Muggel
Prolog: Akte "13er Juli"
Der Brief kam am 13ten Juli in den Händen eines großen, älteren Mannes mit dem längsten Bart, den Megan jemals gesehen hatte. Er war seltsam, wirklich. Der Nadelstreifenanzug, den er trug, war vermutlich schon altmodisch gewesen, bevor sie geboren wurde, aber er passte gut zu dem Fremden. Auch wenn er genauso wie sein Besitzer sehr alt zu sein schien – der Mann musste mindestens 80 sein! – so war er doch immer noch gut in Schuss. Das konnte sie in den stechenden blauen Augen erkennen, die förmlich in sie hinein sahen. Sie waren wach und aufmerksam, übersahen nicht einmal das kleinste Detail.
Trotz seines eigenartigen Aussehens schien der Mann nichts Böses zu wollen und Megan fühlte sich nicht im Geringsten von ihm bedroht. Sie blinzelte leicht und erwachte aus ihren Gedanken, als er sich vernehmlich räusperte. Schnell entfernte sie die schwere Stahlkette von der Tür und öffnete das Sicherheitsschloss.
„Oh Verzeihung! Warum kommen Sie nicht herein, Mr. –" Sie ließ den Satz fragend ausklingen. Einladend öffnete sie Tür und ließ ihn eintreten, was er mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht auch tat.
„Dumbledore, Albus Dumbledore." Er lächelte sie großväterlich an und zeigte sich dabei nicht im Ansatz berührt von ihrem Starren. Eine ihrer Nachbarn, die typische alte Dame mit zu wenig Hobbies und zu viel Neugierde, stand im Treppenhaus und beobachtete sie mit unverhohlener Skepsis, also schloss Megan schnell die Tür hinter ihnen.
Überall lagen Bücher und lose Blätter herum; das war der Nachteil von einem Apartment, bei dem man von der Flur aus direkt das Wohnzimmer betrat– welches mit seiner Größe und dem bequemen Sofa nun einmal der perfekte Platz zum Lernen war. Und zu allem Überfluss stand auch noch ihr Mittagessen angefangen auf dem Wohnzimmertisch, zusammen mit einer Kaffeetasse und der Fernbedienung. Zum Glück war die Tür zu ihrem Schlafzimmer ausnahmsweise geschlossen. Das lag nämlich genau hinter dem Wohnzimmer und war leider genauso gut einzusehen wie dieses. Bisher hatte sie das nie gestört.
„Entschuldigen Sie bitte das Chaos; ich sitze gerade an einer wichtigen Arbeit für mein Studium. Gehen wir in die Küche, da können wir uns hinsetzen." Sie wusste nicht einmal, was er wollte, aber es kam ihr wie ein Sakrileg vor zu diesem speziellen Mann unhöflich zu sein. Also führte sie ihn in die kleine Küche mit dem winzigen IKEA-Tischchen und den zwei Klappstühlen. Abgesehen davon besaß Megan nur eine einfache Küchenzeile, einen kleinen schmutzig-weißen Kühlschrank und eine Spüle, in der sich die dreckigen Teller nur so stapelten. Sie hatte sich keine besondere Mühe gemacht, die Küche wohnlich zu gestalten.
Der Mann setzte sich an den Tisch, als wäre das hier ein Konferenzraum einer großen Firma und nicht eine unordentliche Küche in einem 2-Zimmer-Apartment in London. Die Ellbogen auf den Tisch und die Fingerspitzen seiner Hände aufeinander gestützt, schaute er sie über die Halbmondgläser seiner Brille intensiv an. Im Hintergrund hörte sie gedämpft die Nachrichten aus dem Fernsehen schallen - ein Feuer, ein tödlicher Raubüberfall und der neuste Skandal über Madonna.
„Sie wollen sicher wissen, wieso ein alter Tattergreis wie ich Sie hier besucht, nicht wahr?", fing er mit einem Zwinkern nonchalant an. Als sie nickte, kramte er kurz an der Innenseite seines Jacketts und schob dann einen Briefumschlag vor ihre Nase. Er sah edel aus, wie aus einem Mittelalter-Film, weil das Papier leicht beige war und ein rotes Wachssiegel auf der Front prangte. Der alte Mann blickte sie mit einem verschmitzten Lächeln an, als sie das Siegel brach und den Brief entfaltete.
„HOGWARTS-SCHULE FÜR HEXEREI UND ZAUBEREI
Schulleiter: Albus Dumbledore
(Orden des Merlin; Erster Klasse, Großz., Hexenmst., Ganz hohes Tier, Internationale Vereinig. d. Zauberer)
Sehr geehrte Mrs. Brooks,
wir freuen uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Sie an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei aufgenommen sind. Beigelegt finden Sie eine Liste aller benötigten Bücher und Ausrüstungsgegenstände. Das Schuljahr beginnt am 01. September. Wir erwarten Ihre Eule spätestens am 31. Juli.
Mit freundlichen Grüßen
Minerva McGonagall
Stellvertretende Schulleiterin"
Megan schaute vom Brief auf und direkt in das immer noch verschmitzt lächelnde Gesicht des alten Mannes. Einen Moment fragte sie sich, ob sie erneut beim Fernsehen eingeschlafen war und was zur Hölle sich ihr Unterbewusstsein gerade zusammenspann. Dann fühlte sie sich einfach nur so verarscht wie noch nie zuvor. Ja sicher, nur weil sie eine Frau war, glaubte sie doch nicht jeden Scheiß!
„Sehr witzig. Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich Ihnen diesen Humbug glaube? Was wollen Sie eigentlich damit bezwecken, mir solche Märchen zu erzählen!" Sie konnte nicht verhindern, dass sich ihre Stimme wütend anhob.
„Ah, natürlich. In den meisten Fällen benötigt es einen Beweis, damit man mir glaubt." Mr. Dumbledore zwinkerte sie an und wühlte erneut in seinem Jackett. Dieses Mal zauberte er einen länglichen, seltsam geschnitzten Stock hervor, der anscheinend ein Zauberstab sein sollte. Aber warum trug dieser Mann einen Anzug, wenn er doch anscheinend einen Magier darstellen wollte? Und dieser Bart konnte doch unmöglich echt sein!
Dann richtete er den Stock auf die Küchenzeile hinter ihr und schwang ihn einmal, woraufhin augenblicklich ein Rauschen und ein Klappern ertönte. Megan drehte sich um und fühlte förmlich, wie sich ihr Gehirn aufgrund der schieren Unmöglichkeit der sich vor ihr abspielenden Szene ausschaltete. Es vergingen einige lang anmutende Momente des bewusst erlebten Nicht-Denkens, in denen Megan ihr Geschirr dabei beobachtete, wie es sich selbst spülte.
„Ms. Brooks", erklang Mr. Dumbledores Stimme hinter ihr, aber jeglicher Humor war mit Ernsthaftigkeit ersetzt worden. „Das ist sicherlich ein nicht sehr leicht zu verdauender Schock für Sie, aber ich bin nicht ohne Grund heute persönlich erschienen."
Langsam, es kam ihr vor wie in Zeitlupe, drehte Megan sich um und schaute ihren Gegenüber an. Sie versuchte das Klappern und Rauschen hinter ihr zu ignorieren, aber wie immer, wenn man etwas bewusst nicht hören wollte, konnte man es erst recht nicht ausblenden. Augenblicklich begann es ihre Nerven furchtbar zu strapazieren.
„Wissen Sie, einen Fall wie den Ihren hatten wir in Hogwarts noch nie. Sie sind etwas spät-reif, könnte man sagen. Eigentlich hätten Sie wie jede muggelgeborene Hexe diesen Brief schon vor zwölf Jahren erhalten sollen. Das Zauberei-Ministerium wollte Sie gar nicht erst akzeptieren, aber dennoch habe ich entschieden, Ihnen die Chance zu geben eine Ausbildung als Hexe anzufangen."
Als Megan ihn daraufhin stumm wie ein Fisch anblinzelte – ihr Gehirn versuchte vergeblich Begriffe wie „muggelgeboren" und „Zauberei-Ministerium" zu begreifen – fuhr er fort: „Hogwarts ist ein Internat, weswegen Sie außerhalb der Ferienzeiten dort kostenlos wohnen werden. Die Ausbildung umfasst normalerweise sieben Jahre, aber mit ein wenig Fleiß werden sie sie sicherlich um das ein oder andere Jahr verkürzen können."
Megan fühlte sich, als würde sie im Kino sitzen und sich einen Film aus der Ego-Perspektive ansehen, und während sie die Worte ihres Gastes bis zu einem gewissen Level verstand, konnte sie sie doch nicht wirklich begreifen. Sie war sich mittlerweile sicher, dass sie träumte und jeden Augenblick zu einer der nächtlichen Sexwerbesendungen im Fernsehen auf der Couch aufwachen würde.
Megan machte den Mund auf und versuchte irgendetwas zu sagen, aber die Worte fehlten ihr. Stumm sah sie Mr. Dumbledore an, in der leisen Hoffnung, dass er gleich lachen und den Scherz aufdecken würde. Er tat nichts dergleichen.
„Sicher brauchen Sie etwas Zeit, um ihre Entscheidung zu überdenken, Ms. Brooks. Ich werde in einer Woche um 12Uhr im "Tropfenden Kessel" auf Sie warten und Ihnen bei ihren Einkäufen in der Winkelgasse behilflich sein, wenn Sie möchten. Sie finden das Pub in der Charing Cross Road zwischen einem Bücherladen und einem Plattengeschäft. Nehmen Sie genügend Geld und den Brief mit. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen noch."
Damit richtete sich Mr. Dumbledore zu seiner vollen Größe auf. Er sah sie noch einmal lächelnd an, während er seinen Zauberstab hob, und verschwand dann mit einem grässlichen Geräusch direkt vor ihren Augen.
Obwohl er verschwunden war, wusch sich ihr Geschirr weiter. Teller nach Teller drehte sich unter dem laufenden Wasserhahn und ließ sich von einem Schwamm von allem Schmutz befreien, nur um sich dann in die Obhut ihres Trockentuchs zu begeben. Drei Kaffeetassen, fünf Gabeln, sechs Messer und zwei Löffel folgten ihrem Beispiel. Der Wasserhahn stoppte, Schwamm sowie Trockentuch legten sich nieder und Stille kehrte ein.
Megan hielt es nicht mehr aus und verließ die Küche. Im Wohnzimmer fläzte sie sich auf die Couch und versuchte sich auf den Fernseher zu konzentrieren, den sie bis jetzt erfolgreich verdrängt hatte.
Konnten Halluzinationen so lebensecht wirken? War sie verrückt geworden? Sie nahm doch überhaupt keine Tabletten! Sie hatte ja noch nicht einmal einen Hang zu seltsamen Träumen.
Abrupt stand sie auf und betrat ihr Schlafzimmer. Angezogen wie sie war schlüpfte sie gänzlich unter ihre zerknautschte Bettdecke und schloss die Augen. Als die Luft kurz danach zu stickig wurde, tauchte sie wieder auf und krümmte sich wie ein Fötus zusammen. Dann starrte sie an die taghelle Decke und versuchte so lange an nichts zu denken, bis sie schlussendlich ein- und bis spät in die Nacht durchschlief.
Mit einem mehr als unbehaglichen Gefühl in der Magengrube bemerkte sie schließlich, dass ihre Tür den ganzen Tag offen gewesen war.
Fortsetzung folgt...
Ich hoffe euch gefällt das erste Kapitel. Kritik und Anmerkungen sind mir natürlich willkommen. Im Moment habe ich 6 Kapitel fertig geschrieben, die ich nach und nach hochladen werde.
