Und ein weiteres Mal schlug Nova mit ganzer Kraft zu. Nichts geschah, einmal abgesehen von ihrer schmerzenden Hand. Die Tür blieb verschlossen, der Weg nach draußen ihr vorenthalten. »Elendes Miststück«, murmelte sie zornig. Wenn sie Kyle in die Finger bekam, konnte sie für nichts mehr garantieren. Diesmal hatte er es zu weit getrieben.
Schon seit einer Stunde hockte Nova nun in einer verstaubten Besenkammer, umringt von Staubmäusen in sämtlichen Größen, die ihr zuzwinkern zu schienen. Der Gedanke ließ sie schaudern. »Ich muss verdammt nochmal auf die Toilette, warum hört mich denn niemand?«, maulte sie und stöhnte, um ihr Anliegen zu unterstreichen. Konnte sie nur hoffen, dass Kyle's Eltern gerade daheim waren.
Nova wagte noch einen Versuch und hämmerte gegen die Tür, die als Antwort ein ergebenes Knarzen verlauten ließ. »Wenn nicht gleich jemand kommt, durchbreche ich die Tür einfach, ist mir doch egal...« Jeder, der sich ein wenig kannte, hätte ihre Lüge mit Leichtigkeit durchschaut. Der Mut dazu fehlte ihr gewiss nicht, doch es mangelte an ihrer physischen Kraft.
Ein kleiner Frustschrei lag ihr auf der Zunge, doch dazu kam es nicht mehr, da die Tür von einem breitgrinsenden Kyle geöffnet wurde. Lässig lehnte er im Türrahmen und fragte lässig, »Hast du mich vermisst?« Nova fühlte sich, als würde sie in Flammen aufgehen. Vollkommen wütend ging sie auf den Jungen zu, der jedoch geschickt auswich. Wenig später lief sie ihm in Windeseile hinterher und es sah aus, als würden sie Fangen spielen. Nur eben sah die Fängerin wie ein aufgehetztes Tauros aus.
»Wenn ich dich kriege, mach dich auf was gefasst!«, brüllte sie und kündigte Krieg an. Kyle jedoch schien andere Pläne zu haben und rannte lachend weg, immer mehr Abstand zwischen ihnen schaffend. Nova war klar, dass sie ihn niemals einholen würde, da er nicht nur schneller, sondern auch ausdauernder war. Aufgeben jedoch würde sie nicht. Zwar hatte sie ihren Stolz schon vor einer Stunde verloren, aber so weit sinken würde sie nicht.
Irgendwann holte Nova ihn - vollkommen erschöpft und ausgelaugt - tatsächlich auf, was dann jedoch geschah, konnte man sich vorstellen und brauchte nicht ausgesprochen zu werden. Als sich die Spannung gelegt hatte, bot Kyle ihr ein Versöhnungsangebot an. »Du liebst doch Pokémon. Ich kann dir doch mal das Labor von meinem Vater zeigen, der hat sicher nichts dagegen«
Kyle hatte Nova's Schwachpunkt direkt getroffen und sie strahlte nun wie die Sonne selbst. Er lachte bei ihrem Anblick. Im Labor angekommen, führte er sie herum. Ihre Augen nahmen die Größe von Tellern an und ihr Grinsen reichte von einem Ohr zum anderen. Der Junge an ihrer Seite beobachtete sie nachdenklich, Nova jedoch merkte davon nichts. Er schien einen Entschluss gefasst zu haben, denn er meldete sich zu Wort.
»Weißt du noch früher? Wir wollten auch mal auf Reisen gehen«, fing Kyle vorsichtig an, »Wir hatten sie später in den Wind geschossen, aber nun hält uns ja nichts mehr davon ab. Wie wär's?« Nova erinnerte sich noch gut daran. Kyle und sie wollten, wenn sie beide ihr zwölftes Lebensjahr vollendet hatten, auf der Suche nach Abenteuern gehen. Ihre Mutter wurde jedoch schwer krank und so hatte Nova beschlossen, hier zu bleiben.
Zu der Erleichterung aller Beteiligten hatte sich ihre Mutter aber wie durch ein Wunder erholt und nun schien kein Hindernis mehr ihrer Reise im Weg zu stehen. Zwar waren zwei Jahre seit dem vergangen, doch der Wunsch war noch immer bestehen. Nachdenklich wiegte sie ihren Kopf zwischen Zeigefinger und Daumen hin und her. Schließlich lächelte sie ihn warm an und antwortete, »Wieso nicht?«
Nur zwei Tage später standen Kyle und Nova im Labor vor drei verschiedenen Pokémon. Sie hatten ihre Eltern überredet und den Professor gebeten, einige Pokémon für sie bereit zu stellen. Zu ihrem Erstaunen verlief alles gut. Viel zu gut, wenn es für Nova ging, doch Kyle meckerte nur wieder, sie sollte nicht so pessimistisch denken.
»Mmh, welches nehme ich wohl?«, murmelte Kyle unentschlossen. Mit hochgezogener Braue wandte sich das Mädchen ihm zu, »Was soll das heißen? Es heißt nicht umsonst ‚Ladies first', also mach Platz« Mit einem leichten Stoß in den Rippenbereich schubste sie ihn zur Seite und beobachtete die drei Wesen. Vor ihnen lag jeweils ein Namensschild mit Beschreibung und Namen.
Das Erste hieß Endivie und war vom Typ Gras. Auf der Stirn ragte ein großes Blatt, sodass sich Nova ernsthaft fragte, wie das arme Ding überhaupt erkennen konnte, wohin es lief. Schüchtern wand sich das kleine Wesen unter ihren durchdringenden Blicken hin und her. Nova beschloss, das Pokémon erst einmal ruhen zu lassen und später noch einmal darauf zu kommen.
Nebenan lief ein quirliges Karnimani im Kreis herum und bespritzte hin und wieder das Feurigel zu seiner Rechten. Der kleine Schalk hatte ihrer Meinung nach große Ähnlichkeiten mit Kyle. Das Feurigel schnaubte es zur Antwort an und drehte ihm den Rücken zu. Das Feuer-Pokémon gefiel ihr. »Ich nehme das hier!«, sagte Nova plötzlich und zeigte mit dem Finger auf Feurigel.
Und bevor Kyle zu Wort kommen konnte, fügte sie mit einem Blick auf das Karnimani hinzu, »Kyle will das dort!« Er schaute sie verwirrt an. »Nov? Sollte ich nicht eigentlich mein Poké-«, er brach ab, als er ihren mörderischen Blick sah. »Schon gut... Hätte ich sowieso gewählt«
Der Professor, Kyle's Vater, lachte darauf herzlich und übergab ihnen ihre Pokémon. Nachdem er ihnen daraufhin einen PokéDex aufgezwungen hatte und einige Pokébälle geschenkt hatte, verließen sie voller Tatendrang das Labor. Wieder allein wandte sich der Professor seufzend an Endivie, »Na? Jetzt sind nur noch wir zwei übrig, was?«
