Es war an einem Sonntag im Spätherbst. Anne war auf dem Weg zum Waisenhaus von Kingsport. Ihre neue Tätigkeit als Lehrerin im Kingsport Ladies College war zwar ziemlich anstrengend und doch erfüllend. Aber sie hatte das Gefühl, daß die Kinder im Waisenhaus sie nötiger brauchten als die Pringles-Mädchen. Und sie hatte soviel Glück in ihrem Leben gehabt, seitdem Marilla und Matthew Cuthbert sie vor elf Jahren bei sich aufgenommen haben, daß sie davon etwas zurückgeben wollte. Sie spielte mit den Kindern, hörte ihnen zu, erzählte ihnen Geschichten und las ihnen vor. Mit anderen Worten sie schenkte ihnen das, was ihnen am meisten fehlte – Liebe und Aufmerksamkeit.
Die Sonne schien, aber der Wind war kalt und durchdringend. Sie zog ihren Schal fester um sich und ging weiter vorbei an den ehrwürdigen Häusern durch die alten Straßen Kingports. Sie genoß ihren Spaziergang. Das Laub an den Bäumen fing schon an sich zu verfärben. Auch wenn der Frühling ihre Lieblings-Jahreszeit war, weil es sie immer daran erinnerte, wie sie zum ersten Mal auf Green Gables ankam, so konnte sie sich dem Reiz des Farbenspiels ihrer heißgeliebten Bäume nicht entziehen. Es erinnerte sie an die Wälder auf Prince Edward Island. Und an die Waldspaziergänge, die sie immer mit Diana und später mit Gilbert gemacht hatte. Diana Wright war nun glücklich verheiratet. Und Gilbert studierte Medizin in Halifax. Sie hatte ihn seit der Abschlußfeier am Redmond College nicht mehr gesehen. Sie vermißte beide sehr, freute sich aber auch für sie, daß ihre größten Wünsche in Erfüllung gegangen waren.
Nach einer Viertelstunde kam sie am Waisenhaus an. Es machte sie jedes Mal auf's Neue betroffen, wie trostlos es aussah. Dieses große graue kalte Haus mit den kleinen Fenstern, durch die kaum Licht ins Innere fiel. Der kleine Garten, der zu dem Waisenhaus gehörte, war ungepflegt. Es waren so gut wie keine Blumen zu sehen, nur ein paar verkrüppelte Bäume und Sträucher auf einer grau-braunen Grasfläche. Wie sollten in solch einer Umgebung Kinder eine fröhliche Kindheit haben? Anne erschauerte noch heute, wenn sie an ihre zum Glück nur kurze Zeit im Waisenhaus von Hopeton zurückdachte. Als Anne die Tür öffnete und in die große Eingangshalle trat, wurde sie überschwänglich von der Leiterin Miss Forster begrüßt: „Hallo Miss Shirley! Wie schön, daß sie da sind. Sie werden schon sehnsüchtig erwartet." Sie nahm Anne Hut, Mantel und Schal ab und geleitete sie zum Aufenthaltsraum. „Insbesondere die Jungen konnten es kaum erwarten, bis sie endlich wieder kommen." Anne schmunzelte. Sie konnte sich gut vorstellen, woran das lag. In ihrer Tasche befand sich das Buch, aus dem sie heute zum ersten Mal vorlesen wollte. „Robinson Crusoe" von Daniel Defoe. Als Miss Forster die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete und Anne eintrat, gab es ein großes Hallo. Viele Kinder stürmten auf sie zu und umarmten sie. „Anne" ertönte es aus vielen Kehlen. Anne strahlte. Die Begeisterung in ihren Augen war ihr Belohnung genug. Diese Sonntage waren das Highlight ihrer Woche. So erfüllend ihre Tätigkeit als Lehrerin auf dem Kingsport Ladies College auch war, aber diese Stunden im Waisenhaus gaben ihr einfach mehr.
Während Anne von allen Seiten von Kindern umringt wurde und jeden einzelnen begrüßte, ging Miss Forster zu einem Jungen im Alter von ungefähr zehn Jahren. Er war erst diese Woche im Waisenhaus eingetroffen und hielt sich noch gern ein wenig im Hintergrund. „William" sagte sie. „Komm, ich stelle Dich Miss Shirley vor." und streckte ihm ihre Hand hin. Schüchtern nahm William ihre Hand und ließ sich zu Anne führen. „Miss Shirley! Darf ich Ihnen William Hamilton vorstellen? Er ist diese Woche zu uns aus einem Waisenhaus in Alberta gekommen, da die Ärzte empfohlen haben, daß er an der Küste lebt wegen der Meeresluft". Anne schaute William an. Vor ihr stand ein Junge mit lockigem braunem Haar und schalkhaften haselnußbraunen Augen. Als sich ihre Augen trafen, zwinkerte William Anne zu. Anne hatte das Gefühl, ein Déjà Vu zu haben und dachte an diesen einen verhängnisvollen Schultag zurück vor elf Jahren in ihrer vierten Schulwoche in Avonlea. Vor ihr stand eine jungenhafte Ausgabe von Gilbert Blythe. Zum ersten Mal seit langem verschlug es ihr die Sprache.
