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Die drei Fragezeichen Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews hatten Sommerferien. Endlich war es wieder einmal soweit. Keine Schule, keine Hausaufgaben und zur Abwechslung auch mal keine Tante Matilda, die sie auf dem Schrottplatz Titus Jonas herumscheuchen konnte, denn sie war heute und morgen zu Besuch bei ihrer Schwester Amy in Oxnard. Also hatten Justus, Peter und Bob die Gelegenheit genutzt und waren mit ihren Rädern an den Strand gefahren. Sie waren zwar alle stolze Besitzer von Führerscheinen und der dazugehörigen Autos, doch heute hatten sie sich fürs Fahrrad entschieden.

Sie verbrachten also den ganzen Tag am Strand von Rocky Beach, der jedoch nicht nur die sprichwörtlichen Steine, sondern auch einen wunderbaren, weißen Sandstrand zu bieten hatte. Die Sonne schien vom Himmel und in Jimmys Strandbar gab es die besten Pommes Frites der ganzen Stadt [Chicken Crown], von denen sie mittags einen immensen Berg verschlangen, was nicht zuletzt auch Justus' Verdienst war. Am späten Nachmittag packten sie erschöpft ihre Sachen zusammen, nachdem sie ein anstrengendes Beachvolleyballmatch gegen ihre Klassenkameraden George, Gavin und Paul, die sie zufällig getroffen hatten, knapp verloren hatten. Müde radelten sie mit Sack und Pack heimwärts. Peter beschwerte sich immer noch, dass sie das Match hätten gewinnen können, wenn Justus bloß nicht so viele Pommes zu Mittag verspeist hätte, denn dadurch sei er vorhin so träge geworden. Justus widersprach ihm entrüstet und wies ihn spitz darauf hin, dass es schließlich Peter gewesen sei, der den letzten Punkt vergeben hatte. Peter zog es vor, darauf nicht näher einzugehen, und eine Antwort blieb ihm zu seinem Glück auch erspart, da Bob in diesem Moment bemerkte:

„Haltet mal kurz an, Jungs. Ich glaube, ich hab einen Platten."

Sie hielten und schoben ihre Räder auf den fast leeren Parkplatz einer Firma namens „Flowercult", an der sie gerade vorbeikamen (der gerade am Weg lag). Bob stieg ab und untersuchte seinen Hinterreifen.

„Tatsächlich, völlig platt!" erklärte er verärgert. „Ich muss am Strand über einen Nagel oder eine Scherbe gefahren sein, seht mal hier, selbst die Außenhülle ist kaputt!"

Justus und Peter hatten ihre Räder abgestellt und machten ratlose Gesichter.

„Was tun wir denn jetzt?" fragte Peter. „Das können wir so schnell nicht reparieren. Du musst dein Rad wohl bis nach Hause schieben. Oder den Bus nehmen."

„Mist, Mist, Mist", schimpfte Bob. „Warum muss das ausgerechnet jetzt noch passieren? Nun ist der schöne Tag völlig im Eimer."

„Falls es dich beruhigt", meinte Justus. „Wir werden dich natürlich nicht alleine dein Rad durch die Gegend schieben lassen. Wir schieben auch. Zumindest bis zu mir nach Hause. Da kannst du dein Rad reparieren. Wir haben bestimmt Ersatzteile für dein Rad auf Lager." Und er machte Anstalten, seine Ankündigung in die Tat umzusetzen. Auch Peter griff schicksalsergeben nach seinem Lenker, um den restlichen Heimweg zu Fuß zurückzulegen.

In diesem Augenblick hörten sie vom anderen Ende des Parkplatzes eine Frau schreien.

„Hilfe! Ist hier denn keiner? Ich werde überfallen!"

Die drei Fragezeichen blickten alarmiert zum Parkplatz hinüber, wo sich eine junge Frau tapfer gegen zwei Angreifer zur Wehr setzte, doch natürlich war sie diesen körperlich unterlegen. Die drei Detektive ließen ihre Fahrräder fallen und rannten auf das Grüppchen zu.

„Heee!" schrie Peter. „Lassen Sie die Frau in Ruhe!"

Die Männer schauten sich kurz nach den drei Jungen um und stießen dann die Frau in den Van, der mit geöffneter Tür neben ihnen stand. Rasch kletterten sie hinterher und einer der Männer lehnte sich noch einmal aus dem Wagen, um nach etwas am Boden zu greifen. Doch als die drei Detektive heranstürmten, fluchte er und schlug schnell die Tür zu. Offenbar saß noch ein Dritter im Wagen, denn das Fahrzeug schoss sofort mit aufheulendem Motor los, auf die Straße zu.

„Halt, stop!" brüllte Bob, während Justus fieberhaft versuchte, das Kennzeichen zu entziffern, doch es war mit Dreck unkenntlich gemacht worden. Sie rannten dem Auto noch ein Stück weit hinterher, aber sie wussten, dass es nichts nützte. Also kehrten sie zum Parkplatz zurück, zu der Stelle, an der die Entführung geschehen war.

Justus kramte dabei sein Handy aus der Hosentasche und wählte den Notruf.

„Mein Name ist Justus Jonas, ich möchte einen Überfall melden. Es sieht so aus, als ob hier gerade eine junge Frau entführt wurde. Ich stehe auf dem Gelände der Flowercult Company, Roosevelt Avenue… 2387", las er am Gebäude der Firma ab. „Ja, verstehe. Ja, ich und zwei meiner Freunde wurden Zeuge der Entführung. Alles klar, wir warten hier."

Er legte auf.

„Sie schicken gleich jemanden her", sagte er an Peter und Bob gewandt, die, noch immer fassungslos, die Hände in die Hüften gestemmt hatten.

„Das kann doch wohl nicht wahr sein", stöhnte Bob. „Mitten in Rocky Beach, eine Entführung? Und wir sind auch noch mittendrin!"

„Habt ihr eigentlich jemanden von denen erkennen können?" fragte Peter als sie ihre Fahrräder vom Bürgersteig auflasen und damit wieder zum Tatort zurückkehrten.

„Nein", meinte Justus enttäuscht. „Der eine war ziemlich groß und athletisch, der andere mittelgroß, aber auch kräftig. Ihre Gesichter konnte ich nicht erkennen, da sie die Kapuzen ihrer Pullover aufgesetzt hatten."

„Ja, aber die Frau konnte man sehen", ergänzte Peter. „sie hatte blonde Locken und trug einen blauen Blazer zum Rock. Sah irgendwie nach Bürokleidung aus."

„Hey, Leute, was liegt denn da vorn?" unterbrach Bob und deutete auf etwas Braunes, das an der Stelle des Überfalls lag und aussah wie eine Tasche. Die drei liefen hin. Es war tatsächlich eine Tasche, eine Damenhandtasche aus Leder.

„Die gehört dem Opfer", stellte Justus fest. „Wir dürfen sie auf keinen Fall anfassen, es könnten Spuren oder Fingerabdrücke der Täter daran sein."

„Wann kommt denn endlich die Polizei!" rief Peter ärgerlich. „In der Zwischenzeit sind die Entführer längst über alle Berge."

„Das sowieso", sagte Justus. „Trotzdem finde ich auch, dass sie sich für einen derartigen Notfall sehr viel Zeit lassen."

Doch in diesem Moment erklang in der Ferne ein Martinshorn und Sekunden später standen gleich zwei Streifenwagen auf dem Parkplatz der Firma Flowercult, der nach wie vor verlassen dalag, mit Ausnahme der drei Detektive und einem einzelnen Fahrzeug. Dem ersten Wagen entstiegen zwei Streifenbeamte und dem zweiten ein weiterer Beamter und –

„Inspektor Cotta", rief Justus überrascht. „Das nenne ich einen Zufall."

„Justus Jonas", sagte Inspektor Cotta irritiert. „Was machst du denn hier? Und Bob und Peter sind auch da. Jetzt sagt mir bloß nicht, dass der Notruf von euch kam!"

„In der Tat, Inspektor", begann Justus. „Wir wurden soeben Zeugen der Entführung einer jungen Frau, hier auf dem Parkplatz."

Cotta sah ungläubig drein und Justus erläuterte daraufhin den Beamten, wie sich alles ereignet hatte.

„…und dann hörten wir auch schon die Sirenen Ihrer Streifenwagen", beendete Justus seinen Bericht. „Von Flowercult hat sich allerdings bisher niemand hier blicken lassen, obwohl ihnen der Lärm hier eigentlich nicht entgangen sein kann."

„Nun, es ist weit nach fünf Uhr", meinte Inspektor Cotta. „Um diese Zeit sind die Büros bereits geschlossen. Wahrscheinlich ist kein Mensch mehr im ganzen Gebäude."

„Aber warum war die Dame dann hier auf dem Parkplatz, wenn sie nicht von Flowercult kam?" fragte Justus erstaunt den Inspektor. „Das wäre zumindest meine erste Vermutung gewesen."

„Möglich ist das, aber vielleicht hat sie auch einfach nur auf jemanden gewartet. Es kann tausend Erklärungen geben", winkte der Inspektor ab.

„Aber Sir, man muss doch abwägen, wie wahrscheinlich die einzelnen Möglichkeiten sind. Und zu diesem Zeitpunkt scheint mir die logischste Erklärung die zu sein, dass die Dame bei Flowercult arbeitet. Vielleicht sollten Sie sich erkundigen, ob ihre Beschreibung auf eine Mitarbeiterin dieser Firma zutrifft…"

„Justus, willst du mir etwa sagen, wie ich meinen Job zu tun habe?" fragte Inspektor Cotta stirnrunzelnd.

„Keineswegs, Sir", antwortete Justus hastig und errötete, während Peter und Bob sich offensichtlich das Lachen verkneifen mussten.

„Andererseits hast du nicht ganz unrecht", setzte Cotta nun etwas freundlicher hinzu. „Wir werden uns mal bei Flowercult umhören. Vielleicht war sie gerade auf dem Weg zu ihrem Wagen, als sie überfallen wurde. Es ist jedenfalls merkwürdig, dass nur ein einziges Auto auf diesem Parkplatz steht. Vielleicht gehört es tatsächlich ihr. Entschuldigt mich kurz."

Er ging zum Streifenwagen, um über Funk den Halter des Wagens zu ermitteln. Währenddessen sahen die drei Fragezeichen bei der Spurensicherung zu. Die Beamten trugen Plastikhandschuhe, um potentielle Spuren nicht zu verwischen. Als sie die Tasche aufhoben und ihren Inhalt untersuchten, fanden sie das Portemonnaie der Besitzerin. Einer der Polizisten klappte es auf und rief dann Inspektor Cotta zu:

„Inspektor! Wir haben hier den Führerschein einer Frau. Ihr Name ist Cynthia Summers."

Inspektor Cotta stieg aus dem Wagen und kam nickend auf die drei Detektive zu.

„Cynthia Summers. Das ist auch der Name der Halterin des roten Toyotas dort drüben. Es sieht so aus, als hättest du recht gehabt, Justus Jonas."

Justus gab sich Mühe, nicht allzu geschmeichelt auszusehen.

„Sergeant, geben Sie mir bitte mal den Führerschein? Danke sehr. So, ihr drei, seht euch das Foto mal genau an. Ist das die Frau?"

Justus, Bob und Peter nickten beinahe synchron.

„Zweifellos", murmelte Bob. „Wir waren zwar ein Stück weit weg, aber ich erkenne sie trotzdem, vor allem an der Frisur."

„Gut, das wär's dann", meinte Cotta abschließend. „Eure Aussagen haben wir ja bereits und eure Adressen sowieso. Wir werden sofort die Fahndung einleiten und nach dem Van suchen. Den konntet ihr ja zum Glück beschreiben, auch wenn das Nummernschild hilfreicher gewesen wäre."

„Da war leider nichts zu machen, Sir", sagte Justus bedauernd.

„Inspektor Cotta, hier ist noch etwas, das Sie sich mal ansehen sollten", hörten sie den Sergeant sagen. „Ein Zettel."

Cotta streifte sich einen Handschuh über und fasste damit vorsichtig das Papier an, welches der Beamte ihm reichte. Die drei Fragezeichen scharten sich neugierig um ihn.

„Hm, das ist ja seltsam. ‚Watson, ich habe alles erledigt. Du kannst mich finden, aber nicht in der Baker Street. Bis bald.' Darüber sind einige Telefonnummern und darunter lauter Strichmännchen gekritzelt. Ich frage mich, ob sie den Zettel wegen des Textes oder wegen der Nummern gebraucht hat."

„Das klingt wirklich sehr merkwürdig", sagte Justus nachdenklich. „Es sieht aus wie ein Schmierblatt, das jemand zum Notieren von Telefonnummern benutzt hat, daher auch die Kritzeleien. Also geht es vielleicht eher um diesen reichlich kryptischen Text."

„Ja, aber wie soll uns das denn weiterhelfen? Dafür ist der Satz doch viel zu kurz", zweifelte Peter.

„Jungs, ich glaube, ihr vergesst etwas Entscheidendes", unterbrach Cotta die Detektive.

„Und was ist das, Inspektor?" fragte Justus interessiert.

„Dies hier ist eine polizeiliche Ermittlung in einem Entführungsfall. Eigentlich dürftet ihr dieses Papier noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Da ich euch kenne, bin ich da etwas nachsichtiger. Aber nun ist es genug. Es geht um ein sehr schweres Delikt. Entführung ist kein Kindergeburtstag und ich muss darauf bestehen, dass ihr euch ab sofort aus dem Fall heraushaltet. Ich werde euch natürlich informieren, sobald wir die Täter gefasst haben, das ist ganz klar, aber ansonsten ist der Fall für euch vorbei. Sind wir uns da einig?"

Und Cotta musterte die drei scharf, während er auf ihre Antwort wartete. Widerwillig und unter Protest gaben sie ihre Zustimmung. Cotta nickte zufrieden und erlaubte ihnen, nach Hause zu fahren. Das heißt, ihre Räder nach Hause zu schieben, denn schließlich war Bobs Reifen noch immer platt. Als sie um die nächste Ecke verschwunden waren, machte Justus seinem Ärger Luft.

„Entführung ist kein Kindergeburtstag? Das ist ja wohl der Gipfel! Als wären wir eine Bande von Kindern! Was denkt sich Cotta nur! Ich finde das völlig unter der Gürtellinie und außerdem höchst beleidigend."

„Reg dich ab, Erster", versuchte Peter ihn zu beruhigen. „Hast du wirklich geglaubt, Cotta würde uns bei diesem Fall mitmischen lassen?"

„'Da ich euch kenne'… Kein bisschen kennt der uns", zürnte Justus weiter.

„Das war in der Tat nicht besonders feinfühlig von ihm", stimmte Bob zu. „Aber andererseits – wo sollen wir denn ansetzen? Die Entführer sind weg und vom Opfer kennen wir nur den Namen. Bei Flowercult können wir uns heute auch nicht mehr erkundigen, weil da schon die gesamte Belegschaft Feierabend hat."

„Das nicht", erwiderte Justus, etwas besänftigt von der Zustimmung seitens seiner Kollegen. „Aber da wäre immer noch dieser rätselhafte Zettel. Was meint ihr denn, wollen wir den Fall überhaupt übernehmen?"

„Haben wir denn eine Wahl?" seufzte Peter mit gespielter Verzweiflung und Bob grinste nur verschmitzt.

„Dann ist es also offiziell", sagte Justus zufrieden. „Die drei Fragezeichen haben einen neuen Fall! Da vorne ist auch schon der Schrottplatz, äh, ich meine, der Gebrauchtwarencenter", berichtigte er sich selbst eilig. „Kommt mit in die Zentrale, da können wir eine erste Lagebesprechung abhalten."