1. Die Achterbahn im Fahrstuhl

Das erste Mal treffe ich ihn im Fahrstuhl. Das Ganze ist so banal, dass es fast schon wieder lustig ist. Vor fast einem Jahr war ich blöd genug, mir von den ganzen Praktikumsplätzen am Schwarzen Brett der Uni ausgerechnet dieses auszusuchen. „Assistentin bei wissenschaftlichen Experimenten." Das klang nicht nach harter Arbeit, die Arbeitszeiten waren cool und der zusätzliche Lohn für die nächtlichen Extratrips auch.

Und ehe ich mich versah, hatten Jane und ich so eine Art zickig-liebevolle Beziehung, mehr ein Familien- als ein Arbeitsverhältnis. Vielleicht, weil sie wegen ihren ganzen wissenschaftlichen Projekten wenig Zeit und kaum Freunde hatte. Ich hatte keine Projekte, viel Zeit aber auch keine Freunde. Insofern passten wir perfekt zueinander.

Naja, was danach kam ist ja allgemeingültiges, anerkanntes Wissen: Stürme, Brücken zwischen den Dimensionen, Thor und ein paar andere ungebetene Gäste.

Eigentlich bin ich immer diejenige, die die Krise kriegt. Aber plötzlich kriegen alle anderen die Krise: Jane, die einfach in Wirbelstürme fährt, Thor, der seinen Hammer vermisst, Erik, der das alles für eine Scheißidee hält, Thor, der nicht nach Hause kann, sein Bruder, der ein echt mieses Explosionsschussteil auf uns loslässt und Thor, der gegen seinen Bruder kämpfen geht… tja. Und dann wieder Jane, weil Thor nicht zurück kommt.

Und plötzlich ist das hier ein Knochenjob!

Aber einen Lichtblick gab es bei dieser unschönen Geschichte: Thor ist der Times zufolge ein Held. Und Helden kriegen immer das Mädchen. Diese Regel ist fast so etwas wie ein Naturgesetz. Und vor drei Monaten hat er das bewiesen. Er musste zwischenzeitlich nur mal eben mit seinem Heldenteam ein paar Aliens und schon wieder seinen durchgeknallten Bruder verhaun.

Jetzt schweben die beiden auf butterweichen Wölkchen. Und wer bleibt übrig in der Rechnung? Richtig, ich. Als kleiner unteilbarer, mathematischer Rest. Den Wissenschaftsfreaks würde das wohl gefallen.

Und deshalb, wegen all diesen… Ereignissen, treffe ich ihn. Im Fahrstuhl. Wenn mein Leben sich mit Thors Rückkehr nicht schon wieder um hundertachtzig Grad gedreht hätte, wäre es vielleicht ruhiger ausgegangen.

Es fängt ganz harmlos, ganz langweilig, ganz wissenschaftlich an und läuft etwa so ab:

Jane darf Experimente durchziehen. In der neu errichteten SHIELD Zentrale in New York. Fury und seine Kumpels haben es satt sich immer bei Stark einzumieten und sich einen Wolkenkratzer in NYC gestellt – ist ja auch verständlich. Stark gibt dir das Gefühl ein Bittsteller zu sein. Neben ihm fühlt man sich einfach arm. Arm und unfähig.

Für Jane ist das ne große Sache. Labore, Versuche, Messgeräte von hoher Qualität und so weiter. Und als beste Freundin bin ich natürlich mit am Start! Was machen schon ein paar verpasste Univorlesungen? Zwei Wochen New York! Ich habe die offizielle Erlaubnis um die Hochhäuser zu ziehen, wenn ich nicht gebraucht werde.

Gerade werde ich aber gebraucht. Und zwar dringend. Deshalb bin ich unterwegs zur Weltraum-Chrom-Cafetaria. Seit über vierzig Minuten versuche ich, eine einfache Besorgung zu machen, um Erik und Jane nach ihrer durchwachten Nacht von einem extrem zickigen Nervenbündelduo zu einem etwas netteren Wissenschaftlerduo zu verhelfen. Ihre genialen Hirne laufen nur noch mithilfe schwarzer, aromatischer Flüssigkeiten.

Ich mache mich mit einem großen dampfenden To-Go-Becher in jeder Hand auf den Rückweg. Ich steige im siebenzwanzigsten Stock in den Aufzug um nach unten in den siebten Stock zu fahren, wo Jane ihre Experimente - bahnbrechende Forschungsprojekte, wie sie das Ganze nennen würde – durchziehen darf. Das ganze Ding mit Schwerkraftaußerkraftsetzung shebelwirkungen um Brücken nach Asgard zu bauen… oder wie auch immer. Nicht, dass ich inzwischen irgendeine Ahnung habe, woran sie gerade arbeitet. Ich kann dir alle Fragen zu Herr der Ringe beantworten und fast jede Episode von Friends mitsprechen. Ich kann so herrlich in meinen Tagträumen versinken, dass ich nichts mehr wahrnehme – so wie jetzt gerade. Ich beobachte nur nebenbei, dass die Anzeige über der Aufzugtür von 19 auf 18 springt – und ich würde jedem verzweifelten Büromenschen Kaffee bringen, wenn es seinen Alltag nur etwas erträglicher machen würde. Oh, und wenn er nett fragt. Das alles reicht um ein sozial anerkanntes Wesen zu sein. Nicht jeder ist ein wissenschaftliches Genie. Oder ein Superheld.

Manchmal habe ich das Gefühl, ich lebe in einer Welt, die aufgebaut ist wie ein Computerspiel, ein Spiel mit zwei Leveln: Dem für Laien und dem für Experten. Es gibt keine extra Leben und wenn der Endgegner dich erwischt, dann wars das. Neu anfangen geht leider nicht. Oh, und in das Expertenlevel wird man hineingeboren. Ein echt beschissenes Spiel und du kannst erst aufhören, wenn du tot bist. Manchmal - nur manchmal und ganz heimlich, ohne jemandem davon zu erzählen – frage ich mich, warum ich in Level eins bin, warum ich nichts anderes mache als ein bisschen studieren und Kaffee von A nach B zu tragen und ob das Ganze fair ist, oder ob es wenigstens irgendein winziges bisschen Sinn ergibt. Vielleicht ergibt es Sinn. Und ich bin leider nicht Genie genug, um auf die Lösung des Rätsels zu kommen. Das Einzige was die Realität für mich etwas bunter und interessanter macht, sind die Superhelden.

Das ist noch ein Grund, warum ich mitgekommen bin und Jane die nächsten zwei Wochen geduldig Kaffee hinterher trage: Die ganze Helden, die angeblich hier sein sollen. Nicht, dass ich es darauf anlegen würde, aber Captain America mal von nahem sehen, oder Iron Man, oder Hawkeye… das wäre der Hammer!

Also bildlich, nicht Myölnirmäßig wortwörtlich. Thor ist nämlich nicht halb so spannend wie seine Kollegen in ihren Kostüm- äh, Anzügen. Vielleicht denke ich aber auch nur so, weil ich schon ein bisschen abgehärtet bin – so abgehärtet wie man eben gegen Thor sein kann. Ich sehe ihn ja jeden Tag. Sein Anblick, sein Benehmen und die ganzen Extras, die mit einem extraterrestrischen Götterprinzen so mitgeliefert werden, gehören inzwischen zu meinem Alltag und können echt nicht mehr schocken.

Höchstens nerven. Er nimmt meine beste Freundin/Chefin zurzeit wahnsinnig in Anspruch. Das ist echt ätzend.

Die Anzeige über der Aufzugtür macht das nervige „Ping" und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich bin erst im zwölften Stock und brauche einen Augenblick, diese Info zu verarbeiten.

Die Türen gleiten auf. Keine Alltagsstressmeute, die dem Kaffee wehtun könnte. Es steigt nur ein Mann ein. Ein großer Mann in dunkler Kleidung. Ich werfe ihm einen Blick zu. Er gleitet wortlos neben mich, ohne mir einen Blick zuzuwerfen. Wie unhöflich. In Imitation meiner Körperhaltung starrt er auf die Anzeige und zählt wohl auch die Stockwerke runter. Ich ringe mir ein „Hallo." ab, einfach weil er keins gesagt hat. Unlogisch. Ja, ich weiß.

Er wendet den Kopf. „Hallo". Er sagt es einsilbig und lustlos und nur weil ich es gesagt habe. Aber er wendet den Blick nicht mehr ab, obwohl ich schon wieder nach Vorne schaue. Er scheint einen Versuch zu unternehmen, mich mit seinem Blick von der Seite her zu durchbohren. Na toll. Ich ziehe Mal wieder schräge Typen an. Vielleicht hört er ja damit auf, wenn ich ihn ignoriere.

Er hört nicht auf.

Ich beginne nervös zu blinzeln. Auf einmal wünsche ich mir die Menschenmassen her, in denen ich verschwinden kann. Ich bin hier alleine mit einem schrägen Kerl. Ich halte das ganze drei Sekunden aus – dann schaue ich zurück. Und kaum tue ich das, ist sein Interesse erloschen. Er wendet sich wieder ab. Er wollte wohl nur provozieren. Oder Aufmerksamkeit. Oder Beides.

Also schenke ihm eine geballte Ladung Aufmerksamkeit. Ich fange demonstrativ an, ihn von Kopf bis Fuß zu mustern.

Er ist wirklich groß. Ich muss den Kopf zurücklegen, um sein Gesicht zu sehen. Aber das bemerke ich nur nebenbei, denn der Rest von ihm lenkt mich ziemlich ab. Er ist ungewöhnlich blass, ein starker Kontrast zum zurückgestrichenen, schwarzen Haar. Außerdem trägt er eine Art Lederoutfit – in schwarz, hallo? - und hält etwas Ovales im Arm. Naja, man darf Menschen für ihr Aussehen nicht diskrim- Ach du scheiße, ist das ein Umhang? Jetzt schaue ich mir genauer an, was er im Arm hat. Menschen mit Umhang sind die Bösen. Immer. Außer Batman. Das ist auch so etwas wie anerkanntes, allgemeingültiges Wissen. Und der Kerl hier könnte schließlich eine Bombe im Arm wiegen, damit sie nicht frühzeitig detoniert.

Aber das Ding ist ein Helm, denn es hat Kopfform und glitzert metallisch. Es hat außerdem zwei so komische… Ich blinzele irritiert. Das kenne ich. Von Thor. Aus Geschichten.

Meine Augen huschen vom Helm über die Rüstung ins blasse Gesicht. Und ich zähle Eins und Eins zusammen. Mir fehlen einen Augenblick lang die Worte, bis es völlig unüberlegt aus mir herausbricht.

„Du bist Loki!", konstatiere ich.

Er schießt mir schräg von oben einen Blick zu. Ich zucke innerlich zusammen. Ein sehr giftiger Blick. Vielleicht liegt es aber auch an der Augenfarbe.

„Ich bin Loki.", antwortet er, als wäre das ja wohl offensichtlich – was es ist, der Helm ist unverkennbar – und als wäre eine von zwei Personen hier im Aufzug durchgeknallt und als wäre das nicht er. Damit scheine ich abgehandelt zu sein und sein Blick huscht wieder nach Vorne auf die Türen.

Ich starre ihn an wie eine Erscheinung. Er sieht einerseits genauso aus, wie ich ihn mir vorgestellt hätte, andererseits kein bisschen. Alles an ihm schreit „Knie nieder, Welt! Hier ist dein Meister!". Seine Körperhaltung hat etwas von einer Raubkatze, die entspannt ist, dir aber wortlos vermittelt, dass sie im Bruchteil einer Sekunde ihre Krallen in ihre Beute schlagen kann. Aber auf der anderen Seite hat er schöne Gesichtszüge, die gerade in einem völlig normalen Ausdruck von Langeweile aufgehen. Das ist der Kerl, der so viel Scheiße gebaut hat?, denke ich auf der einen Seite. Und auf der anderen: Klar ist er das. Ein Wimpernschlag und ich bin Asche. Er ist ein Widerspruch in sich. Vielleicht hat ihn das in der Vergangenheit so erfolgreich gemacht.

Die folgende Stille ist unangenehm. In meinem Kopf schießen die Gedanken kreuz und quer. Warum ist er hier? Wissen die anderen Bescheid? Darf er etwa hier sein? Was hat er vor? Bin ich in Gefahr? Wo ist Jane?

Ich könnte etwas sagen. Und ihn ausfragen, interviewen, vielleicht sogar verhören. Okay, was könnte ich ihn fragen? Wo ist meine Schlagfertigkeit hin?

Das „Ping" des Aufzugs zerreißt die Stille und mein grob geknüpftes Gedankennetz. Loki kommt in Bewegung. Stoff raschelt. Die Türen gleiten auseinander und er schreitet hindurch. Er ist groß, erhaben und – Ich wünschte, ich würde es nicht bemerken – irgendwie verdammt cool.

In meinem Kopf formt sich ein Gedanke – und er verursacht eine Art Kurzschluss. Was wenn Loki…?

Loki hat noch keine zwei Schritte den Flur hinunter getan, die Türen drohen wieder zuzugleiten da handele ich wie ferngesteuert. Wie von selbst schnellt meine Hand vor und umfasst eine der Türen, damit sie offen bleiben.

„Warte!", bringe ich hervor. Erleichtert höre ich, dass meine Stimme fest klingt. Fast so, als würde ich jeden Tag Superschurken von der Seite her anquatschen. Er hält tatsächlich inne und wendet den Kopf. Sein Gesicht ziert ein Ausdruck höflichen Desinteresses. Arsch, denke ich mir. Aber vielleicht wird das auch von ihm erwartet. Er ist der Böse. Wahrscheinlich ist er schon zu sehr in seiner Rolle.

Ich hole tief Luft. „Okay, ich will hier mal was klarstellen! Ich bin nicht blöd. Ich weiß, dass du hier nichts verloren hast. Und wenn du irgendeine Scheiße angestellt hast, dann… Weißt du, mir ist egal ob du irgendeine große Nummer bei den Verbrechern bist, klar? Oder ob du ne schwere Kindheit hattest! Leb deine Komplexe woanders aus! Nur damit du Bescheid weißt: Wenn du Jane etwas getan hast, mach ich dich persönlich fertig! Ich hatte nie eine beste Freundin. Und ich habe kein Verständnis dafür, wenn ein größenwahnsinniger, mehr komplex- als hirngesteuerter Egozentriker sie mir wegnimmt." Ah, meine Schlagfertigkeit ist zurück.

Loki wendet sich zu mir um. Natürlich ist er nicht beunruhigt. Er wirkt eher belustigt. Er macht ein Gesicht als hätte etwas unaussprechlich Dummes mal etwas Intelligentes gesagt. Er legt die Stirn in nachdenkliche Falten, falsche nachdenkliche Falten.

„Dann was?", fragt er provozierend. Und er grinst. Er grinst. Es sieht normal aus und fast etwas verspielt. Aber diese Normalität ist so deplatziert, dass sie schon wieder wahnsinnig ist.

Jepp. Ich revidiere mein anfängliches Urteil, dass es nur einerseits schwer zu glauben ist, was er getan hat. Hübsches Gesicht, aber hundert Prozent Wahnsinn.

„Dann…" Ich muss einen Augenblick überlegen. Aber schließlich kommt mir eine Antwort, basierend auf dem was Thor erzählt hat, eine, die ich vielleicht lieber nicht gesagt hätte: „Dann zieh ich dir die Haut ab! Und guck mal nach, welche Farbe die darunter hat!"

Das Lächeln verschwindet. Er hat den Seitenhieb verstanden. Gut, jetzt weiß er Bescheid, mit wem er es zutun hat. „Oh, und noch was: Die Tatsache, dass du deinen Helm abnehmen musst, damit du in einen Fahrstuhl passt – echt uncool."

Ich nehme die Hand aus der Tür. Sie gleitet zu.

Aber nicht schnell genug, um seine Antwort abzuwürgen. „Sagt die Frau, die gerade nichts Bedeutenderes mit ihrem Leben anzufangen weiß, als anderen ihren Kaffee zu bringen. Wem? Deiner Freundin? Wie hieß sie noch gleich? Jane?"

Das sitzt. Die Türen sind zu. Verdammt, denke ich. Verdammt, verdammt, verdammt! Ich habe einen echten Mistkerl auf meine Freundin angesetzt! Außerdem… ich hätte noch nicht einmal eine Antwort gehabt.