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Ich wache davon auf, dass etwas fehlt.
Suchend blicke ich mich in dem kleinen Zimmer um, in dem ich schlafe. Eigentlich ist alles wie immer – die ersten Sonnenstrahlen fallen durch das quadratische Fenster im schrägen Dach, die Kommode neben mir beherbergt eine Kanne Wasser und ein Glas, der grob gezimmerte Schreibtisch liegt voller Schulsachen, die Betten meiner zwei Brüder sind bereits leer. Bestimmt arbeiten sie schon unten in der Backstube.
Bei dieser Erkenntnis durchfährt mich ein Schreck. Will ich nicht von meiner Mutter verhauen werden, weil ich faulenze, anstatt beim Teigkneten mitzuhelfen, dann muss ich mich jetzt beeilen. Warum haben mich die beiden nicht aufgeweckt? Meine Brüder verwünschend, springe ich aus dem Bett und streife mir hastig Kleider über, die ich wahllos und ohne hinzusehen aus dem alten Schrank aus dunkler Eiche zerre. Ich bin schon halb angezogen, da fällt mir auf, was noch fehlt: Der Geruch von frisch gebackenem Brot liegt nur ganz dezent in der Luft, nicht so stark wie sonst.
Natürlich, es ist der Tag der Ernte. Niemand arbeitet heute, nur mein Vater bäckt immer gegen vier Uhr morgens noch einen Haufen feiner Nussbrote für den Verkauf; gutes, lockeres Brot, das es nur am Erntetag gibt. Die, die es sich leisten können, werden heute Abend mit unserem Brot feiern, dass ihre Kinder wieder ungeschoren davongekommen sind.
Tag der Ernte. Ernüchtert lasse ich langsam das grobe Baumwollhemd sinken, das ich gerade in die Hand genommen und schon fast ganz aufgeknöpft habe, und sehe an mir herunter. Ich trage eine alte, ausgebeulte Leinenhose, die zum Arbeiten in der Bäckerei gerade richtig wäre, kratzige Wollsocken und meine üblichen Lederstiefel, die schon ganz ausgetreten sind. Mutter wird mich mit dem Nudelholz vermöbeln, wenn ich so zur Ernte gehe, schießt es mir durch den Kopf. Langsam entkleide ich mich, räume das Hemd, die Hose, die Strümpfe und die Stiefel sorgfältig wieder auf und wähle meine Garderobe ein zweites Mal, mit mehr Bedacht.
Schließlich entscheide ich mich für die besten Kleider, die ich besitze – viele gute Hemden habe ich nicht mehr, weil ich im letzten Jahr gewachsen bin, und nun trage ich hauptsächlich alte Sachen von meinen älteren Brüdern Romin und Jurto. Aber mein schönstes Hemd aus weichem, reinweißem Leinen passt noch, und zusammen mit einer schlichten Baumwollhose und den Sonntagsstiefeln sehe ich ganz passabel aus, wie ich feststelle. Das dürfte auch meine Mutter zufrieden stellen.
Während ich mein Gesicht wasche und mein Haar flüchtig kämme, bewundere ich mit bitterem Lächeln die Ironie des Ganzen. In ganz Panem machen sich die Leute an diesem Tag schön, nur dass vierundzwanzig von ihnen dann im besten Sonntagsstaat zu den Hungerspielen gesandt werden. Man schickt die Kinder, die Jugendlichen, letzten Endes die Marionetten des Kapitols, in den sicheren Tod und zieht sie gut an, damit die Kapitolbewohner ihre Freude daran haben. Würde man deren Kinder in die Arena entsenden, sie würden die Hungerspiele sofort abschaffen. Beim bloßen Gedanken an diese Arroganz, diese Überheblichkeit, wird mir fast schlecht.
Warum können wir uns nicht wehren? Warum nur hat das Kapitol solche Macht über uns? Warum sind wir nur Puppen in ihren Spielen? Und, am wichtigsten, können wir das ändern? Diese Fragen toben seit Jahren in meinem Kopf und ich sehne mich danach, sie zu stellen, um endlich Antworten zu erlangen, die das Gefühl der hilflosen Ohnmacht vertreiben.
Natürlich spreche ich sie nicht aus. Die Wände haben in ganz Panem gute Ohren, von daher wäre es purer Leichtsinn oder auch schlicht Lebensmüdigkeit, sich in irgendeiner Form kritisch über das Kapitol zu äußern. Niemand weiß etwas Genaues über die Methoden, mit denen sie ihre Gegner zum Schweigen bringen, aber das macht es nur noch schlimmer. Wo die Fakten aufhören, fängt die Fantasie an und ich vermute, dass das Kapitol genau das erreichen will.
Ich mustere mich noch einmal kurz in der dunkel hinterlegten Glasscheibe, die uns als Spiegel dient, seit der alte vor acht Jahren kaputtgegangen ist. Um ihn zu ersetzen, fehlt sogar uns als relativ wohlhabender Familie das Geld. Luxusware, wie etwa ein Spiegel, ist sehr teuer. Als besonders hübsch habe ich mich nie empfunden, aber auch mir fällt auf, dass meine im Moment leicht zerzausten blonden Haare und blauen Augen gut mit dem weißen Hemd harmonieren. Noch einmal fahre ich mit dem Kamm durch meine kinnlangen Wellen und ziehe einen akkuraten Scheitel, aber trotzdem fallen mir immer noch einige widerspenstige Strähnen in die Stirn. Mutter würde wieder schimpfen, aber egal. Einen Hauch von Rebellion gegen das Marionettendasein, in diesem Fall mit unordentlichen Haaren, werde ich mir wohl erlauben.
Flüchtig streiche ich die raue Wolldecke auf meinem Bett glatt und schüttle das Kissen auf. Dann verlasse ich den Raum und schließe leise die Tür hinter mir.
Am Fuß der Treppe erwartet mich bereits Jurto, mein ältester Bruder, mit einem Stück hellen Dinkelbrotes in der Hand. „Na, Peeta, du Schlafmütze, kommst du endlich zum Frühstück? Es ist schon fast acht Uhr."
„Bäcker ist wahrscheinlich doch nicht die ideale Arbeit für dich", zieht mich Romin vom Küchentisch her auf. „Wie hältst du es nur aus, das ganze Jahr so früh aufzustehen, wenn du in Wirklichkeit ein fürchterlicher Morgenmuffel bist?" Er hält ein mit Ziegenkäse bestrichenes Brötchen aus Weißmehl von gestern in der Hand und beißt genießerisch hinein.
Ich pariere die Neckereien meiner Brüder mit einem Lächeln und Schulterzucken und betrete unsere kleine Küche. Auf dem hölzernen Regal liegt, so hoch oben, dass Mutter es nicht sehen kann, ein totes Eichhörnchen. Man kann deutlich erkennen, dass der tödliche Pfeil wie immer direkt durch das Auge getroffen hatte. „War Katniss schon hier?", frage ich, indem ich auf das Tier deute.
„Nein, heute war es Gale. Vater hat ihm ein Nussbrot dafür gegeben", erwidert Romin mit vollem Mund.
Während Romin und Jurto sich darüber auslassen, dass Vater wohl senil oder aber sentimental werde, um ein ganzes Brot gegen ein mickriges Eichhörnchen einzutauschen – normal verlangt er zwei der pelzigen Tierchen dafür – schweifen meine Gedanken ab zu Katniss Everdeen, der Jägerin, die uns Eichhörnchen, Hasen, Rehe bringt. Das Mädchen aus dem Saum, mein Schwarm seit dem ersten Schultag. Im Geiste öffne ich die schönste meiner gedanklichen Schubladen, fast kalligraphisch schön mit Katniss beschriftet, und sofort tritt ein Trugbild heraus, das der echten Katniss in ihrer Schönheit an nichts nachsteht. Seit elf Jahren sehe ich sie jeden Tag in der Schule und habe genug Zeit, mir jedes winzige Detail von ihr einzuprägen, während ich sie heimlich beobachte. Das Trugbild bewegt seinen schlanken, sehnigen und gut trainierten Körper, mit schlichter Hose und Hemd angetan, mit der leisen, gefährlichen Grazie einer Wildkatze durch meinen Kopf, während seine stahlgrauen Augen ruhelos umherflitzen und seine Umgebung in sich aufnehmen. Die langen braunen Haare zurückgebunden, umfasst es mit schlanken Fingern den Griff seiner abgewetzten Stofftasche, huscht geräuschlos über den Schulhof und schlüpft flink durch den Eingang… zurück in die Schublade. Ich verschließe die Erinnerung gut, sie ist erst von gestern, und hänge ihrem Bild noch eine Weile nach. Sie war ja schon hübsch, als sie in ihrem roten Karokleid mit zwei Zöpfen den ersten Schultag erlebte, aber nun ist sie ein wirklich attraktives Mädchen. Eifersucht beschleicht mich, als ich an all ihre Verehrer denken muss, die viel mehr an der Zahl sind, als sie wahrscheinlich weiß. Lori, Mureka, Falmin. Lowan, Kalo, Sardeas, Jocinto. Und so weiter.
„… findest du nicht auch, Peeta?" Jurtos Frage reißt mich abrupt aus meinen schwärmerischen Träumereien. „Äh… was?", stottere ich verwirrt.
„Du bist ja wirklich müde, du schläfst schon mit offenen Augen", lästert Romin vom Tisch aus.
„Ich habe nur gerade nachgedacht", verteidige ich mich und fühle mich ertappt wie früher, wenn ich verbotenerweise von den frisch gebackenen Keksen genascht hatte und Mutter das Zimmer betrat.
„Ja, ja", nickt Jurto mit von Sarkasmus triefender Stimme, geht aber Gott sei Dank nicht weiter auf das Thema ein. „Eigentlich wollte ich nur wissen, ob du nicht auch der Meinung bist, dass es am Erntetag egal ist, ob man im Saum oder in der Stadt wohnt. Bei der Ernte sind alle gleich."
„Ja, das ist wohl wahr. Alle rücken ein wenig zusammen und beten für den Anderen", sinniere ich und denke an Katniss. Hoffentlich wird sie nicht gezogen, ihr Name muss doch schon ungefähr zwanzig Mal dabei sein.
„Nun werdet nicht gleich philosophisch, nur weil Ernte ist", neckt uns Romin gutmütig, während ich mich an den Tisch setze, und Jurto antwortet weise: „Philosophie gedeiht in der Tragödie."
Ich sage wieder gar nichts mehr, weil ich bereits in ein Roggenbrot mit einem Streifen Dörrfleisch darauf gebissen habe und den kräftigen, würzigen Geschmack in meinem Mund genieße.
„Wie spät ist es eigentlich? Wie lang noch bis zu eurem Untergang?", will Jurto wissen. Romin sieht auf die Uhr. „Halb neun. Ja, freu dich ruhig, dass du endlich zu alt dafür bist", grummelt er. „Tu ich auch", grinst Jurto. „Du darfst es nächstes Jahr auch. Peeta muss halt noch warten."
Da alle zwischen zwölf und achtzehn Jahren in den Lostopf wanderten, war Jurto, der im Januar neunzehn geworden war, diesmal nicht mehr dabei. Romin hatte erst vor einer Woche seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert, er würde nächstes Jahr, pünktlich vor der Ernte, ebenfalls neunzehn werden. Nur ich mit meinen sechzehn Jahren würde noch länger von der Ernte betroffen sein, nämlich dieses, nächstes und übernächstes Jahr.
Mehr Chancen als wir, gezogen zu werden, hatten allerdings die Kinder und Jugendlichen aus dem Saum – die Armen haben sehr oft Pech, da das Erntesystem nicht gerecht ist. Sobald man zwölf ist, wird der eigene Name einmal in die Loskugel geworfen, wenn man dreizehn ist, zweimal, und so weiter, bis man mit achtzehn siebenmal vertreten ist, wie mein Bruder Romin. Das gilt für jeden einzelnen in ganz Panem.
Man kann seinen Namen allerdings auch öfter hinzufügen, im Tausch gegen Tesserasteine. Das ist gleichbedeutend mit einer mickrigen Jahresration Öl und Getreide für eine Person. Und für viele arme Familien sind diese Steine der einzige Weg, zu überleben. Wenn die ältesten Kinder dieser oft vielköpfigen Familien ihre Angehörigen voll versorgen müssen und weil die Einträge angehäuft werden, ist ihr Name, wenn sie achtzehn sind, oft dreißig, vierzig oder fünfzig Mal dabei. Dabei steigt natürlich auch das Risiko, für die Hungerspiele gezogen zu werden.
Hinter mir höre ich eine Tür klappern und achtlose, gehetzte Schritte erklingen. Mutter muss aufgestanden sein. Ich schlucke hastig meinen Bissen Brot hinunter und bemerke in Romins Richtung: „Wer ist hier der Langschläfer, der nie und nimmer Bäcker werden kann? Ich oder vielleicht doch Mutter?"
„Was redet ihr denn wieder für einen Blödsinn? Benehmt euch oder ich hole das Nudelholz", keift Mutter. Synchron mit meinen Brüdern verdrehe ich die Augen und im Chor sagen wir folgsam: „Entschuldigung, Mutter, und guten Morgen." Dass sie am frühen Morgen schon so schlecht gelaunt ist, sind wir gewohnt, man sollte es eben nicht überreizen.
Mit säuerlicher Miene setzt sie sich an ihren Platz, greift nach einer goldbraunen Vollkornsemmel und schneidet sie penibel in der Mitte durch. „Wenigstens seid ihr ordentlich angezogen", kommentiert sie unser Äußeres, während sie beide Semmelhälften akribisch mit billiger Margarine bestreicht und exakt drei Scheiben Schinken auf jedem Stück drapiert. Ja, das ist Mutter, korrekt bis ins letzte Detail, was oft ins Nörglerische ausarten kann, und dabei sehr streng. Wahrscheinlich ist sie deswegen so eine gute Bäckerin, obwohl sie in unsere Bäckerfamilie nur eingeheiratet hat – sie bereitet alle Rezepte auf das Gramm genau so zu, wie es in der Anleitung steht. Leider wird alles, das nicht ihren Erwartungen entspricht, gerne mit einem Anfall von Jähzorn bedacht.
Was sie wohl zu meiner heimlichen Liebe sagen würde? Nichts Gutes, soviel steht fest. Ein Mädchen aus dem Saum, dem Bergarbeiterviertel, dem Stadtteil, in dem die Armen leben, ist in ihren Augen ein würdeloses Nichts, das mich nicht verdient hat. Leise seufzend, widme ich mich wieder meinem Brötchen.
„Was ist los, Peeta?"
„Ach, nichts."
Im Erdgeschoss bimmelt die Glocke der Bäckerei hell und fröhlich. Kauend verfolgen wir, wie Vater unseren Bürgermeister begrüßt und ihm eines von den teuren Broten verkauft. Dafür muss er nicht viele Worte machen; Vater ist ein schweigsamer Mensch, der auch mit wenigen Sätzen viel erreichen kann. Am Schluss wünschen die beiden sich gegenseitig viel Glück bei der Ernte.
„Nachher geht ihr runter und helft im Laden mit", befiehlt Mutter.
„Ist gut", sagt Jurto diplomatisch, als Romin schon empört den Mund zum Widerspruch öffnet. Normalerweise müssen wir am Tag der Ernte nicht arbeiten, bis jetzt hat Vater am ersten Juli jedes Jahres immer allein den Bäckerladen betrieben, daher kann ich Romins Widerstandsgeist gut verstehen. Dennoch ist Mutter kein Mensch, dem man gut widersprechen kann.
„Aber", wage ich dennoch einen leisen Einwurf, „wir haben doch schon unsere beste Kleidung an. Das wird alles wieder dreckig."
„Dann zieht euch Schürzen an und bürstet eure Hemden und Hosen nachher schnell ab", antwortet Mutter unnachgiebig.
Achselzuckend schiebe ich mir das letzte Stück Brötchen in den Mund und gehe zum Waschbecken, um meinen Teller abzuspülen. „Wer ist hier morgenmuffelig? Die Langsamen seid eindeutig ihr", ziehe ich grinsend meine Brüder auf, die immer noch mit vollen Backen am Tisch sitzen.
Als auch Romin und Jurto ihre Teller gesäubert haben, gehen wir zu dritt die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Gerade, als wir die Backstube betreten, kommt auch Vater aus dem Verkaufsraum. „Ah, schön, ihr helft mir."
„Ja, Mutter hat gesagt, wir sollen kommen."
„Gut. Jurto, du fegst den Boden und putzt den Verkaufsraum. Romin, du gehst hinter die Theke. Und Peeta, du kannst die neue Lieferung Mehl in den Vorratsraum bringen."
„Da wird meine Kleidung aber schmutzig, und eine Schürze hilft nichts", beschwere ich mich. „Ich hab doch mein gutes Hemd schon an."
„Dann trage ich das Mehl nach drinnen und du räumst die Backstube auf", sagt Vater. Niemand hat etwas einzuwenden und wir binden uns Schürzen um.
Der Vormittag erscheint lang und eintönig, angefüllt mit heftigen Niesanfällen vom wild herumfliegenden Mehl, das sich einfach nicht aufwischen lassen will. Aber trotzdem blinken und blitzen die langen, hölzernen Arbeitstische in der Backstube, als ich fertig bin, wie frisch geölt – wenn ich will, kann ich sehr hartnäckig sein.
Verbissen reibe ich mit einem feuchten Tuch über die Ritzen der Verbindungstür zwischen Backstube und Vorratsraum, in denen immer noch der feine Mehlstaub hängt und mich, so kommt es mir vor, höhnisch auslacht, weil ich ihn nicht erreiche, als Mutter uns zum Essen ruft. Mit einem erleichterten Seufzen werfe ich den Lappen achtlos in die Spüle, ziehe mir die Schürze über den Kopf, hänge sie an ihren Haken und laufe die Treppe hinauf. Vater schließt die Ladentür sorgfältig mit einem kleinen goldschimmernden Schlüssel ab. Für heute war das die letzte Arbeit, die zu erledigen ist.
Das Essen ist großartig, wie immer. Aus bekannten Gründen – Genauigkeit und Perfektionismus – ist Mutter auch eine hervorragende Köchin, und am Tag der Ernte gibt es jedes Jahr etwas Besonderes zu essen, das wir uns sonst nie leisten. Diesmal ist es ein Eintopf mit zarten Stückchen Wildente und einer kleingeschnittenen, sehr saftigen Orange. Dazu essen wir nicht wie üblich Brot, sondern Reis.
An sonstigen Tagen gemessen, verläuft das Mittagsmahl ungewöhnlich ruhig, nicht einmal Romin kommt eine Bemerkung über die Lippen. Nach ein paar Minuten bricht Mutter mit der Bemerkung, wir sollten unsere Hemden noch einmal gründlich abbürsten, das Schweigen. So sehr ich mich auch über den Inhalt des Satzes ärgere (wer hat denn gesagt, wir müssten heute in der Bäckerei arbeiten?), so bin ich auch dankbar, dass endlich jemand etwas sagt. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und die Stille wurde langsam unerträglich. Die Anspannung vor der Ernte ist jedes Jahr präsent, aber mir kommt es vor, als wäre sie dieses Mal schlimmer. Etwa ein böses Omen?
Ich schiebe den Gedanken so weit von mir, wie ich kann, und kratze die Essensreste von meinem Teller. Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl in meiner Magengrube zurück, wie ein lästiges Insekt, das ich nicht abschütteln kann.
Nachdem ich mein Geschirr gespült habe, verschwinde ich die Treppe nach oben in das Zimmer von mir und meinen Brüdern und finde die Kleiderbürste unter einem Stapel Hosen versteckt. Ich habe kaum Zeit, den Mehlstaub von meinem Hemd zu entfernen, da kommt schon Romin hereingepoltert und verlangt nach dem Hilfsmittel. „Ernsthaft, was denkt sich Mutter dabei? Erst schickt sie uns zum Arbeiten und dann schimpft sie uns, weil wir dreckig sind", schimpft er halblaut und zieht die Bürste so unwirsch über sein Hemd, dass ich schon halb befürchte, es könnte reißen. Hinter ihm betritt Jurto das Zimmer. „Mutter ist auch nervös wegen der Ernte, bei ihr drückt sich das eben so aus, dass sie noch gereizter ist als sonst", konstatiert er ruhig.
„Ja, aber nicht alle ticken so aus", motzt Romin. „Was mache denn ich, zum Beispiel?"
„Deine Witze sind noch schlechter als sonst", kommentiere ich, bevor Jurto etwas erwidern kann. Dieser stockt mit halb geöffnetem Mund, dann lacht er leise. „Das wollte ich auch gerade sagen, halt ein bisschen netter formuliert."
Wir prusten los und auch Romin stimmt nach kurzem Zögern ein. „Das hab ich wahrscheinlich verdient", japst er, als er wieder zu Atem kommt. „Wer billig austeilt, muss auch billig einstecken können."
„So eine weise Erkenntnis aus deinem Mund! Die Ernte regt wohl dein Hirn an", bemerkt Jurto trocken. Ich grinse in mich hinein, das Lächeln wird mir jedoch abrupt aus dem Gesicht gewischt, als ich auf die Uhr sehe. „Beeilt euch, es ist schon halb zwei."
„Was, wirklich?", fragt Romin erschrocken und zieht die Bürste nicht mehr so fest, dafür aber doppelt so schnell über seine Ärmel, während Jurto sich den Staub aus der Hose klopft und ich ein letztes Mal meine Haare kämme, abgesehen von den Strähnen, die mir in die Stirn fallen. Eigentlich wären alte, abgewetzte Klamotten passender gewesen, um die Rebellion gegen das Kapitol deutlicher zum Ausdruck zu bringen, als ein paar Stirnfransen, aber die Kleidung könnte ich nicht so gut vor meiner Mutter verbergen.
Jurto nimmt die Bürste aus Romins Hand und hat gerade noch Zeit, den gröbsten Dreck von seinem Oberteil zu entfernen, da ruft Mutter von unten: „Kommt ihr dann? Wir werden noch zu spät kommen und das haben sie gar nicht gern!" Sie, das sind die Friedenswächter aus dem Kapitol, die aufpassen, dass in den einzelnen Distrikten alles mit rechter Ordnung zugeht. Normalerweise sind sie ganz umgänglich, aber am Tag der Ernte sind sie wachsam wie Schießhunde. Schließlich muss, wenn die Ernte um zwei Uhr beginnt, jeder Bürger aus Distrikt 12 anwesend sein, der nicht gerade todkrank oder anderweitig ernsthaft verhindert ist, und das wird streng kontrolliert und bestraft.
Draußen ist es warm und sonnig. Der Tag könnte wunderschön sein, wäre da nicht die Kleinigkeit der Ernte. Zusammen mit meiner Familie reihe ich mich in den langen Zug der Menschen ein, die bereits auf dem Weg zum großen Platz sind, der ohne die Ernte genauso schön ist wie dieser Tag. Er ist hell, an einem Ende steht das Gerichtsgebäude aus weißem Marmor und bunte Fahnen wehen in dem von Läden gesäumten Rund. Doch mit den Kamerateams auf den Dächern und der provisorischen Bühne vor dem Gerichtshaus verströmt das gesamte Areal eine unangenehme Atmosphäre der Überwachung, und durch die abgetrennten Bereiche, in die sich alle möglichen Betroffenen nach Alter sortiert begeben müssen, entsteht fast der Eindruck eines Gefängnisses.
Während Jurto und meine Eltern sich auf den Weg zu den Zuschauerbereichen machen, lassen Romin und ich uns registrieren und werden in unsere mit Seilen begrenzten Abteilungen gescheucht. Wir haben gerade noch Zeit, uns Glück zu wünschen, dann verlieren wir uns aus dem Blick. Suchend sehe ich mich nach meinen Eltern um und finde sie nach einer Weile am rechten Rand des Platzes, direkt vor dem Stoffgeschäft. Jurtos Faust ist mit gedrücktem Daumen in meine Richtung gehoben, indem er mir aufmunternd zugrinst. Ich kann nur gezwungen zurücklächeln.
Pünktlich um zwei, mit dem Schlag der Stadtuhr, beginnt die Show. Bürgermeister Undersee erhebt sich von seinem Stuhl, der von zwei weiteren Stühlen flankiert ist – einer besetzt von unserer Betreuerin Effie Trinket, einer leer – und betritt das erhöhte Podest auf dem Podium. Dort fängt er an, den langen Hochverratsvertrag vorzulesen, wie das Kapitol es verlangt. Wie jedes Jahr erzählt er von Naturkatastrophen, Kriegen, der Entstehung von Panem, den Dunklen Tagen und der Strafe dafür – den Hungerspielen.
Bei den Regeln höre ich nur mit halbem Ohr zu, da es keine nennenswerten Regeln gibt. Ein Junge und ein Mädchen aus jedem Distrikt – die Tribute – werden zusammen in eine große Freiluftarena gesperrt, wo sie sich gegenseitig umbringen müssen, und derjenige, der zuletzt übrig bleibt, hat gewonnen. Eigentlich ist es ja nur ein Weg, mit dem uns das Kapitol erniedrigen und demütigen kann, indem es die Bevölkerung zwingt, ihre eigenen Kinder zu opfern.
Stattdessen sehe ich gedankenverloren auf die zwei riesigen, mit weißen Zetteln gefüllten Glaskugeln, von denen eine die Namen der Jungen und eine die der Mädchen enthält. Wie groß sind wohl meine Chancen, gezogen zu werden? Ich mache mir nicht die Mühe, es nachzurechnen, Mathe war noch nie meine Stärke.
Mittlerweile verliest Mr. Undersee die Liste der Gewinner aus unserem Distrikt. Sie ist nicht lang, genauer gesagt besteht sie aus zwei Personen. Einer hat ziemlich zu Beginn der Hungerspiele gewonnen, vielleicht beim siebten oder achten Mal, und der andere, Haymitch Abernathy, war der Sieger des Jubiläums, bei den 50. Spielen und lebt noch hier. Bei der Nennung seines Namens kommt er plötzlich auf die Bühne gewankt, offensichtlich sternhagelvoll, schreit etwas, das ich nicht verstehen kann, und lässt sich auf den bis dato unbesetzten Stuhl fallen. Wir sind das gewohnt, Haymitch ist jedes Jahr bei der Ernte betrunken, aber eigentlich ist er das immer. Effie Trinket, mit bonbonrosa Haaren und einem Kostüm in der Farbe von Gras, muss, während wir halbherzig Applaus für Haymitch schenken, seine Umarmungsversuche abwehren. Seltsam, die beiden betreuen schon seit Haymitchs Sieg gemeinsam die Tribute von Distrikt 12 und Effie hat sich offenkundig immer noch nicht an seine Alkoholsucht gewöhnt.
Wie zu ihrer Rettung beendet der Bürgermeister in diesem Moment den öden Vortrag und stellt Effie vor, die mit einem Lächeln ihre verschobene rosa Frisur – wahrscheinlich eine Perücke – zurechtzurücken versucht und zu ihm aufs Podest hüpft. „Fröhliche Hungerspiele! Und möge das Glück stets mit euch sein!", zwitschert sie in dem albernen Kapitolakzent, der überall nachgeäfft wird. Hohe Stimmen, komische Vokale, das S wird gezischt, wie es eine Schlange tut, und jeder Satz klingt wie eine Frage. Und so weiter. Kein Wunder, dass dieser Akzent sogar in Distrikt 1 verhöhnt wird, der ansonsten dem Kapitol am nächsten von allen Distrikten steht. Der Akzent ist so falsch wie Effies Gerede, das sich um die Ehre dreht, die es darstelle, Distrikt 12 zu betreuen, obwohl sie in Wahrheit versucht, einen besseren, beliebteren Distrikt zu bekommen. Distrikt 12 ist dreckig, Abschaum, das war schon immer so.
Als sie fertig ist, tänzelt sie begeistert zu der Kugel mit den Mädchennamen und trillert: „Ladies first!" Ich bete, hoffe, flehe, dass es nicht Katniss ist, als Effie einen Zettel herausholt und glattstreicht.
Dann liest sie den Namen vor.
Ihre klare Stimme trägt ihn bis in den hintersten Winkel des Platzes, sie weht ihn hinaus ins Land und in die Kameras und von da aus bis ins Kapitol, und mir wird klar, dass es für Katniss genauso schlimm ist, diesen Namen zu hören, wie wenn es ihr eigener wäre.
Der Name lautet Primrose Everdeen.
