Der Prozess
Inhalt: Erik wurde verhaftet und wird nun vor Gericht gestellt. Basiert hauptsächlich auf Leroux und ein bisschen Kay.
Dunkelheit. Es war immer dunkel und kalt. Nicht, dass er es nicht gewöhnt war. Aber es war so langweilig – es gab praktisch nichts, was er tun könnte. Keine Musik, keine Bücher, nicht einmal ein Stückchen Papier und ein Bleistift. Erik hatte längst sämtliche Steine an der Wand abgezählt, die Quadratmeter des Raumes sowie den Rauminhalt berechnet und nun war ihm wieder langweilig. Zuerst hatte er sich gefreut, dass er in einer Zelle weitab von allen anderen Gefangenen untergebracht worden war, so war er nicht ihrem Spott ausgesetzt, aber jetzt hatte er nur ein paar Fliegen als Gesellschaft und das war nun wirklich langweilig.
Er hatte sich widerstandslos festnehmen lassen, als irgendjemand – er wusste nicht einmal, wer es gewesen war – ihn erkannt hatte. Was genau war eigentlich geschehen? Das Letzte, woran er sich erinnern konnte war, dass er Christine freigelassen hatte. Danach hatte er versucht, sich umzubringen, aber im letzten Moment den Mut verloren. Dann hatte er sich betrunken und war irgendwo auf den Straßen von Paris aufgewacht. Wie er dort hingekommen war, war ihm selbst ein Rätsel. Als er in die Oper zurückkehren wollte, war helllichter Tag und er hatte keine Maske – jemand hatte „das Phantom der Oper!" gebrüllt und dann hatten ihn Leute gepackt und festgehalten. Erik hatte sich nicht gewehrt. Sollten sie ihn doch umbringen – ob er nun so oder so umkam, war ihm in dem Moment gleichgültig. Aber der Mob hatte ihn nicht zerrissen, stattdessen hatten ihn Polizisten abgeführt und eingesperrt.
Die Versuche, ihn zu verhören und zu einer Aussage zu bewegen, hatten sie aufgegeben – er sagte nichts, nicht einmal seinen Namen. Es war doch sowieso alles egal, er würde sowieso zum Tode verurteilt werden. Aber warum dauerte das so lange?
Plötzlich hörte er das Quitschen der Tür, dann Stimmen. Die Stimmen der Wachen. Erik grinste, als er daran dachte, wie er den Wachen beigebracht hatte, ihm nicht zu nahe zu kommen. Auch wenn er waffenlos war, war er nicht wehrlos.
„Halten Sie sich von den Gitterstäben fern", sagte einer der Wachen, „der Mann ist gefährlich. Geben Sie ihm nichts, keinen Bleistift, keine Glasflasche, kein Papier! Er kann aus praktisch allem Waffen basteln." „Was ist? Haben Sie Angst vor ihm?" fragte eine dunkle, weibliche Stimme. Eine Frau? Was machte eine Frau hier?
Kurz darauf trat eine Frau vor die Gitterstäbe, sodass Erik sie sehen konnte. Aufmerksam musterte er sie. Sie war weder alt noch jung, nicht besonders hübsch, aber ihr Körper war straff und muskulös. Sie trug ein schwarzes Kleid und einen schwarzen Hut. In einer Hand hielt sie einen großen Lederkoffer, der schwer aussah, den sie aber mühelos trug.
„Sie sind also das berüchtigte Phantom der Oper", bemerkte die Frau. Erik erwiderte spöttisch: „Angenehm. Und Sie sind…?" Die Frau verneigte sich leicht und sagte: „Mein Name ist Jeanne de la Morté, ich bin hier, um Ihre Verteidigung vor Gericht zu organisieren." „Meine was?"
„Sie haben das Recht auf einen Anwalt. Ich bin der Anwalt."
„Sie? Eine Frau?"
Die Frau reagierte wütend: „Ja, auch Frauen können Anwälte und Ärzte sein. Warum könnt ihr Männer das nie in eure Dickschädel bekommen? Wollen Sie mich als Anwältin oder wollen Sie hier verrotten? Einen anderen Anwalt werden sie nicht bekommen, alle anderen haben nämlich abgelehnt, Sie zu verteidigen."
Erik stand auf und trat ganz dicht an das Gitter, damit die Frau ihn sehen konnte. „Wollen Sie mir helfen?" fragte er erstaunt. „Selbstverständlich, dazu bin ich da. Zuerst einmal guten Tag, Monsieur… Wie heißen Sie eigentlich?" Die Frau streckt ihm die Hand durch die Gitterstäbe entgegen. Verwirrt ergriff Erik ihre Hand. Ihr Händedruck war überraschend kräftig.
„Erik. Mein Name ist Erik."
„Erik und wie noch? Sie müssen doch einen Nachnamen haben?"
„Darüber will ich nicht reden, ich will keine Schande über meine Familie bringen."
„Sie werden aber darüber reden müssen, spätestens vor Gericht. Sie wollen doch wieder freikommen, nicht wahr?"
„Sie glauben doch nicht, dass ich freigesprochen werde?"
„Die Chance haben Sie, wenn Sie mit mir zusammenarbeiten. Wenn Sie sich gleich aufgeben wollen, dann sagen Sie es mir bitte jetzt, dann suche ich mir einen anderen aussichtslosen Fall, den ich übernehmen kann."
„Was habe ich schon zu verlieren?" seufzte Erik und zuckte die Achseln. Die Frau war jedenfalls eine bessere Gesellschaft als die Fliegen. „Mein Gesicht… beunruhigt Sie das nicht?" fragte er.
„Natürlich nicht", erwiderte die Frau ruhig, „Beunruhigt es Sie, dass ich eine Frau bin?"
„Eigentlich nicht."
„Na sehen Sie."
Von da an erschien Jeanne täglich im Gefängnis bei Erik um stundenlang den Fall durchzugehen. Sie las ihm die Vernehmungsprotokolle vor, die Zeugenaussagen, die Liste der Beweismittel der Staatsanwaltschaft und machte Notizen.
Schließlich begann sie, eine Verteidigungsstrategie auszuarbeiten. „Das Wichtigste ist, dass Sie möglichst normal wirken", erklärte sie, „also reden Sie nicht von sich in der dritten Person, keine Wutausbrüche, möglichst wenig Weinen. Bleiben Sie ruhig und spielen Sie Ihre Rolle, bitte."
„Ich weiß nicht…" begann Erik, aber die Frau unterbrach ihn: „Sie sind doch ein guter Schauspieler, oder? Setzen Sie Ihre Talente ein. Sehen Sie das Ganze wie einen Auftritt als Magier – Sie müssen das Publikum – also den Richter – überzeugen, dass unsere Version die einzig wahre ist."
„Der einzige gefährliche Zeuge ist Nadir Khan, der ehemalige Polizist. Er scheint sehr viel zu wissen. Glauben Sie, ich kann mit ihm reden?" sagte die Anwältin.
Erik zuckte die Schultern: „Der Daroga war stets Eriks Freund – es könnte sein, dass er einlenkt." „Was habe ich über das Sprechen in der dritten Person gesagt?" tadelte Jeanne.
„Entschuldigung. Ich werde mich bemühen. Darf ich Sie etwas fragen?"
„Selbstverständlich."
„Warum tun Sie das? Warum helfen Sie mir? Sie wissen nicht einmal, ob ich Sie je bezahlen kann."
„Wenn ich für Geld arbeiten würde, wäre ich verhungert – glauben Sie, es gibt Menschen, die weibliche Anwälte akzeptieren? Ich habe praktisch keine Kunden, ich lebe von meinem Mann und dem Familienbesitz."
„Sie sind verheiratet?" fragte Erik und es klang sehr enttäuscht.
„Ja, wieso?"
„Nun ich… vergessen Sie es… ich hatte angenommen, Sie wären Witwe, wegen der schwarzen Kleidung und so…"
„Erik, ich bin beruflich hier. Professionelle Distanz ist angebracht. Natürlich stehe ich auf Ihrer Seite, aber das tue ich nicht aus emotionellen Beweggründen. Sie sind mir nicht unsympathisch, aber Sie sollten nie vergessen, dass ich mich nur beruflich mit Ihnen beschäftige, mein Privatleben geht Sie nichts an."
„Schade", murmelte Erik und sah zu dem kleinen vergitterten Fenster. Er mochte die Frau inzwischen irgendwie. Die resolute Frau ging so völlig natürlich mit ihm um, wie sie es wohl mit jedem anderen Klienten auch tun würde. Das war eine durchaus nicht unangenehme Erfahrung und er hatte gehofft, dass auch in Zukunft irgendein Kontakt möglich wäre.
„Also gut, Erik, wir haben über Ihren Freund gesprochen. Ich werde ihn besuchen und mit ihm reden. Vielleicht lässt er sich ja überreden, seine Aussage ein wenig zu korrigieren."
„Er wird nicht lügen, ehrlicher Narr der er ist."
„Das erwarte ich nicht. Aber Sie als Zauberkünstler wissen doch sicher, dass es zwischen der Wahrheit und jener Wahrheit einen Unterschied gibt."
Fortsetzung folgt... Darf ich trotzdem schon um ein paar Reviews bitten?
