 erreichten. Er sah Frodo fragend an, der neben ihm stehen geblieben war. Im fahlen Mondlicht schien sein Gesicht blass; die Röte in seinen Wangen war verschwunden und jegliche Farbe aus seinem Gesicht gewichen. „Bist du krank?" fragte Sam unbeholfen und legte seine Zweifel nicht ab, als Frodo den Kopf schüttelte.

„Ich denke, ich hatte nur ein wenig zu viel von dem guten Bier", erklärte sich der Ältere der beiden und ging hinauf zur Haustür, um sich dort auf die Bank fallen zu lassen, die direkt daneben stand. Er lächelte Sam zu. „Geh zu deiner Rosie, mein lieber Sam. Sie braucht den Trost deiner Umarmung jetzt mehr als je zuvor."

Sam seufzte. „Glaubst du, sie wird wütend sein? Ich hab versprochen vor Mitternacht zurück zu sein und jetzt schau dir die Zeit an! Heute ist schon morgen!"

Frodo kicherte. „Rosie wütend auf dich? Nein, Sam. Ich glaube nicht, dass sie das sein wird. Sie verehrt dich mindestens im gleichen Maße wie du sie. Wahrscheinlich hat sie es gar nicht in sich auf dich wütend sein zu können." Er zwinkerte seinem Freund aufmunternd zu. „Geh zu ihr Sam. Ich werde hier noch für eine Weile sitzen bleiben, meine Pfeife rauchen und den Frieden und die Stille der Nacht genießen."

„Also gut", murmelte Sam widerstrebend und öffnete die große, runde, grüne Tür. „Gut' Nacht, Herr Frodo."

„Gute Nacht, Sam."

Endlich schloss sich die Tür und Frodo stieß einen erleichterten Seufzer aus. Er wusste, dass er Sam nicht mehr viel länger zum Narren hätte halten können. Was als dumpfer, pochender Schmerz in seinem Nacken einige Stunden zuvor im Grünen Drachen begonnen hatte, war schon länger zu einer stechenden Pein herangewachsen. Die Intensität des Schmerzes machte ihm das Atmen schwer und Frodo verstaute seinen Pfeifenkrautbeutel in der Tasche seines Rockes. Er lehnte sich nach vorne und stützte sich mit den Ellbogen auf seine Knie in der Hoffnung, dass er so ein wenig bequemer haben würde. Ihm war schwindlig und übel und er war sich sicher, dass dies nicht die Nachwirkungen des guten Bieres im Grünen Drachen waren.

Es geschah wieder und er wusste es.

Und hätte Sam begriffen, welcher Tag war, so hätte er auch er es gewusst.

„Du kannst mich nicht immer retten", flüsterte Frodo den letzen Überbleibseln von Sams Gegenwart zu und schloss die Augen. „Nicht, wenn es keinen Weg gibt, mich zu retten." Er sollte sich besser aufraffen nach drinnen und in sein eigenes kleines Zimmer zu gehen. Sam und Rosie hatten Beutelsends größtes Schlafzimmer für sich, obwohl sie lange gezögert hatten, Frodos großzügiges Angebot anzunehmen.

An dem Tag, als sie Frodo erzählten hatten, dass sich Nachwuchs bei ihnen ankündigte, hatte der Besitzer von Beutelsend still und heimlich seinen Sachen gepackt und war in das kleine Zimmer gezogen, in dem er die Jahre seiner Jugend verbracht hatte. Danach hatte er die alte Wiege der Beutlins aus einer der Abstellkammern herausgeholt. Sowohl Bilbo als auch er selbst waren als Säuglinge von ihren jeweiligen Eltern in ihr in den Schlaf gesungen worden.

Der Anblick der Wiege hatte Frodo traurig gemacht, selbst im Angesicht des wachsenden Nebels schmerzhafter Erinnerungen. Vor noch nicht allzu langer Zeit hatte er davon geträumt, selbst einmal sein eigenes Kind in den Schlaf zu singen; hatte von einer eigenen Familie gewagt zu träumen.

„Es sollte nicht so sein." Wollte er sich mit diesen Worten selbst Trost zusprechen, klangen sie hohl und leer sogar in seinen eigenen Ohren. Doch der Traum war gestorben. Lieben und geliebt zu werden gehörte den Erinnerungen an und wo die Fähigkeit beides zu tun einst gelebt hatte, war nun nur mehr eine große, schwarze Finsternis in seinem Herzen.

Ein unterdrücktes Ächzen klang durch die Stille der Nacht, als Frodo sich von der Bank erhob. Ihm war kalt und es fiel ihm schwer sich auf den Beinen zu halten, als er zu seinem kleinen Zimmer im hinteren Teil von Beutelsend ging. So leise wie nur Hobbits es vermögen, schlich er sich durch die langen Flure seines Heims. In der Hoffnung Sam und Rosie nicht zu wecken, schloss er die Tür langsam von innen. Das quietschende Geräusch, das die Tür von sich gab, wenn man sie zu rasch schloss, war im ganzen Smial zu hören und würde Rosie sicherlich wecken. Sie hatten einen sehr leichten Schlaf und öfters als es Frodo lieb sein konnte, sorgte sie sich ebenso sehr um ihn wie ihr Ehemann.

Für eine Weile blieb Frodo still an die geschlossene Tür gelehnt stehen und horchte mit seinem Ohr an das warme Holz gepresst, ob ihm Flur irgendetwas zu hören war. Als alles ruhig blieb, seufzte er erleichtert auf. Mit Schritten, die ihm so schwer waren wie sein Herz, ging er langsam zu seinem Bett. Silbernes Mondlicht, das durch das halb geöffnete Fenster drang, war die einzige Lichtquelle im Raum und wies ihm den Weg. Schließlich sank er schwer auf seine Matratze. Von seinem Nacken ausgehend strahlte der Schmerz nun bis in seinen Kopf aus und hielt seine Schultern mit eisernen Klauen. Von einem Moment zum nächsten fiel ihm alle Bewegung immer schwerer. Panik ergriff sein Herz, als der Schmerz schließlich seinen ganzen Körper flutete wie ihr Gift es getan hatte an jenem Tag zwei Jahre zuvor.

Ohne Warnung fiel er zurück auf sein Bett, nicht länger dazu in der Lage sich zu bewegen oder seinen Schmerz hinauszuschreien. Die Wände um ihn herum hatten begonnen sich zu drehen und schon bald wandelte sich das samtene Braun der hölzernen Wände in grauen, kalten Stein. Unfähig die Augen zu schließen musste er mi a nsehen, wie sich die Schatten an der Wand langsam in acht lange Beine verwandelten und die frische Nachtluft den Gestank ihres fauligen Atems annahm.

Der dreizehnte Tag im März würde bald heran brechen und mit der Sonne würden alte Ängste und Schrecken zu neuem Leben erwachen, um den einen zu quälen, der sie alle vor der Dunkelheit gerettet hatte.


Fortsetzung folgt...


Anm. d. A.: Es geschieht selten, aber manchmal möchte ich sehen, wie eine von mir ursprünglich auf englisch verfasste Geschichte im Deutschen 'funktioniert'. Da ich "Herr der Ringe" nur ein einziges Mal auf deutsch gelesen habe und dies auch schon einige Jahre zurückliegt, kann es sein, dass einige Eigennamen nicht denen in der deutschen Übersetzung entsprechen. (Ehrlich gesagt finde ich es generell nicht gut, wenn Eigennamen in welchem Buch auch immer übersetzt werden, aber das ist ein anderes Thema.)

Cirith Ungol aus Frods Perspektive gesehen ist im Buch eher dürftig beschrieben und mich beschäftigt seit Jahren die Frage, wie es Frodo dort wohl wirklich ergangen ist. Ich möchte damit nicht sagen, dass der Inhalt dieser Geschichte in irgendeiner Weise dem entspricht, was Tolkien im Sinn hatte, aber nie niedergeschrieben bzw. veröffentlicht hat.

Mir ist es außerdem ein Anliegen (und das mag sich jetzt reichlich dämlich anhören) Frodo ein wenig zu rehabilitieren. Leider fällt mir in Gesprächen mit anderen, die "Herr der Ringe" zu schätzen wissen, doch häufig auf, dass er zu einem der mißverstandensten Charaktere zählt. Oft wird er als Feigling beschimpft und wie man zu diesem Schluss kommen kann, ist mir persönlich ein Rätsel. Sein Mut spiegelt sich nicht im Stahl des Schwertes wieder oder in der tödlichen Geschwindigkeit eines Pfeils. Er ist willentlich und mit offenen Augen in den Schlund der Hölle gegangen und trug dabei des Teufels Seele um den Hals wohlwissend, dass es ihn mit aller Wahrscheinlichkeit das Leben kosten würde. Oft wird ihm angelastet, dass er den Ring am Ende für sich beansprucht hat, doch wird dabei übersehen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit selbst für die Tapfersten und Weisesten war den Ring willentlich zu zerstören. Dass Frodo so weit gekommen ist, dass er überhaupt die Sammath Naur betreten hat, grenzt schier an ein Wunder.