„This nest of whores and vipers"
von Michelle Mercy
Sequel zu „Voices soft as thunder",
slahiger Krimi, Javert und Valjean ermitteln, nicht ganz freiwillig,
in einer Mordserie, die sie weit in die Vergangenheit zurückführt.
Wie könnte es anders sein, gehören die Jungs Hugo und einander, ebenso Cosette und Marius, die anderen Charaktere gehören mir, außer Dr. Grenvil, den habe ich bei Giuseppe Verdi ausgeborgt, nachdem unser Baby-Baß so erinnerungswürdig in der Rolle war.
Author's note:
„Tantes" entspricht übrigens dem deutschen Wort „Schwule".
1. Kapitel
„Ich brauche eine Beschäftigung," sagte Javert und nahm noch einen Schluck Kaffee. „Zumindest befürchte ich das, nachdem ich mich gestern dabei erwischt habe, nicht nur alle unsere Schreibfedern und Kohlestifte gereinigt, sondern auch der Größe nach sortiert zu haben."
Jean Valjean blickte ihn über den Frühstückstisch an und lachte leise. „Was willst du tun?" fragte er. „Einen Schreibwarenhandel aufmachen?"
„Sehr komisch. Nein, ich dachte, ich könnte vielleicht doch einmal ein paar der Anfragen nach Informationen nachkommen," erwiderte Javert vorsichtig.
„Du willst wieder ermitteln?"
„Na, ja, nur so ein wenig, zum Spaß." Javert wußte nicht, wie Valjean auf dieses Ansinnen reagieren würde.
„Das heißt, ich werde zukünftig meine Schreibgeräte selbst der Größe nach ordnen müssen?" Valjean war in jeder Stimmung, in der es für ihn schwierig war, irgend etwas ernsthaft zu betrachten. Eigentlich dauerte diese Stimmung nun schon drei Monate, genauer gesagt, seit vergangenen Juni, seit er ganz offiziell ein freier Mann war.
„Du bist albern," rügte Javert sanft.
„Entschuldigung," tat Valjean zerknirscht. „Wenn du das tun willst, dann tue es doch, oder glaubst du, ich würde von dir erwarten, daß du mich um Erlaubnis fragst?"
„Ich bin nicht ganz sicher, wie du dazu stehst."
Valjean warf ihm einen Blick zu, in dem deutlich ein „schon wieder?" zu lesen war.
„Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, daß du mir nie etwas übel genommen hast, weil ich nur meine Pflicht getan habe. Das wäre aber keine Pflicht."
„Wenn du, um glücklich zu sein, eine Aufgabe brauchst, dann solltest du dir eine suchen." Jetzt war Valjean einigermaßen ernsthaft. „Übrigens habe ich diese Unterhaltung schon vor zwei Monaten erwartet. Ich habe doch gesehen, wieviel Freude du daran hattest, als du wegen meiner Begnadigung durch die Stadt gelaufen bist."
„Du kennst mich zu gut."
„Ist das etwa ein Vorwurf?"
Javert wollte gerade eine passende Antwort geben, als es klopfte, und Alphonsine, Violettas Nachfolgerin, eintrat. Sie war fleißig und erledigte ihre Arbeit gründlich, aber eine so enge Beziehung wie sie zu Violetta bestand, würde sich nie entwickeln. Auch sie hatte Valjean auf der Straße aufgelesen. Alphonsine hatte zwei Kinder, die allerdings von ihrer Schwester versorgt wurden. „Sergeant Danois, Messieurs," meldete sie.
Die beiden Männer tauschten einen Blick. Lucien Danois hatte die Enthüllung, daß der langgesuchte Jean Valjean und M. Fauchelevent ein und dieselbe Person waren, nicht besonders gut aufgenommen. Seine Bewunderung für Javert hatte empfindlichen Schaden genommen, und von Valjean hielt er sich möglichst fern. „Ich denke, ich werde mich auf den Weg zu Cosette machen," sagte Valjean. „Wir haben sowieso noch etwas Arbeit zu tun."
Javert nickte. Es war besser, wenn Lucien und Valjean nicht aufeinander trafen. „Grüß mir mein Patenkind."
Valjean stand auf, ging um den Tisch herum und küßte Javert auf die Stirn. „Laß dich nicht ärgern." Dann verließ er den Salon.
Javert fiel erst auf, daß Alphonsine noch in der Tür stand und peinlicherweise die kleine Szene mit angesehen hatte. Sie waren wirklich sorglos geworden in den vergangenen Monaten. „Ich lasse bitten."
Lucien Danois kam mit einem zackigen Schritt herein. „M. Javert," sagte er steif.
„Guten Morgen, Lucien, möchten Sie Kaffee?"
„Nein, danke."
„Möchten Sie wenigstens Platz nehmen?"
Lucien setzte sich. „Ich möchte gleich klarstellen, daß die Tatsache, daß ich hier bin, nicht bedeutet, daß ich nicht mehr wütend bin. Ich bin wütend. Mir ein halbes Jahr Komödie vorzuspielen und mich wie einen Idioten durch Paris nach jemandem jagen zu lassen, der sich die ganze Zeit in Ihrer Nähe befand, zu dem Sie sogar abends ins Bett gekrochen sind, werde ich Ihnen nicht so schnell verzeihen."
„Ich weiß," seufzte Javert. Es war zwar nötig gewesen, aber moralisch war es sicherlich nicht in Ordnung. „Und ich nehme es Ihnen auch nicht übel."
„Ich bin hier, weil ich Ihre Hilfe benötige. Beruflich," fügte Lucien hinzu, um gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, er habe ein Problem mit Violetta.
„Wie kann ich Ihnen helfen?" Wie verrückt, daß er vor wenigen Minuten mit Valjean darüber gesprochen hatte, daß er etwas zu tun brauchte...
„Wir haben seit einigen Wochen eine Mordserie. Gestern wurde die dritte Leiche gefunden."
„Ich habe nichts gehört, daß es so eine Serie gibt. Im ‚Moniteur' stand nichts davon."
„Die Ermittlungen haben nicht gerade Priorität. Die Toten waren allesamt tantes aus der Umgegend von Saint Michel, also interessiert es niemanden. Aber die Vorstellung, daß da jemand durch die Stadt läuft und Menschen den Bauch aufschlitzt, gefällt mir nicht. Doch mit Frau und Kind ist es kaum möglich, noch außerhalb der Dienstzeit zu ermitteln. Außerdem sind die tantes nicht gerade glücklich, mit der Polizei zu tun zu haben. So wie einige Kollegen mit ihnen umspringen, ist es ihnen auch nicht zu verdenken. Da Sie mir ja sowieso noch etwas schuldig sind, dachte ich, Sie könnten mit ihnen reden."
Javert hatte das Gefühl, daß ihm irgend etwas Entscheidendes entgangen war. „Wieso meinen Sie, die würden mit mir reden?"
Lucien sah ihn unsicher an. „Violetta berichtete mir, daß... daß Sie und M. Valjean... Und Sie haben mir eben auch nicht widersprochen. Aufgrund dessen bin ich davon ausgegangen, daß Sie..."
„Daß ich eine Vorliebe für Männer habe und mich dort auskenne?" vollendete Javert den Satz; jetzt war ihm auch bewußt, was Lucien nicht aussprach. „Da muß ich Sie enttäuschen. Ich habe vor allem eine Vorliebe für Jean Valjean."
„Oh," machte Lucien und war sich selbst nicht ganz sicher, was er damit ausdrücken wollte, Enttäuschung oder Irritation, daß Javert so freimütig einräumte, was ihn und Valjean verband.
„Doch Sie können Ihre Notizen gern hier lassen, ich werde es mir ansehen," bot Javert an. Er fand es noch immer irritierend, daß Lucien meinte, er würde sich unter den tantes auskennen, nur weil er einen Mann liebte.
„Ja, das wäre nett." Lucien klang niedergeschlagen. Wenigstens konnte Javerts Nase für Verbrechen nicht schaden, vielleicht fiel ihm ja etwas auf.
XXX
Javert verbrachte den Großteil des Tages mit dem sorgfältigem Durchgehen der Unterlagen, die Lucien ihm dagelassen hatte. Man mußte dem jungen Sergeanten lassen, daß er wußte, wie man einen Bericht faßte. Er hatte eindeutig einen Blick für Details. Die Leichen waren in der Nähe von Saint Michel gefunden worden, die Opfer hatten äußerlich wenig gemeinsam, das erste war ein korpulenter Mann Mitte Fünfzig, das zweite ein neunzehnjähriger Junge, und das neueste Opfer ein schmächtiger Dreißigjähriger gewesen. Die Gemeinsamkeiten lagen daran, daß die Leichen geradezu aufgeschlitzt worden waren, die Herzen lagen neben den Leichen. Keines der Opfer war beraubt worden. Das Interessanteste war jedoch, daß alle drei am Abend vor ihrem Tod in der Taverne „Le coq noir" gewesen waren, zahlreiche Zeugen hatten sie die Taverne lebend verlassen sehen, und danach waren sie verschwunden, bis man ihre Leichen einen Tag später fand.
Der Instinkt des Jägers war längst in Javert erwacht, und er wußte, wenn er erst einmal die Witterung eines Verbrechens aufgenommen hatte, war es für ihn unmöglich, Lucien die Unterlagen mit ein paar Ratschlägen zurückzureichen. Nein, er mußte selbst sich im „Coq noir" umsehen, aber es gab bestimmte Gründe, weswegen er dies nicht allein tun konnte.
Javert wartete ab, bis sie sich am Abend in die Intimität ihres Schlafzimmers zurückgezogen hatten, und Valjean fragte: „Was hat eigentlich dein jugendlicher Bewunderer gewollt?"
„Meine Hilfe in einem Fall. Eine Mordserie."
„Die Toten von Saint Michel?"
„Du weißt davon?"
„Wir hören in der Stiftung so allerlei, was nicht in der Zeitung steht." Valjean begann, sich auszukleiden. „Konntest du ihm helfen?"
„Noch nicht, aber ich werde ein paar Ermittlungen anstellen."
„Adieu, sortierte Schreibgeräte."
„Sehr witzig." Javert ließ sich auf das Bett fallen. „Ich werde eine Taverne aufsuchen müssen, wo die Opfer vor ihrem Tod gewesen sind?"
„Du wirst doch hoffentlich vorsichtig sein, oder?" Valjean war schlagartig ernst geworden und ließ sich neben Javert auf dem Bett nieder. „Ich will nicht irgendwann deine Leiche identifizieren müssen."
„Du machst dir ja Sorgen." Javert fühlte sich gerührt, denn es hatte sich niemand je Sorgen gemacht, ob sein Beruf vielleicht gefährlich war. „Merkwürdigerweise geriet ich immer nur dann in tödliche Gefahr, wenn du in der Nähe warst." Er räusperte sich. „Das bringt mich dazu, dich um etwas zu bitten."
Valjean blickte ihn neugierig an. Javert bat selten um etwas, er wartete eher, daß Valjean von sich aus erriet, was er wollte.
„Die Taverne ist ein Treffpunkt der tantes. Ich bin schon einmal vor etwa drei Jahren dort gewesen, und ich befürchte, ich werde nicht sehr willkommen sein."
„Ich frage erst einmal nicht, was du angestellt hast, sondern was du in so einem Laden gemacht hast."
Für einen Moment war Javert irritiert, dann wurde ihm klar, daß Valjean offenbar davon ausging, er sei freiwillig und um Bekanntschaften zu schließen, im „Coq noir" gewesen. „Ich war dienstlich dort, und du solltest deine schmutzigen Gedanken ein wenig zügeln."
Valjean hob nur ironisch die Augenbrauen.
„Wenn du es genau wissen willst, habe ich dort vier Abende darauf gewartet, daß der Bruder des Wirts auftauchte, den wir wegen Straßenraubes suchten. Da er dann tatsächlich auftauchte, habe ich ihn verhaftet."
„Das erklärt, warum der Wirt alles andere als glücklich darüber sein wird, dich zu sehen."
„In der Tat. Wenn ich allerdings nicht allein käme, sondern in Begleitung..."
„Du willst mich als Tarnung mitnehmen?"
Javert atmete auf. Es war irgendwie leichter, nachdem Valjean es ausgesprochen hatte. „Ja. Wenn ich mit meinem Liebhaber komme, wird es nicht so aussehen, als würde ich herumschnüffeln."
„Ein Ex-Polizist und ein Ex-Sträfling in einer Mordermittlung? Bin nur ich der Meinung, daß irgend etwas daran komisch ist?"
„Kommst du nun mit?"
„Ich werde mir bestimmt eine solche Attraktion wie das ‚Coq noir' nicht entgehen lassen. Wie ist es dort übrigens?"
Javert seufzte, streckte sich auf dem Bett aus und begann, sich laut zu erinnern, wobei er feststellte, daß die Erinnerung gar nicht so unangenehm war, wie er gedacht hatte. „Ich habe diese vier Abende still in einer Ecke gesessen und gewartet. Ich habe versucht, die zahlreichen Pärchen und ihre Berührungen schlicht zu ignorieren. Wenn mich jemand ansprach, war ich unfreundlich, so daß sie schnell das Interesse verloren. Natürlich wußte ich, was sich außerhalb der Schankstube abspielte; niemand, der je in einem Gefängnis war, hat darüber Illusionen. Doch all das berührte mich nicht, ich tat nur meine Pflicht. Nur ließen sich meine Träume nicht davon überzeugen. Kurz nach der Verhaftung begann ich, von dir zu träumen."
„Darüber würde ich gern mehr hören," sagte Valjean und bettete seinen Kopf auf Javerts Schulter.
„Ich habe geglaubt, ich würde wahnsinnig. Plötzlich warst du in meinen Träumen, und es ging nicht mehr darum, dich zu verhaften. Die Träume waren sehr eindeutig. An einen erinnere ich mich noch ziemlich genau. Wir waren wieder in Montreuil, und diesmal habe ich deine ausgestreckte Hand genommen. Doch du zogst mich in deine Arme, küßtest mich und dann... Den Rest kannst du dir ungefähr denken."
„Dazu gehört nicht viel Phantasie," erwiderte Valjean und ließ seine Hand spielerisch tiefer gleiten. „War es ungefähr so?"
XXX
Valjean notierte ein wenig erstaunt, daß Javert, bevor sie das „Coq noir" betraten, nach seiner Hand griff. Abgesehen von ihren Haushälterinnen und dem, was Marius versehentlich gesehen hatte, hatten sie nie jemanden eine Berührung intimerer Art zwischen ihnen sehen lassen, nicht einmal Cosette, und jetzt nahm Javert in aller Öffentlichkeit seine Hand.
Natürlich war Valjean bewußt, daß es ihrer Tarnung diente, trotzdem fühlte es sich ausgesprochen gut an. Weniger gut fühlte sich die Pistole an, die er in der Rocktasche trug. Javert hatte ihm die Waffe schweigend in die Hand gedrückt und die zweite selbst eingesteckt, was Valjean ein wenig beunruhigte. Javert rechnete offenbar mit Schwierigkeiten.
Auf den ersten Blick wirkte das „Coq noir" wie eine ganz normale Taverne, abgesehen vom völligen Fehlen von Frauen. Beim zweiten Hinschauen war festzustellen, daß in den dunkleren Ecken sich Männerpaare herumdrückten, und einige der Anwesenden sehr auffällig gekleidet waren.
Javert zog Valjean zu einem Ecktisch, wo sie Platz nahmen, und von wo sie einen exzellenten Blick durch den Raum hatten. Eine Minute später stand ein schmaler, sehr agiler Mann vor ihnen. „Sie sind hier nicht erwünscht, Inspecteur," sagte er unfreundlich.
„Das ist aber ausgesprochen unhöflich, Louis," erwiderte Javert. „Da will ich meinem lieben Freund hier," er führte tatsächlich und zu Valjean nicht geringem Amüsement, dessen Hand an die Lippen, „die beste Taverne von Paris zeigen, und Sie benehmen sich derart ungastlich."
Mit wachsendem Unglauben hatte Louis die Geste verfolgt. „Wen wollen Sie denn diesmal einsperren, daß Sie zu einer solchen Nummer greifen?"
Valjean gelang es nicht, ein Lachen zu unterdrücken.
„Hören Sie, Inspecteur, Ihre Anwesenheit hier ist nicht gerade gut fürs Geschäft," sprach Louis weiter. „Die Polizei im Haus verscheucht mir die Gäste."
„Ich persönlich würde vermuten, daß die Gäste über die Anwesenheit der Polizei ganz froh sind, wenn hier ein Irrer herumschleicht und Gästen die Brust aufschlitzt."
„Sie sind wegen der Morde hier? Die Polizei zeigt tatsächlich Interesse daran?"
„Wenn mir auffällt, daß alle Opfer hier gewesen sind, beim Verlassen der Taverne zuletzt gesehen wurden, und am Abend darauf tot aufgefunden werden, interessiert mich das durchaus."
„Gleich werden Sie behaupten, ich brächte meine Gäste selbst um."
„Das wäre dann wirklich schlecht fürs Geschäft."
Valjean hatte sich das Geplänkel angehört. Er wußte, eigentlich war er nur aus Gründen der Glaubwürdigkeit mitgekommen, trotzdem konnte er sich schwer zurückhalten. „Kannten Sie die Toten?"
„Ja, sicher, sie waren häufig hier."
„Irgendjemand, der sich besonders für sie interessiert hätte?"
„Sie meinen, außer Ihnen? Nein, sie waren hier, um Gesellschaft zu suchen, manchmal fanden sie welche, manchmal nicht."
„Und an den Abenden, wo sie zuletzt hier waren, hatten sie da Gesellschaft?" fragte Javert.
„Keine Ahnung, Inspecteur, Teil des Erfolges meines kleinen Unternehmens ist, daß ich nicht so genau hinsehe, wer hier mit wem anbändelt." Louis wandte sich an Valjean. „Haben Sie wirklich nichts Besseres gefunden als den da?"
„Nein," sagte Valjean ganz schlicht. „Wissen Sie vielleicht, ob irgendwer an allen Abenden hier war, bevor die Männer starben?"
„Charles war hier, wie immer. Außer heute, wie mir gerade auffällt. Komisch, sonst ist er jeden Abend hier."
„Das gefällt mir nicht," murmelte Javert düster. „Wissen Sie, wo dieser Charles wohnt?"
„In irgendeiner kleinen Straße Richtung Fluß."
„Komm," Javert zog Valjean auf die Füße.
„Das ist das erste Mal, daß ich aus einer Taverne verschwinde, bevor ich etwas getrunken habe," beschwerte sich dieser, „natürlich abgesehen von Abenden, an denen ich vor dir flüchten mußte."
„Mein Instinkt sagt mir, daß dieser Charles entweder unser Mörder oder aber das nächste Opfer sein könnte," erklärte Javert. „Wie sieht er aus?"
Louis gab eine kurze Beschreibung seines Stammgastes, und schon war Javert nach draußen gestürmt. „Gott, bin ich froh, daß er nicht mehr mich jagt," kommentierte Valjean und folgte ihm. „Wo willst du suchen?" fragte er, als er Javert eingeholt hatte.
„Wir werden sehen, ob hier sich irgendetwas Auffälliges auf dem Weg zur Seine findet, dann gehen wir dem nach, ansonsten werde ich Lucien sagen, daß er nach diesem Charles fahnden muß," antwortete Javert, wobei es fast eher wirkte, als spräche er mit sich selbst. „Was mich irritiert, ist die Sache, daß die Männer eines Abends nach dem Besuch des ‚Coq noir' verschwinden und erst am nächsten Tat tot wieder aufgefunden werden. Was macht er während der Nacht mit ihnen, und wo macht er das?"
„Du meinst, er hat irgendwo einen Unterschlupf, wohin er sie bringt?" mutmaßte Valjean, was Javert kurz durcheinander brachte, denn er war so gewöhnt, allein zu ermitteln, daß er gar nicht mit einer Antwort gerechnet hatte. „Der muß dann in der Nähe der Fundorte sein. Niemand kann doch einen erwachsenen Körper so weit tragen."
„Anwesende ausgeschlossen," bemerkte Javert mit einem kurzen Seitenblick trocken. „Die andere Möglichkeit wäre, daß er einen Wagen hat."
In diesem Moment war in einiger Entfernung der spitze Entsetzensschrei einer Frau zu hören. Der Ton war noch nicht verklungen, da hatte sich Javert schon in Bewegung gesetzt und spurtete in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Valjean folgte ihm ein wenig langsamer. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, bei der er die Jahre, die zwischen ihnen lagen, deutlich spürte. Er gelangte schließlich in eine kleine Gasse, an deren Ecke eine ältere Frau zitternd lehnte. In der Gasse beugte sich Javert über einen leblosen Körper und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. „Der ist schon ein paar Stunden tot. Haben Sie irgend jemanden gesehen, Madame?"
Die alte Frau schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht einmal, ob ich ihn gesehen hätte, wenn ich nicht da drauf getreten wäre." Schaudernd deutete sie auf ein blutiges Etwas am Boden.
Valjean konnte ein Würgen nicht unterdrücken. Das am Boden liegende sah sehr nach einem menschlichen Organ aus. Trotzdem ging er langsam auf Javert zu und warf einen Blick auf den grausam zugerichtete Leichnam. Der Mann, bei dem es sich der Beschreibung nach, die Louis gegeben hatte, um Charles handeln mußte, war vom Bauch bis zur Kehle aufgeschlitzt worden. „Es ist kaum Blut dort, viel weniger als damals," schoß es Valjean durch den Kopf, während er sich im nächsten Moment fragte, woher dieser Gedanke gekommen war. Und dann wußte er es. „Ich habe das schon einmal gesehen," sagte er stockend.
„Was?" Javert drehte sich entgeistert um.
„Ich habe schon einmal eine Leiche gesehen, die genau so zugerichtet war," wiederholte Valjean.
„Wann? Wo?"
„In einem der Gefängnisse, wo ich war. Es war nicht auf einem der Schiffe, und es war ganz sicher nicht in Montreuil."
„Denk nach, ich werde inzwischen die Polizei rufen." Javert griff in die Tasche und zog die Signalpfeife hervor, die er nach seinem Abschied behalten hatte. Der Ton gellte ohrenbetäubend schrill durch die Nacht.
„Es muß in Toulon gewesen sein," sagte Valjean.
„Ich würde mich doch an einen solchen Fall erinnern."
„Vor allem wäre bei dir der Täter ganz sicher nicht entkommen."
„Dein Vertrauen in meine Fähigkeiten ehrt dich."
„Es muß dann also gewesen sein, bevor du nach Toulon kamst," überlegte Valjean laut.
„Dann blieben ja nur zehn Jahren, in denen das gewesen sein kann."
„Etwas weniger, denn ich war schon eine Weile dort. Aber ich kann mich nicht erinnern, es war ein Tag wie der andere..."
Javert seufzte. „Es wird wohl nichts anderes übrig bleiben, als daß ich Lucien um die Akten aus Toulon ab 1796 bittet."
„Es muß kein Sträfling gewesen sein, das weißt du hoffentlich. Es kann genausogut einer der Aufseher gewesen sein."
„Natürlich weiß ich das. Und jetzt verschwinde. Wir sehen uns zuhause."
„Du willst, daß ich gehe?"
„Valjean, wir haben hier eine Leiche, die Ähnlichkeiten zu einer Leiche aufweist aus einer Zeit, als du in Toulon warst." Javert griff nach seinem Arm. „Ich will nicht, daß jemand auf die Idee kommt, daß es der Ex-Sträfling war."
Valjean nickte wortlos und wandte sich um. Er ging heim und wartete dort im Salon, bis Javert zurückkam, ohne ein Licht anzuzünden. Da war sie wieder, die Vergangenheit, zurück in ihrem Leben.
„Ich war vorhin ein wenig harsch," sagte Javert, als er den dunklen Salon betrat und einen Moment benötigte, um festzustellen, wo im Dunkel Valjean sich befand. „Das wollte ich nicht."
„Du hast recht gehabt." Valjean streckte die Hand aus und deutete auf den Platz neben sich.
Javert setzte sich und tastete nach Valjeans Hand. „Trotzdem, ich hätte nicht mit dem Ex-Sträfling anfangen sollen."
„Welchen Zweck hätte es zu verdrängen, was wir waren? Wir sind hier, und wir sind zusammen. Unter anderem ist das der Fall, weil ich ein Sträfling war und du ein Polizist." Valjean drückte die Hand fester. „Übrigens fand ich es sehr schön, als du vorhin meine Hand nahmst."
„Du weißt, daß das nur an einem solchen Ort geht."
„Wir könnten gelegentlich, wenn all dies vorbei ist, wieder dort hingehen."
„Ganz sicher nicht." Javert drückte Valjean in die Polster.
„Fandest du es so unangenehm?"
„Ich fand es unangenehm, daß Louis, diese kleine Ratte, dir lüsterne Blicke zugeworfen hat."
„Ist mir nicht aufgefallen."
„Lügner," sagte Javert sanft und küßte Valjean.
XXX
Lucien brauchte zwei Tage, um die Unterlagen zu besorgen und zusammenzustellen. Dann erschien er am Abend in einer Droschke der Polizei und brachte dazu noch Violetta und Pierre mit. „Wir werden jede Hilfe brauchen, die wir bekommen können," erklärte Lucien die Anwesenheit seiner Frau. „Da sind tausend Namen durchzugehen, wenn nicht mehr. Pierre konnten wir schlecht allein zuhause lassen."
„Ich glaube nicht, daß ich mich an so viele Mitgefangene erinnern kann," seufzte Valjean. „Das war vor fünfunddreißig Jahren."
„Sie sind der einzige Hinweis, den wir haben." Lucien versuchte, seine Vorbehalte zu unterdrücken.
„Dann werde ich als erstes einmal eine Kanne sehr starken Kaffees kochen," meinte Violetta praktisch. „Das wird ja vermutlich die ganze Nacht dauern."
„Du kannst Pierre im Schlafzimmer ins Bett bringen," bot Valjean an.
„Ich will eine Geschichte," krähte der Junge. „Ich will ‚der Drache und der Zauberer'."
„Ich habe keine Ahnung, wovon er spricht," behauptete Javert scheinheilig.
„Du wirst doch wohl einen kleinen Jungen nicht enttäuschen wollen?" fragte Valjean mahnend.
„Was um Gottes Willen finde ich an diesem Heiligen?" murmelte Javert und brachte Pierre ins Bett, wo er ihm die gewünschte Geschichte erzählte, unterbrochen durch Pierres Beschwerden, wenn ein Detail nicht richtig war.
Im Salon versuchten sich Valjean und Lucien auf ein System zu einigen. Sie beschlossen schließlich, die Listen durchzugehen, um zunächst alle auszuschließen, die nicht in Fragen kamen. Als Javert in den Salon zurückkehrte, hörte er den Dialog zwischen Lucien und Valjean.
„Francois Vartan, Nr. 22079."
„Kenne ich nicht."
„Paul Avanches, Nr. 22080."
„Der hing eine Weile mit mir an einer Kette. Der war damals weit über Fünfzig. Wenn er überhaupt noch lebt, ist er Mitte Neunzig."
Als nächstes folgte eine lange Liste von Namen und Nummern, bei denen Valjean nur noch den Kopf schüttelte.
„Maurice Lasalle, Nr. 24599."
„Ist tot. Brach zusammen, während wir Steine schleppten."
„René Berté, Nr. 24600."
Valjean lachte. „Ich weiß nicht, ob der verrückt oder blöde war. Der hat permanent gelacht. Ich habe immer erwartet, daß ihn jemand den Hals umdreht, aber es ist nichts passiert, solange ich da war."
„Das hat jemand dann getan, kurz nachdem du entlassen wurdest," bemerkte Javert. „Der Täter war Nummer 27165. Er wurde hingerichtet. Den können Sie also auch gleich streichen. Mein erster Fall übrigens."
„Ich sagte doch, daß du unseren Mörder erwischt hättest, wärst du schon in Toulon gewesen." Valjean lächelte Javert liebevoll an, was Lucien verlegen zur Seite schauen und zum nächsten Namen auf der Liste gehen ließ.
„Jean Valjean, Nr. 24601."
„Jetzt gehen Sie zu weit, Lucien," warnte Javert.
„Oh, entschuldigen Sie." Lucien begann, hektisch in den Akten zu suchen. „Joseph Clery, Nr. 24602."
„Die Prinzessin." Valjean verdrehte die Augen.
„Die Prinzessin?"
„Der wahre Herrscher von Toulon. Ein kleines, schlankes Kerlchen, hübscher Junge. Er hatte ein Talent dafür, sich immer einen der Anführer zu suchen und durch diesen über die Baracken zu herrschen. Und wenn dessen Stern im Sinken war, hängte sich die Prinzessin an den nächsten. Irgendwann war er allerdings nicht mehr so nett anzusehen. Er war ein vor der Zeit gealterter Mann, als man ihn entließ."
„Victor Mangot, Nr. 24602."
„Keine angenehme Erinnerung. Er wollte nicht akzeptieren, daß ich ‚nein." gesagt hatte, als er jemanden suchte, der ihm seine Pritsche wärmt. Ich weiß nicht, ob er danach jemals wieder feste Nahrung zu sich nehmen konnte."
Es fiel Javert schwer, sich vorzustellen, wie Valjean jemandem die Zähne einschlug; andererseits wußte er aus eigener schmerzhafter Erfahrung aus Montreuil, daß Valjean fest zuschlagen konnte.
Violetta hatte begonnen, diejenigen Namen aufzulisten, die Valjean unbekannt erschienen und auf einer zweiten Listen diejenigen, die ihm etwas sagten und über deren weiteres Schicksal ihm nichts bekannt war nach ihrer oder seiner Entlassung.
Es folgten jetzt zahllose Namen, zu denen Valjean nur zu sagen vermochte, daß sie tot waren. Was für ein Glück er gehabt hatte, Toulon zu überleben, wurde ihm erst jetzt bewußt.
„Jules Benoit, Nr. 26103," sagte Lucien, inzwischen weit weniger munter.
„Dem gelang die Flucht. Zu meiner Zeit wurde er nicht zurück gebracht. Später vielleicht?"
Javert schüttelte stumm den Kopf. Er hätte sich erinnert an einen zurückgebrachten Flüchtling, so wie er sich immer an die beiden Male erinnert hatte, als Valjean zurückgebracht wurde.
„Daniel Delmarc, Nr. 26104."
„Zusammen mit Benoit geflohen und nie wieder aufgetaucht. Ich glaube, die waren zu dritt. Edmond... Mir fällt nicht ein, wie er hieß."
„Edmond Palmiac, Nr. 26107?" fragte Lucien.
„Ja, der war das. Auch nie wieder gesehen."
Es war weit nach Mitternacht, als Lucien den letzten Namen nannte. „Robert Bertolini, Nr. 28361."
„Hatte tolle Verbindungen, konnte so gut wie alles reinschmuggeln." Valjean klang todmüde. Es war nicht damit getan, sich an Namen, Nummern und dazu gehörige Gesichter zu erinnern, diese Erinnerungen brachten gleichzeitig auch die Erinnerungen an die ganzen schrecklichen neunzehn Jahre dort hervor.
„Ich denke, um die Aufseher kümmern wir uns morgen früh," sagte Javert. „Es wird uns nicht weiter bringen, wenn unsere Erinnerung einschläft."
Fast dankbar begann Lucien, die Unterlagen zusammenzusuchen, während Violetta Pierre holte.
Valjean winkte nur müde zum Abschied, während Javert die Gäste nach draußen begleitete. Als er zurückkam, war Valjean in seinem Sessel fest eingeschlafen. „Willst du nicht lieber im Bett schlafen?" fragte Javert leise, doch Valjean wachte nicht auf. „Na, denn, wieder einmal." Javert hob Valjean aus dem Sessel und trug ihn ins Schlafzimmer, wobei ein Lächeln seine Lippen umspielte, da ihn die Situation so sehr an jenem Morgen erinnerte, als sie von der Seine in Marius' Zimmer zurückgekehrt waren.
