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And once the storm is over, you won´t remember how you made it through, how you managed to survive.
You won´t even be sure, whether the storm is really over.
But one thing is certain.
When you come out of the storm, you won´t be the same person who walked in.
That´s what this storm´s all about.
(Haruki Murakami)
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Halloween rückte näher, und der Herbst hatte mit viel Regen in London Einzug gehalten. Harry und seine Freunde freuten sich schon darauf, endlich wieder mit dem Hogwarts-Express zur Schule zu fahren.
Monica war ziemlich aufgeregt, da sie zwar in Rowan schon Heilkunde unterrichtet hatte, aber Hogwarts trotz allem etwas völlig Neues für sie sein würde. „Na, zumindest kenn ich schon ein paar Kollegen", meinte sie und zwinkerte Snape vergnügt zu. Doch der schien andere Dinge im Kopf zu haben und gab keine Antwort.
Den ganzen Tag über war er schon distanziert und ein wenig abwesend gewesen, und jetzt, während alle anderen sich zum Mittagessen um den großen Küchentisch drängten, stand er etwas abseits in der Nähe des Kamins. Sein Blick ging ins Leere, und seine Haltung war angespannt.
„Machen Sie ihm keinen Vorwurf", sagte Harry leise zu der Empathin, „wir haben heut noch einen Ausflug eingeplant, der erstens für uns beide ein bisschen schwierig wird und zweitens gefährlich sein kann. Wenn alles vorbei ist, kann man sich mit ihm bestimmt wieder halbwegs normal unterhalten, und bis dahin…"
„Bis dahin", ergänzte Monica ebenso leise, „lass ich ihn in Ruhe. Kein Problem. Was ist das denn für ein Ausflug? Braucht ihr Unterstützung?"
Harry winkte ab. „Nein, es sind schon genug Leute dabei. Aber danke fürs Angebot, Monica… äääh, Professor Lupin." Er blickte sie mit einem verlegenen Grinsen an. „Das klingt wirklich total seltsam, im Ernst. Wenn in Hogwarts von Professor Lupin die Rede ist, dann meinen die Leute im Allgemeinen Remus."
Monica nickte nachdenklich. „Ja, das könnte wirklich für eine Menge Verwirrung sorgen. Was hältst du davon, wenn ich für die Schüler einfach Professor Mo bin?"
„Ernsthaft?" Harry lachte auf. „Das klingt ziemlich… äääh, einzigartig. Also, ich persönlich find die Idee echt gut! Ich glaub nur nicht, dass Professor McGonagall allzu begeistert davon sein würde."
Gegen Nachmittag trafen sich in der Eingangshalle diejenigen, die Harry und Snape nach Godric´s Hollow begleiten würden – in den Ort, der sowohl von Muggeln als auch von Zauberern bewohnt wurde. Den Ort, der im ersten Krieg gegen Voldemort ein sogenanntes „sicheres Dorf" gewesen war, verborgen hinter mächtigen Schutzzaubern, um denjenigen eine Zuflucht zu bieten, denen der Krieg alles genommen hatte. Dort hatte die jugendliche Lily Evans in der Obhut von Ordensmitgliedern gelebt, seit ein von Todessern verursachtes U-Bahn-Unglück ihr ihre Eltern geraubt hatte, und dort hatte sie sich auch später niedergelassen, zusammen mit ihrem Mann, James Potter.
Das war der Ort, wo Harrys Eltern gelebt hatten und gestorben waren. Und wo die Mutter von Severus Snape begraben lag. Und es war auch der Ort, an dem Voldemort zum ersten Mal von Harry Potter besiegt worden war.
Sie hatten nach der Schlacht in Hogwarts genau gewusst, dass mit dem Tod des mächtigsten Schwarzmagiers aller Zeiten nicht alles einfach so vorbei sein würde. Mehr als genug Todesser waren noch auf freiem Fuß, und nur um Haaresbreite und mit einer gehörigen Portion Glück hatte Snape es geschafft, aus einem Hinterhalt seiner ehemaligen Kameraden zu entkommen. Jetzt wollten McGonagall und der Phönixorden den Spieß umdrehen. Sie hofften, ein paar der noch flüchtigen Todesser in die Finger zu bekommen, wenn sich Harry und Snape als Lockvögel in Godric´s Hollow blicken ließen.
Heute.
An Halloween.
Am Todestag von James und Lily Potter.
An sich ein logischer Termin und die beste Chance, um Lucius Malfoy festzusetzen, der der Gerüchteküche zufolge die versprengten Reste der Todesser um sich scharte. Allerdings stimmte Harry in diesem Fall mit Snape überein, dass Malfoy nicht dumm war. Er würde die Falle riechen, sie glich derjenigen viel zu sehr, in die er Snape gelockt hatte. Und trotz allem: sie mussten es einfach versuchen.
Bill Weasley übernahm die Leitung des kleinen Teams, das aus Ron, Hermine, Fleur, Hestia Jones und Molly Weasley bestand. „Denkt dran", schärfte Arthur Weasley ihnen zum wohl hundertsten Mal ein, „lasst euch nicht sehen. Ihr greift nur ein, falls irgendwer die zwei behelligen sollte. Ansonsten bleibt ihr in Deckung. Verstanden?"
„Dad, wir machen das nicht zum ersten Mal", gab Bill ruhig zurück, und Molly warf ihrem Mann einen amüsierten Blick zu, während Harry sich schweigend zu Snape gesellte. Ein kurzer, forschender Blick sagte ihm, dass der schwarzhaarige Mann nicht in Gedanken verloren war. Im Gegenteil: er war hochkonzentriert. Auch wenn er genau wie Harry nicht glaubte, dass Lucius Malfoy und seine Leute heute auf diesem kleinen Friedhof lauern würden, war er doch vorbereitet auf die Möglichkeit.
Slytherin, dachte Harry leicht amüsiert, er denkt an alle Optionen. Ich dagegen…
Harry war ein Gryffindor aus dem Bilderbuch, das war ihm schmerzhaft bewusst. Er glaubte nicht an einen Hinterhalt und hatte sich deswegen auch überhaupt keine Gedanken mehr gemacht. Sträflicher Leichtsinn. Man musste immer mit allem rechnen. Beschämt sah er noch einmal zu Snape auf und versuchte sich ebenfalls für alles zu wappnen, was sie dort erwarten könnte.
Kurz darauf tauchte auf einem Feldweg in der Nähe des kleinen Ortes Godric´s Hollow eine kleine Gruppe von Menschen so urplötzlich aus dem Nichts auf, dass ein paar Feldhasen erschrocken und Haken schlagend über die Stoppeln eines abgeernteten Getreideackers davonstoben.
Die Leute sahen ganz normal aus. Sie trugen Jeans, Pullover, Windjacken und Wanderschuhe und hätten sicher keinen Verdacht erregt, wenn jemand ihnen zufällig begegnete. Hätte dieser Jemand allerdings ebenso zufällig gesehen, dass zwei weitere Personen in schwarzer Kleidung sich dicht aneinander drängten und von einer Sekunde auf die andere nicht mehr zu sehen waren – dann hätte sich derjenige sicherlich gewundert.
Harry und Snape waren, wie vorher abgesprochen, gemeinsam unter dem Tarnumhang von Harrys Vater verschwunden und gingen – eng aneinandergepresst und ziemlich geduckt, da der Umhang sich vor allem für den hochgewachsenen Snape als viel zu kurz erwies – den anderen voran Richtung Dorf. Der Rest folgte ihnen munter schwatzend, eine Gruppe scheinbar harmloser Wanderer, die im Ort Rast machen wollten.
Da es ein wenig nieselte, begegneten sie nur wenigen Menschen in der kleinen Ortschaft. Die Leute schienen die Gemütlichkeit ihrer behaglich geheizten Wohnzimmer dem Herbstwetter draußen vorzuziehen. Nur auf dem Friedhof waren vereinzelt ältere Frauen damit beschäftigt, die Gräber ihrer Angehörigen für Allerheiligen zu schmücken.
Die Wanderer verschwanden unauffällig und von niemandem bemerkt in der Deckung von Gebüschen und Mauern, und es verging einige Zeit, während der rein gar nichts passierte. Die Frauen brachten ihre Arbeit zu Ende und verließen nach und nach den kleinen alten Friedhof.
Zehn Minuten blieb alles ruhig, bis auf ein paar Krähen, die sich lauthals zeternd in den Bäumen über den Grabsteinen niederließen. Doch dann standen plötzlich zwei Menschen auf dem Friedhof, als wären sie soeben aus dem Boden gewachsen: ein sehr junger und ein älterer Mann. Beide hatten sie rabenschwarzes Haar, doch während der Jüngere mit der Brille es kurz geschnitten und ein wenig chaotisch trug, war es bei dem Älteren mehr als schulterlang. Silberne Fäden durchzogen die dunklen Strähnen, was ihn älter aussehen ließ als er vermutlich war.
Sie sahen sich aufmerksam um, dann trennten sie sich. Der Junge ging ein wenig unsicher und suchend in die eine Richtung, während der hochgewachsene Mann sich weitaus zielsicherer in Richtung der nördlichen Friedhofsmauer aufmachte.
Harry fand nach kurzem Suchen das Grab seiner Eltern wieder. Irgend jemand hatte sich erbarmt und die welken Buchenblätter entfernt, die auf den Stein herabgefallen waren. Auch der Kranz aus Christrosen, den Hermine im vorigen Jahr hier heraufbeschworen hatte und der mittlerweile sicher völlig verdorrt gewesen wäre, war verschwunden.
Lange stand Harry vor dem Grab, angespannt und immer darauf gefasst, in der nächsten Sekunde angegriffen zu werden. Doch nichts geschah. Ein wenig unschlüssig blickte er auf.
Die dunkle Gestalt seines Lehrers entdeckte er ein paar Reihen weiter; mit gesenktem Kopf stand der dunkel gekleidete Mann reglos da, als wäre er aus schwarzem Marmor gemeißelt. Die Hände in den Taschen des Umhangs vergraben und mit hängenden Schultern, wirkte er so einsam, als wäre er der einzige Mensch auf der Welt. Langsam ging Harry durch die Reihen der Grabsteine auf ihn zu und blieb wortlos neben ihm stehen.
„Er hat sie umgebracht, wissen Sie", sagte Severus Snape nach ein paar Minuten tonlos, ohne den Blick von dem Grabstein abzuwenden. „Ihr eigener Mann hat sie getötet, als ich gerade fünfzehn war."
Harry, der diesen Teil von Snapes Geschichte bisher nicht gekannt hatte, starrte ihn erschrocken und ungläubig an und fragte dann leise: „Seine eigene Frau? Also, deswegen haben Sie ihn…?"
„Angegriffen? Ja, allerdings." Snape nickte knapp. „Und bevor Sie fragen: nein, es tut mir immer noch kein bisschen leid. Erinnern Sie sich? Ich sagte Ihnen schon, ich bin kein netter Mensch."
„Lebt er noch?" erkundigte sich Harry, ohne weiter darauf einzugehen; zu diesem Thema war seiner Meinung nach bereits alles gesagt. Snapes Antwort bestand aus einem simplen, ziemlich desinteressierten Schulterzucken, und der junge Mann beließ es dabei. Vermutlich hatte der Mann wirklich nie versucht, etwas über seinen Vater herauszufinden. Wäre Harry an seiner Stelle gewesen, hätte er sich zugegebenermaßen genauso verhalten.
Froh darüber, dass er sich den Zauber von Hermine noch hatte zeigen lassen, hob er langsam seinen Zauberstab. Auf der schlichten Steinplatte erschien eine flache runde Steinschale, dicht bepflanzt mit kleinen Hauswurz-Röschen. Einige der fragil wirkenden und dennoch so robusten Pflanzen blühten noch; schlanke Stängel mit sonnengelben sternförmigen Blüten ragten über den grünen Rosetten mit den purpurfarbenen Blattspitzen auf.
„Danke", sagte der Ältere leise. Harry nickte nur. Er ließ seinem Begleiter noch eine Weile Zeit, dann legte er ihm die Hand auf die Schulter und begleitete ihn zum Grab der Potters. Seite an Seite standen die beiden dort, während es kühler wurde und die Sonne sich bereits dem Horizont näherte.
Dieses Mal war es Severus Snape, der den Zauberstab hob. Aus der Erde seitlich des Grabes spross im Eiltempo ein kleiner Rosenstrauch empor und neigte sich zum Grabstein, als wolle er diesen umarmen. Der Strauch bildete Triebe, grüne Blätter und Knospen, und einige der Knospen öffneten sich zu scharlachroten Blüten mit zarten goldfarbenen Adern. „Die Farben des Phönix", flüsterte Harry andächtig.
Schweigend blieben sie dort stehen, beide tief in Gedanken versunken, und die Oktobersonne versank nun endgültig. Es wurde dunkel und kalt, und Harry fröstelte trotz des dick gefütterten Umhangs. „Da kommt keiner, um uns umzubringen", stellte er schließlich an Snape gewandt fest. „Hätte mich auch ehrlich gesagt gewundert. Das war viel zu offensichtlich, oder?"
Der schlanke, hochgewachsene Mann nickte und gab seufzend zurück: „Ja, leider. Ich hätte es sehr begrüßt, ein paar meiner alten Freunde wiederzutreffen. Gerade hier und heute…"
Harry wusste genau, was er meinte. Er selber hätte auch gern die Chance gehabt, sich wenigstens ein bisschen für all das zu rächen, was diese Leute ihm angetan hatten – ihm, seiner Familie und den Menschen, die er zu seinen Freunden zählte. Genauso erging es sicherlich dem Mann an seiner Seite, der bereits in sehr jungen Jahren bewiesen hatte, dass er zu grausamer Rache durchaus fähig war.
Harry gefiel diese Vorstellung ganz und gar nicht. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er sich eingestehen, dass er an Snapes Stelle vielleicht genauso unbarmherzig gegen den Mörder seiner Mutter vorgegangen wäre. Wie er bereits zu ihm gesagt hatte: jeder hatte eine dunkle Seite. Und Harry war sich nicht sicher, ob er – wäre er wie Severus Snape aufgewachsen – sich nicht ebenfalls auf die Seite Voldemorts hätte ziehen lassen.
Die Gruppe des Phönixordens brach den Einsatz ab. Im Schutz der Dunkelheit disapparierten sie und tauchten auf der Grünfläche am Grimmauldplatz unvermittelt wieder auf.
Während die anderen rasch dem schützenden Hauptquartier zustrebten, hielt Snape Harry zurück. „Hören Sie, Potter, ich…"
Er schien nach den passenden Worten zu suchen. „Danke, dass Sie mich begleitet haben", meinte er schließlich ein wenig befangen, doch Harry winkte ab. „Schon in Ordnung, Sir, dieser Tag hat für uns beide die gleiche Bedeutung. Ich persönlich fänd´s gut, wenn wir das im nächsten Jahr wiederholen könnten. Vielleicht klappt´s ja dann auch mit dem Überfall."
