Der erste Teil meiner Reihe rund um den Nebel. Ich wünsche euch viel Spaß beim Lesen und vergesst nicht, mir eine Review da zu lassen!
Coverart von Adina Barth
Der Nebel
Meg rannte. Keuchend wich sie einem Baum aus und duckte sich unter einem seiner Äste hindurch. Dann schlug sie einen Haken. Scharf nach links. Allerdings blieb sie der Richtung nicht treu und änderte bereits nach wenigen Schritten wieder ihren Kurs. Weiter nach vorne ging es. Ihr Herz raste, aber nicht nur aus natürlichen Gründen. Es war ein Zeichen, eine Warnung für die Gefangenen des Albtraums, die Spielbälle des Entitus. Lauf, hieß es. Und Meg tat wie geheißen. Sie rannte.
Ein Blick über die Schulter bestätigte ihre Hoffnung. Der Hinterwälder hatte sie verloren. Energisch und rücksichtslos suchte er zwischen den Blättern und Büschen, mit seinem großen Hammer wild die Äste beiseite schlagend. Wie ein wildes Tier zeigte er keinerlei Anzeichen von Erschöpfung, der ausbleibende Erfolg schien ihn geradezu zu bestärken, ja in wütende Raserei zu versetzten. Würde er sich gerade in diesem Augenblick umdrehen, so hätte er vielleicht noch eine Chance Megs Ferse dabei zu entdecken, wie sie hinter einem Felsen verschwand. Doch er tat es nicht.
Keuchend lehnte sich Meg gegen den kalten Stein und rutschte an der moosbehangenen Fläche nach unten. Ihr Herz schlug nach wie vor in einem unangenehm hohen Rhythmus und die Flüchtende schnappte hastig nach Luft. Zuerst legte sie ihren Kopf in den Nacken, Augen geschlossen. Dann ließ sie ihn nach vorne auf die angewinkelten Knie fallen, die Arme um die Beine geschlungen. Während ihr ganzer Körper vom Adrenalin zitterte, spürte Meg, wie sich langsam Tränen zwischen ihren Lidern bildeten. Während der Verfolgungsjagd schien ihr Verstand ausgesetzt zu haben, entkommen war zur obersten und einzigen Priorität geworden. Nun, da Meg der unmittelbaren Gefahr entwischt war, brachen all die Gefühle, all die Ängste und Sorgen wie eiskalter Platzregen über sie herein. Ihr Schrecken vor der Bestie wurde nur von ihrer Panik vor den eisernen Haken des Entitus übertroffen. Als abscheuliche Folterwerkzeuge waren sie im gesamten Gebiet verteilt worden. Errichtet einzig und allein zu dem Zweck den Überlebenden Schmerzen zuzufügen. Meg hatte bereits mehrmals den Biss der Haken am eigenen Leib erfahren. Es war ein Schmerz so unvorstellbar, dass man ihn im Augenblick des Leids gar nicht wahrhaben wollte. Der Schock ließ kurz auf sich warten und erst nachdem man einige Momente lang auf den aus der eigenen Brust hervorbrechenden Metallspieß gestarrt hatte, setzte auch der Schmerz mit voller Wucht ein. Manchmal hatte Meg laut und panisch geschrien, doch im Großteil der Fälle hatte sich ihr Mund sofort mit Blut gefüllt und ihr Schrei war in erstickendes Würgen umgewandelt worden. Jedes Mal hatte sie nach wenigen Momenten das Bewusstsein verloren.
Dies war der wahre Zweck der Jagd. Dafür waren die Killer hier. Um Menschen an Haken zu hängen, auf denen sie dann dem Entitus geopfert wurden. Der Entitus war der wahre Grund, warum sich Meg vor den Haken fürchtete. Wurde man geopfert, so wurde man geholt. Der Entitus ernährte sich von der Hoffnung der Geopferten, saugte sie aus ihnen heraus. Es war weit mehr als nur physischer Schmerz. Der Entitus folterte den Verstand, er verstümmelte und vergewaltigte die Seele. Nur um das Opfer nach einer gefühlten Ewigkeit wieder am Lagerfeuer abzulegen. Äußerlich unversehrt, innerlich verwüstet. Bereit für die nächste Jagd.
Meg versuchte verzweifelt ihre Tränen zurück zu kämpfen. Dafür war jetzt keine Zeit. Ihre Freunde brauchten sie. Die Generatoren mussten repariert werden, sofern sie nicht alle an den Haken enden sollten. Doch Meg hatte Angst, so furchtbare Angst. Seit sie in dieser perversen Realität gestrandet war, war die Angst ihr ständiger Begleiter gewesen, hatte an ihr genagt und gezehrt. Meg wollte stark sein, doch eine einzelne Träne rann einsam ihre Wange nach unten. Dann eine zweite und schließlich eine dritte.
Meg erinnerte sich an ihren Sportlehrer aus der Schule. Jason Matthews. Er war beim Militär gewesen und genauso hart und unerbittlich wie die Armee, waren auch seine Methoden. Doch sie waren genau das gewesen, was Meg gebraucht hatte.
„Du bist eine Maschine, Thomas!", hatte er sie angebrüllt: „Eine Maschine gemacht um zu laufen! Also beweg dich."
Meg wusste nicht warum, doch dieser Mann hatte das beste in ihr zum Vorschein gebracht. Unter seiner Führung war sie zur Athletin geworden. Sie war erfolgreich gewesen, hatte der Schule Pokale geholt. Das harte Training hatte sich bezahlt gemacht. Es hatte nicht nur ihren Körper, sondern auch ihren Willen gestählt.
Meg öffnete die Augen. Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Mutter. Vanessa Thomas. Sie war jedes Mal so stolz auf sie gewesen. Nicht ein Rennen hatte die alleinerziehende Frau verpasst, nicht eines. Stets hatte sie Meg von der Tribüne aus zugelächelt, sie mit erhobenen Händen lauthals angefeuert. Erst als ihre Krankheit so schlimm geworden war, dass sie es rein gesundheitlich nicht mehr hatte schaffen konnte zu erscheinen, war sie den Sportveranstaltungen ferngeblieben. Dies war auch die Zeit gewesen, in der Meg ihre Universitätspläne über den Haufen geworfen hatte. Ihre Mutter hatte sich so liebevoll und unermüdlich um sie gekümmert, Meg hätte es sich nie verzeihen können, sie damals alleine zu lassen. Und so war sie geblieben, hatte sich einen schlecht bezahlten Job gesucht und sich um ihre kranke Mutter gekümmert. Vanessa war stark geblieben, hatte gegen die Krankheit angekämpft.
Und genauso musste auch sie jetzt stark bleiben, kämpfen und nach vorne blicken. Meg stand mit einem Ruck auf. Die Tränen auf ihrer Wange waren getrocknet. Ein leichtes Zittern bebte durch ihre Glieder, doch Meg hatte sich unter Kontrolle. Ihre Beine standen fest und sicher. Ein langgezogener Schrei hallte durch die kühle Nacht, gefolgt vom Kreischen einer Kettensäge.
Claudette!
Es war Megs einziger Gedanke. Mit einem entschlossenen Atemzug löste sie sich vom Felsen und lief los in Richtung der Geräusche. Sie versuchte ihr Tempo niedrig zu halten, Eile sollte ihr nicht zum Verhängnis werden. Meg musste Kraft sparen.
Ihr Herzschlag erhöhte sich mit einem Mal und stampfende Schritte näherten sich von links. Meg duckte sich und verschwand hinter einem Baum. Der ungleichmäßige Laufrhythmus verriet den Hinterwäldler. Krachend brach er durchs Unterholz, unermüdlich voranpreschend. In seiner rechten Hand hielt er den großen Hammer, brutal und grausam. Der metallene Kopf blitze im Mondschein. Seine Linke hatte der Hinterwälder nach oben gehoben um etwas auf seiner Schulter festzuhalten. Mit Schrecken erkannte Meg einen leblosen Körper, als der Killer nur wenige Meter an ihr vorbeimarschierte. Blut rann den Rücken der Bestie nach unten, ausgehend von Claudettes bewegungsloser Gestalt. Hätte sie es nicht besser gewusst, hätte Meg ihre Freundin bereits für tot erklärt. Doch die Killer töteten nicht. Sie opferten. Megs Blick folgte dem Hinterwälder und blieb an einer heruntergekommenen Holzhütte hängen, in der der Bucklige mitsamt Claudette verschwand. Meg verzog verzweifelt das Gesicht. Der Keller.
Nach kurzer Zeit kam das Monster wieder zum Vorschein und rannte unermüdlich in die Nacht hinaus. Meg wollte gerade auf die alte Holzhütte zu schleichen, als in der Ferne ein Licht aufleuchtete und eine langgezogene Sirene ertönte. Die Ausgänge waren mit Energie versorgt. Dwight und Jake hatten den letzten Generator repariert. Es blieb Hoffnung. Der Killer drehte sich um, ließ ein zorniges Knurren hören und hinkte nun in die Gegenrichtung dem Licht entgegen. Fast hätte er Meg dabei entdeckt. Aber nur fast.
Als sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte, erlaubte sich Meg tief durchzuatmen. Sie hatte die Luft angehalten, seitdem sie schnell hinter einen Busch gesprungen war. Aber nun war der Weg frei. Energischen Schrittes lief sie in die alte Holzhütte. Ein kurzes Umschauen. Links von ihr führte eine Treppe in die Tiefe. Claudette, ich komme, dachte Meg und stürzte auf die Stufen zu. Halt durch. Lass ihn dich nicht holen. Sei stark. Halt durch.
Megs Beine begannen zu Zittern, Angst um Claudette trieb sie immer schneller voran. Beinahe wäre sie gestürzt. Sie bog um eine Ecke und gelangte in den großen, rechteckigen Raum. Vier Haken befanden sich genau in der Mitte, einer für jeden. Am vordersten hing bereits…
„Claudette", keuchte Meg, fast schon schluchzend.
Claudette hob leicht den Kopf, ihr Blick von Tränen und Schmerz getrübt. Sie hatte Meg gehört, doch sie konnte sie nicht sehen. Zwei Hände griffen sie kraftvoll an den Hüften und übermittelten einen schnellen Ruck. Glühende Finger rissen an ihrer Schulter und Blut brach auf ihre Bluse hervor. Dann trafen ihre Füße auf Boden, doch ihre Beine waren zu schwach um sie zu tragen.
Meg ließ Claudette so behutsam es ging zu Boden sinken. „Halt durch", flüsterte sie kaum vernehmbar. Ihr Blick fiel auf die klaffende Wunde in Claudettes Schulter. Der Stoff rundherum war dunkel und schwer von Blut. Arznei war vonnöten. Claudette würde nicht überleben, sollte die Blutung nicht gestoppt werden. Meg schaute sich verzweifelt um. Eine Kiste befand sich in der hintersten Ecke des Raumes. Eilig stürzte sie auf den Behälter zu und riss den Deckel auf. Ihre Hände fuhren sofort ins dunkle Innere der Truhe und griffen nach einem Gegenstand. Ein entschlossener Zug brachte ein Erste-Hilfe-Set zum Vorschein. Hoffnung keimte in Meg auf, als sie den Verschluss des Kästchens öffnete. Mit wackeligen Beinen schlich sie zurück zu Claudette, kniete sich hin und legte den Kopf der Verwundeten in ihren Schoß.
„Meg?" fragte Claudette schwach, jedoch lauter als ihr Meg zugetraut hätte. Es war ein gutes Zeichen. „Hey", flüsterte sie beruhigend zurück: „Ich hab dich. Halt still."
Eilig suchte sie nach den nötigen Utensilien um einen Verband anzulegen. In Sekunden hatte sie sie gefunden. Claudette stöhnte und verzog das Gesicht unter Qualen als Meg an die Arbeit ging. „Wir müssen hier weg", keuchte Claudette qualvoll und Tränen rannen über ihre dunkle Haut. „Sofort", antwortete Meg: „Die Jungs haben den letzten Generator repariert und… Claudette?"
Die Verletzte war ohnmächtig geworden. Das weise Verbandszeug war vom Blut rot gefärbt. Meg fluchte und die Hoffnung verschwand so schnell wie sie gekommen war. Ihr Herzschlag erhöhte sich als ein schwerer Fuß die Treppe erbeben ließ.
Angst ergriff Megs Herz und drückte es zusammen. Aller Atem entwich aus ihren Lungen und erfolglos versuchte sie nach Luft zu schnappen. Wie zu Stein erstarrt verharrte ihr Blick auf der Treppe, die nach oben führte. Schwere Schritte kamen nach unten. Unregelmäßig und brutal, ganz so wie man es von der Bestie kannte. Die Kettensäge ersschien zuerst in Megs Blickfeld, dann ein verkrüppelter Arm, ein abnormal hässliches Gesicht und ein verunstalteter Körper. Der Hinterwälder schob sich langsam um die Ecke und sein gnadenloser Blick blieb auf den beiden unschuldigen Mädchen kleben. Seinen Opfern. Seinen Gaben für den Entitus. Für die Überlebenden gab es keinen Ausweg. Die einzige Route führte über die Treppen und die waren vom Killer versperrt. Der Keller war zu einer Todesfalle geworden und er raubte den Mädchen die letzte Hoffnung.
„Bitte", flüsterte Meg, als der Hinterwäldler einen Schritt auf sie zu machte. Die Kreatur blieb stehen und das formlose Gesicht schaute Meg gefühlslos an. „Bitte", schrie Meg nun mit aller Kraft und schlang schützen ihre vor Angst schlotternden Arme um die bewusstlose Claudette. „Bitte", flehte sie und beugte sich über den Körper ihrer Freundin, bevor sie in Tränen ausbrauch, unfähig weitere Laute von sich zu geben. Von aller Hoffnung verlassen blieb sie am Boden zusammengekrümmt. Die Panik hatte ihr die Kontrolle über ihren Körper entrissen und ihr jede Fähigkeit zum Widerstand genommen. Meg konnte sich kaum rühren. Claudette war ihr einziger Anker und sie hielt ihn mit aller Kraft umklammert. Dabei überhörte sie das Krachen, das durch die Welt ging, der Hinterwälder jedoch vernahm es. Er hob seinen Kopf und schaute zu Decke. Der Griff um seinen Hammer lockerte sich und die Kettensäge fiel zu Boden. Meg bemerkte es nicht.
Ein weiteres Krachen erschütterte den Wald. Der Hinterwälder brüllte, als wäre er von einem glühenden Eisen gebrandmarkt worden. Wütend krallte er sich seine Kettensäge und erweckte sie mit einem grausamen Ruck zu kreischendem Leben. Dann wandte er sich den beiden Mädchen zu.
„Was war das?", fragte Dwight, den Blick zum dunkeln Himmel gerichtet. Dann schaute er zu Jake. Dieser zuckte nur mit den Schultern.
„Ich hoffe es geht ihnen gut", murmelte Dwight und setzte seinen Weg durch den Wald fort. „Wir haben sie zurückgelassen."
„Wir mussten", erwiderte Jake grimmig. Es gefiel ihm so wenig wie seinem Kameraden, doch der Hinterwälder war nur durch das Tor zu stoppen. Der Entitus ließ ihn nicht durch. Schweigend gingen die beiden weiter. Nach kurzer Zeit kam ein Leuchten zwischen den Bäumen zum Vorschein. Das Lagerfeuer. Wortlos steuerten die beiden auf ihr Ziel zu. David erblickte sie als erster, da er vom Baumstamm aus, auf dem er saß, direkt in ihre Richtung schaute. Ace und Nea folgten seinem Blick. Feng, die offenbar nervös am Lagerfeuer auf und ab marschiert war, lief ihnen sogar entgegen. „Dwight, Jake, ich bin so froh euch zu sehen", rief die junge Asiatin mit ihrem hohen Stimmchen. Jake antwortete nicht und ließ sich stattdessen müde auf einen Baumstamm fallen. Schweigend senkte er den Kopf.
„Harte Jagd?", fragte David. Dwight nickte nur, während er an Feng vorbeiging und sich ebenfalls auf einen Baumstamm fallen ließ. Mit vor Erschöpfung zitternder Hand rückte er sich die Brille zurecht. Er wagte es nicht den anderen in die Augen zu schauen. Sie waren ohne die Mädchen zurückgekommen. Dwight wusste, dass sie keine andere Wahl, dass sie keine Chance gehabt hatte. Er fühlte sich dennoch schuldig.
„Wo sind Meg und Claudette?", wollte Feng wissen.
Nea und David tauschten einen wissenden Blick aus. Ace blickte ins Feuer, Dwight zu Boden. Schließlich antwortete Jake: „Wir wissen es nicht. Die Tore waren offen, wir mussten gehen. Der Hinterwälder war direkt hinter uns."
Besorgnis breitete sich auf Fengs Gesicht aus. Es war grausame Routine, Leute im Nebel zurückzulassen. Die Überlebenden halfen sich so gut es ging, doch in vielen Situation war ein Rettungsversuch aussichtslos oder der Killer zwang einen zum Verlassen der Arena. Allerdings erleichterte diese Tatsache niemals die Schuldgefühle. Dwight stützte den Kopf auf die Hände, den Blick nach wie vor stumm auf denselben Fleck Erde gerichtet. Feng bemerkte dies und setzte sich sofort neben ihn, eine Hand behutsam an seinem Arm.
„Ich bin sicher, sie haben´s geschafft", versuchte sie tröstende Worte an Dwight zu richten. Dieser nickte nur. „Ich kenne niemanden, der so schnell laufen kann wie Meg", sprach Feng weiter. Nea und David tauschten einen weiteren Blick aus. Sie wussten, dass mit jeder verstrichenen Sekunde die Chance auf ein Überleben ihrer Freunde unwahrscheinlicher wurde. Ace kratzte sich derweil am Bart und löste schließlich den Blick vom Feuer. Er sah zu Jake. Der schüttelte verneinend den Kopf, woraufhin Ace wieder in die Flammen starrte. Meg und Claudette waren nicht entkommen. Sie alle wussten es.
David ging langsam nach unten zum See. Es war kein weiter Weg. Gerade mal zwei Minuten vom Lagerfeuer aus und schon befand man sich an einem idyllisch anmutenden Ufer unter einem dunklen Nachthimmel. Der Mond goss sein silbernes Licht über die Landschaft und spiegelte sich leicht verzerrt in den Wellen des ruhigen Wassers wieder. Die Blätter der Bäume blieben still, es ging kein Wind. Nur das leichte plätschern des Sees war zu hören.
David verharrte einen Moment und schaute über die Wasseroberfläche. Dann bückte er sich und zog seine Stiefel aus. Zuerst den rechten, dann den linken. Der See war ganz offensichtlich für die Überlebenden gemacht worden. Einerseits diente er ihnen als Trinkwasserquelle, andererseits als Badewanne um sich den Schweiß von ihren ausgezehrten Leibern zu waschen. Davids Hemd folgte und legte einen beeindruckenden, männlichen Oberkörper frei. Starke Muskeln zeichneten sich unter der Haut ab, der große Brustkorb hob und senkte sich unter kraftvollen Atemzügen.
Er hatte niemandem gesagt, dass er zum See gehen würde. Warum auch? Am Lagerfeuer würde er nicht vermisst werden. Die Überlebenden wanderten häufig allein in den Wald hinaus und entflohen der bedrückenden Stimmung rund um die Flammen. Der Wald war ihr Psychotherapeut. Er lauschte ihren Sorgen, half ihnen einen klaren Kopf zu behalten. Und niemand würde jemals verloren gehen. Egal wie weit und in welche Richtung man marschierte, man würde immer wieder am Lagerfeuer herauskommen. So hatte der Entitus es eingerichtet. Niemand ging verloren. Niemand entkam.
David öffnete sein Gürtel. Ohne Eile zog er die Beine aus seiner Hose und warf die Kleidungsstücke achtlos in die Wiese. Dann setzte er gemütlich einen Fuß vor den andern. Nach wenigen Schritten erreichte er das Wasser. Es war angenehm kühl. Nicht kalt. Jeder weitere Schritt senkte in tiefer unter die Oberfläche. Als das Wasser seinen Brustkorb erreicht hatte, beugte David sich nach vorne und tauchte schwungvoll in den See hinein. Er ließ seine Arme und Beine arbeiten, schob sich kraftvoll durch das Wasser. Sein Atem ging immer schneller bis seine Lungen brannten. Doch er hörte nicht auf. Es war ein Genuss sich zu verausgaben, ohne den kalten Atem des Todes im Nacken zu spüren. Jeder Zug half ihm zu vergessen. Die aussichtlose Situation in der sie waren. Das Leben, das ihm genommen worden war. Nicht dass es ein Großartiges gewesen war. David war sich insgeheim schon lange sicher gewesen, die falschen Entscheidungen getroffen zu haben. Er war immer schon aggressiv und unbedacht gewesen und mehr als einmal hatte er dafür bezahlt. Aber was waren schon diese alltäglichen Probleme aus seinem früheren Leben? Der Entitus war eine ganz andere Sache. Ein Gegner, den er nicht fassen, dem er keine Faust ins Gesicht rammen konnte. Vielleicht waren die Überlebenden bis ans Ende ihrer Tage hier gefangen. Vielleicht länger. Es war hoffnungslos.
Davids Glieder brannten unter der Anstrengung und keuchend hielt er inne. Sich körperlich zu betätigen war immer schon seine Methode gewesen, mit den Ereignissen zurecht zu kommen. Seinen eigenen Körper zu spüren lenkte ihn ab. Doch es löste keine Probleme.
„Beeindruckend", vernahm David eine Stimme und sein Kopf schnellte nach rechts. Dort in der Nähe des Ufers entdeckte er Nea. Sie war ebenfalls nackt, nur bis zur Hüfte unter Wasser. Die blau gefärbten Haare klebten an ihrem Kopf und ihre kleinen Brüste glitzerten nass im Mondlicht. Das Schilf hatte sie vorhin verborgen und David war geradewegs an ihr vorbei ins Wasser marschiert. Es störte ihn nicht.
Wortlos watete er auf sie zu, mit seinem breiten Brustkorb durch das Wasser pflügend. Nea saß an einer seichten Stell des Sees, den Rücken gegen das Ufer gelehnt. Er setzte sich neben sie, die Schwedin bei weitem überragend. Stumm folgte David ihrem auf den Mond gerichteten Blick. „Er hat sich nie bewegt", sagte sie nach einem kurzen Moment der Stille. „Ich habe ihn beobachtet. Schon ab dem ersten Tag. Und Sterne lassen sich auch keine Blicken."
David sagte nichts. Das Reich des Entitus befand sich nicht auf der Erde oder sonst irgendeinem Planeten. Sie waren nicht mehr in ihrer Welt. Realität war hier nichts weiter als eine Illusion. Beliebig festgelegt durch den Entitus. Aber Nea wusste das bereits. Sie wusste auch, dass Meg und Claudette in eben diesem Moment der gierigen Tortur des Entitus unterzogen wurden. Spätestens nachdem sie auch nach einer Stunde nicht am Lagerfeuer aufgetaucht waren, war ihr Schicksal allen klar gewesen. Nun, eine weitere Stunde später, saßen Nea und David schweigend im Wasser nebeneinander. „Dwight hat die letzte Jagd stark mitgenommen", sprach Nea schließlich das Thema an. David sah zu ihr hinunter.
„Dieser Ort ist dazu gemacht, uns die Hoffnung zu nehmen", antwortete er. Nea nickte. „Ich weiß, aber es hilft nichts sich Gedanken über Geschehnisse zu machen, auf die man keinen Einfluss hat."
David blickte nun auf den See hinaus. „Nicht jeder ist so stark wie du, Nea", sagte er. Dann sah er wieder zu der Schwedin. Eine einsame Träne hatte sich auf ihrer Wange gebildet. Im silbernen Mondlicht glänzend rann sie langsam nach unten und tropfte schließlich ins Wasser des Sees. Ungesehen und ungehört.
Dwight, Nea, Claudette, Feng, ja sogar Meg und Jake hatte David bereits aus Verzweiflung oder Angst Tränen vergießen sehen. Doch niemals Nea. Die tapfere Schwedin war stets ein Fels in der Brandung gewesen, scheinbar gleichgültig gegenüber all den Qualen und dem psychischen Druck.
„Ich vermisse meine Eltern, David", sagte sie leise. David seufzte. Wenn es eine Sache gab, für die er absolut gar kein Talent hatte, dann waren es Worte. Schon gar nicht tröstende.
„Glaubst du sie vermissen mich auch?", fragte Nea: „Glaubst du sie suchen nach mir?"
„Aber natürlich tun sie das", versicherte ihr David.
„Ich weiß nicht", entgegnete Nea. „Sie haben immer schon gedacht, dass ich eines Tages einfach abhauen würde. Mit irgendeinem Skater. Wahrscheinlich glauben sie, dass genau das passiert ist. Warum sollten sie also nach mir suchen?"
„Ist das dein Ernst?", fragte David: „Sie sind deine Eltern. Sie sorgen sich gerade zu Tode, glaub mir." David wusste nicht ob seine Worte die richtigen waren. Nea sah zu ihm auf. Nach einem kurzen Moment schüttelte sie den Kopf und vergrub das Gesicht in den Händen. Dann atmete sie einmal schnell ein und aus.
„Bringt doch nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen", sagte sie, nun wieder ganz die Alte. Alle Gefühle waren wieder hinter einer Fassade aus Desinteresse verborgen. David antwortete nicht. „Gehen wir zurück zum Lagerfeuer", beschloss Nea schließlich und stand auf. David folgte ihr wortlos. Schweigend zogen sie sich am Ufer an und machten sich anschließend auf den Rückweg.
Ace stocherte mit einem Stock im Lagerfeuer herum. Sein Blick war in die Glut gerichtet, nur selten hob er sich zu einem der anderen Überlebenden, die am Feuer versammelt waren. Dwight hatte sich etwas abseits schlafen gelegt, ganz offensichtlich von Schuldgefühlen geplagt. Feng saß gegenüber von Ace auf der anderen Seite des Feuers. Die junge Asiatin hatte versucht Dwight zu trösten. Ohne Erfolg. Viel eher hatte seine Stimmung auf sie abgefärbt und nun saß sie dort auf dem Baumstamm mit bedrückte Miene und sorgenvollem Blick. Jake hatte sich in die Wälder geschlichen. Es war sein Weg mit allem fertig zu werden. David und Nea waren ebenfalls nirgendwo zu sehen und Ace wusste auch nicht, wo sie sich aufhielten. Es interessierte ihn auch nicht. Die beiden verstanden sich gut, brummig und wortkarg wie sie beide waren. Ace wollte bei nichts dazwischenfunken.
Claudette und Meg fehlten ebenfalls, doch Ace wusste genau wo die sich befanden. Er seufzte, was Feng kurz dazu veranlasst, aufzublicken. Claudette war eine der freundlichsten und einfühlsamsten Personen, die Ace jemals kennengelernt hatte. Und er hatte in seinem bisherigen Leben eine Menge Leute kennengelernt.
Ja, größtenteils Mafiosi und andere zwielichtige Gestalten, schlich sich ein Gedanke durch seinen Kopf. Ace nickte unmerklich. Auch wieder wahr. Trotzdem, er war sich sicher, dass Claudette die letzte war, die ein Schicksal wie dieses verdient hatte. Oder Feng, das arme Ding. Ace wusste nichts Genaues, doch offenbar war die Beziehung zwischen ihr und ihren Eltern eisig gewesen, bevor der Entitus sie entführt hatte.
Auch Dwight hatte in seinem Leben sicherlich noch keiner Fliege was zu Leide getan. Es war einfach nicht seine Art. Ace konnte es akzeptieren, wenn ein alter Schwindler wie er selbst, oder ein bezahlter Schläger wie David in die Hölle verbannt wurden. Aber doch nicht so jemand unschuldiges wie Claudette.
Schrittgeräusche rissen ihn aus seinen Gedanken. Nea und David kehrten zurück. An ihren nassen Haaren konnte Ace leicht erkennen, wo sie sich aufgehalten hatten. David setzte sich brummig auf einen Baumstamm, Nea gleich daneben. Sie waren beide so verschlossen wie immer. Ein kaum wahrnehmbares Grinsen stahl sich über Aces Lippen. Er kannte Typen wie David und Nea. Sie spielten gerne die Harten und Gefühlslosen, die Draufgänger und Gleichgültigen. In Wirklichkeit lag hinter diesen Fassaden das reinste Chaos an Gefühlen. Sie waren ja schließlich Menschen wie alle anderen hier auch.
„Was zur Hölle? Nein!", rief Dwight erschrocken und riss damit alle aus ihren Gedanken. Feng stand auf und versuchte zu erkennen, was den Jungen so schockiert hatte. Nach einem Moment zeichnete sich auf ihrem Gesicht Schrecken ab, wenige Sekunden später auch bei allen anderen. Ein schwarzer Nebel schob sich zwischen den Bäumen hindurch. Dick und unnatürlich glitt er dahin und umzingelte das Lagerfeuer. Der Anblick war den Überlebenden nur zu bekannt. Es war der Nebel des Entitus, der vier von ihnen in eine Jagd ziehen würde. Doch eigentlich war es dafür viel zu früh. Bisher hatten die Überlebenden zwischen den Jagden mindestens einen Tag Zeit bekommen um Kraft zu tanken. Jake stürzte nun auch hinter einem Baum hervor, den gleichen Schrecken im Gesicht wie alle anderen. Im nächsten Moment hatte der Nebel bereits die Überlebenden umschlungen und ihnen jegliche Sicht genommen. Schon wenige Sekunden später war der ganze Spuk vorbei. Das Lagerfeuer tauchte vor Ace auf. Direkt auf der anderen Seite war Feng, die sich verzweifelt umschaute. David, Dwight, Nea und Jake waren verschwunden. Dafür lagen nun Meg und Claudette zusammengekrümmt auf dem staubigen Waldboden neben den Flammen.
Jake öffnete seine Augen. Er hoffte vor sich das Lagerfeuer zu entdecken, doch seine Ohren hatten ihm bereits die Wahrheit verraten. Keine knisternden Flammen lagen vor ihm, nur ein endloses Kornfeld durchdrungen von einem unausstehlichen Gestank nach verrottenden Kadavern. Jake hätte sich am liebsten gebückt, Steine aufgehoben und sie vor Wut wild in das dreimal verfluchte Kornfeld geworfen. Doch er wusste es besser. Es galt nun keine Aufmerksamkeit zu erregen. Ein Killer war losgeschickt worden, mit einem klaren Auftrag: finden, fangen und opfern.
Jake ging los. Er hatte bereits eine der Antennen erspäht, die hochaufragend den Standort eines Generators verrieten. Fünf waren nötig um die Ausgangstore mit Energie zu versorgen. Einen hatte er bereits gefunden. Mit kontrollierten Atemzügen versuchte Jake sich zu beruhigen, als er zwischen den Kornpflanzen hindurchschlich. Das Feld bot gute Fluchtmöglichkeiten, vor allem da es ein leichtes war, Sichtlinien zu unterbrechen. Wiederholtes Hakenschlagen und weiträumiges umgehen hatten hier bereits mehr als einmal seinen Kragen gerettet. Wirklich Deckung gab es allerdings keine. Jake musste vorsichtig sein.
Sein Weg führte an einem Baum vorbei, der mitten im Feld stand. An ihm hingegen die Kadaver zahlreicher Nutztiere, allen voran Kühe, die eine Kettensäge von oben bis unten aufgeschlitzt hatte. Mit dicken Stricken waren sie an den Ästen der alten Eiche angebunden worden, ihre Körper komplett leergeblutet. Der Baum war eine der Hauptquellen des Gestankes und Jake hielt sich hustend eine Hand vor den Mund. Der Generator war nur mehr wenige Schritte entfernt. Einen Vorteil brachte der unsägliche Geruch natürlich: Er überdeckte den der lebenden Beute.
Jake erreichte nun den ersten Generator und kniete sich vor die Maschine auf den Boden. Mit der rechten Hand schob er eines der Rohre zur Seite, das nur lose an der Konstruktion zu hängen schien. Ein Blick ins Innere verriet ihm alles, was er wissen musste. Jake sah sich um. Die benötigten Ersatzteile waren immer in der Nähe zu finden. So hatte es der Entitus eingerichtet. Dort drüben lag eine Handvoll Schrauben, an der Mauer erspähte er eine halb aufgebrauchte Kabelrolle und im Kornfeld befand sich…
„Gott, Dwight, schleich dich nicht so an mich an", zischte Jake mit achtsam gedämpfter Stimme.
„Sorry", gab Dwight nur kleinlaut zurück und kniete sich sofort neben Jake. Zu zwei würden sie den Generator sehr viel schneller funktionsbereit haben. Jake griff sich einige der Schrauben und begann das lose Rohr zu fixieren.
„Killer schon gesehen?", murmelte Jake. Dwight schüttelte den Kopf. „Nein, aber die Krankenschwester kann´s nicht sein. Die hätten wir schon gehört. Ebenso wenig der Hinterwäldler. Vielleicht der Fallensteller?" Jake arbeitete schweigend vor sich hin. Dwight redete viel zu viel, wenn er nervös war. Jake hingegen wurde nur noch stiller als er sonst schon war.
„Hoffentlich ist es nicht der Geist. Ich hasse den Geist." „Dwight, pass auf!", rief Jake, doch es war zu spät. Krachend explodierte der Generator und Funken stoben in alle Richtungen. Dwight und Jake rissen beide schützend die Hände vors Gesicht. Dann kehrte wieder Stille ein.
„Fuck, sorry", flüsterte Dwight, merklich mit den Nerven am Ende. Jake warf ihm einen beschuldigenden Blick zu, woraufhin Dwight verlegen zu Boden starrte. „Worauf wartest du, weg hier!", zischte Jake und gab Dwight einen unsanften Stoß. Noch im selben Moment fiel ihnen ein Lied in die Ohren. Die beiden Jungen tauschten einen Blick aus. Die Jägerin!
„Schnell, schnell", drängte Jake und hoffte, dass die Killerin sie noch nicht entdeckt hatte. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm zwei lange Hasenohren, die über das Feld hinausragend durch das Korn wanderten. Leise fluchend schlich Jake auf den großen Baum mit den Tieren zu. Den vor Angst geschüttelten Dwight zog er dabei mit sich. Nun setzte auch ein unangenehmer Herzschlag ein.
Die Jägerin strebte derweil auf den Generator zu. In der Hand hielt sie eine große Axt, das Metall bereits besudelt von früheren Jagden. Doch das Blut war alt und vertrocknet. Dieses Mal hatte sie noch keinen erwischt. Sorgfältig um sich spähend marschierte die Jägerin um den Generator herum. Sie konnte niemanden entdecken. Dann wandte sich ihre Aufmerksamkeit der Maschine zu. Kurz legte die große Frau den Kopf schief und starrte den Generator nur an, fast so als würde sie ihn fragen, wo sich den ihre Beute versteckt hatte. Dann schrie die Jägerin frustriert auf und rammte einen Fuß gegen die Konstruktion. Wieder stoben Funken umher.
Jake, der sie die ganze Zeit über beobachtet hatte, biss sich auf die Unterlippe. Sie waren den Ausgangstoren um kein Stück nähergekommen. Dwight saß derweil neben ihm, die Hände auf den Mund gepresst um ja keinen Laut zu erzeugen. Die Jägerin machte sich wieder singend davon. Doch plötzlich hielt sie inne. Eigentlich gab es in der Nähe ja nur ein vernünftiges Versteck. Kehrtmachend strebte sie nun energisch auf den Baum zu, ihre Axt zum Morden bereit.
„Lauf", rief Jake.
Feng eilte um das Lagerfeuer herum und kniete sich neben Meg und Claudette auf den Boden. Die beiden atmeten schwer und hielten die Augen geschlossen. Ihre Körper waren wie unter Schmerzen verkrampft. Feng tauschte einen Blick mit Ace aus. Es war ungewöhnlich, dass Opfer des Entitus so schnell wieder am Lagerfeuer auftauchten. Aber was kümmerte es ihn? Das einzige Wichtige war die Rückkehr der beiden Mädchen.
„Meg?" flüsterte Feng und berührte die Athletin sanft am Arm. Meg schrie auf und Feng zuckte zurück. Panisch öffnete die am Boden liegende die Augen und schaute sich um. Zuerst erblickte sie Feng, dann Ace und schließlich das Lagerfeuer und Claudette. Ihr Körper entspannte sich und sie schloss die Augen, während sie in leises Schluchzen ausbrach. Feng konnte es ihr nicht verübeln. Besorgt ließ sie den Blick über ihre Freundinnen gleiten und suchte nach Verletzungen. Sie konnte keine finden. Zum Glück hatte sich in dieser Hinsicht nichts geändert.
Claudette versuchte nun sich aufzurappeln und brach unter Husten und Tränen wieder zusammen. Ace hielt die Botanikerin fest, sodass sie nicht auf den Boden zurückfiel. Behutsam bugsierte er sie zu einem der Baumstämme und reichte ihr eine der Glasflaschen, in die die Überlebenden das Wasser des Sees gefüllt hatten. Die Flaschen hatten sie aus den Arenen mitgenommen, von einem Ort der allem Anschein nach Autohaven heißen sollte. Dankend griff Claudette nach der Flasche und stürzte das Wasser nach unten. Beinahe hätte sie sich verschluckt. Dann schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. „Mir ist kalt", flüsterte sie mit zitternder Stimme und Ace griff sofort nach einer Decke, ebenfalls ein Mitbringsel aus den Jagden.
„Keine Sorge, das vergeht. Komm hier zum Lagerfeuer", tröstete Ace und warf die Decke um Claudettes schlotternde Figur. Dann bemerkte er, dass es wirklich kalt geworden war. Sein Atem erzeugte kleine Nebelwolken und die Temperatur war merklich abgefallen. Das war noch nie passiert. Meg hatte sich mit Fengs Hilfe mittlerweile auch auf einen der Baumstämme gesetzt. Sie war sichtlich am Ende ihrer psychischen Kräfte und starrte nur verloren ins Lagerfeuer. Doch auch sie bemerkte die plötzliche Kälte und wechselte einen Blick mit der Asiatin. Dann schauten alle vier aufs Lagerfeuer, als die Flammen mit einem Mal zu flackern begannen, fast als wollten sie in Kürze erlöschen.
„Verdammt, was passiert hier?", fragte Ace ins Leere und suchte nach Brennmaterial. „Ich habe keine Ahnung" antwortete Feng, bevor sie einen leisen Schreckensschrei von sich gab. Grund war der schwarze Nebel, der zurückgekehrt war und sich wieder bedrohlich auf die Überlebenden zuschob.
„Was? Nein! Das ist zu früh", protestierte Ace entgeistert, doch bereits im nächsten Moment hatte ihn der Nebel verschluckt. Feng spürte Todesängste in sich aufkeimen. Es waren nur vier Überlebende am Lagerfeuer und der Entitus rief zu einer weiteren Jagd.
Der dunkle Nebel zog sich zurück und Meg spürte Waldboden unter den Fingern. Das Macmillan Estate.
„Nein", dachte sie: „Nein, nein, nein! Warum ich? Warum schon wieder?" Ihr gesamter Körper zitterte und Panik drohte sie zu überwältigen. Angst entriss ihr die Kontrolle über ihre Glieder und Meg konnte nichts weiter tun, als hockenzubleiben. Zitternd und nach Luft schnappend verharrte sie im Gras zwischen den Bäumen, die Augen geschlossen und ihr Gesicht zu Boden gerichtet. Sie musste mit ihrer Angst fertig werden. Es half nichts, hier sitzen zu bleiben. Es half einfach nichts. Los jetzt.
Unbeholfen erhob sie sich und beinahe wäre ihr schwarz vor Augen geworden. Ihr Stand war unsicher und noch immer wollten ihre Beine ihr nicht recht gehorchen. Doch sie zwang sich. Sie zwang sich dazu, loszuziehen und zwischen den Bäumen nach einem Generator zu suchen. Sie musste es versuchen. Der Entitus durfte sie nicht in die Finger kriegen. Nicht schon wieder.
Plötzlich erbebte die Arena und ein dumpfes Krachen erschütterte den Boden. Meg wäre hingefallen, hätte sie sich nicht an einem Ast festgehalten. Ihrer Angst taten die seltsamen Phänomene natürlich keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Megs Herz schlug schneller und schneller. Ihr Atem ging immer abgehakter und sie zitterte immer stärker. Wieder drohte sie, die Kontrolle zu verlieren.
Meg lehnte sich gegen den Baum und versuchte die Tränen zurück zu kämpfen. Sie musste stark sein. Sie musste einfach. Erst nach einer Weile wurde sie auf ihren wilden Herzschlag aufmerksam. Panisch riss sie den Kopf nach oben und spähte zwischen die Bäume. Adrenalin strömte in ihren Körper und es kalter Schauer lief ihr den Rücken runter.
Meg und die Krankenschwester entdeckten sich im selben Moment. Beide hielten kurz inne. Dann sprintete Meg los. Ihre Angst hatte in Verzweiflung gegipfelt. Sie musst einfach nur noch weg. Fliehen. Davonlaufen. Weg von der Killerin. Meg achtete nicht auf den Pfad, den sie nahm. Sie musst einfach nur weg. So weit wie möglich. Einer Wurzel wich sie gerade noch aus. Ein Ast traf sie schmerzhaft im Gesicht. Egal, einfach nur weg. Das Kreischen der Krankenschwester näherte sich bedrohlich und Meg lief noch schneller, noch panischer. Sie plante keine Fluchtroute mehr, sah sich nicht nach verstecken um. Einfach nur weg. Eine Unebenheit im Boden bracht Meg aus dem Gleichgewicht und fast wäre sie gestürzt. Sie fing sich, nur um von der nächsten Hürde, einer hervorstehenden Wurzel, endgültig zu Fall gebracht zu werden. Hart schlug sie auf den Boden auf, wo kleine Steinchen die Haut über ihren Knien und Handballen aufrissen.
Siegessicher kreischte die Krankenschwester erneut und tauchte in Sekundenschnelle über ihrer Beute auf. Die Knochensäge hatte sie hoch erhoben, bereit sie niedersausen zu lassen. Meg drehte sich auf den Rücken und versucht die linke Hand schützend nach oben zu halten. Strampelnd versuchte sie davonzukriechen, dem sicheren Tod zu entrinnen. Sie war blind vor Panik.
Ein weiteres Krachen ging durch die Arena und die Krankenschwester hielt mitten im Streich inne. Sie schaute nach oben zum Himmel, dann nach hinten in die Richtung aus der das Geräusch gekommen zu sein schien. Schließlich wandte sie sich wieder ihrer Beute zu. Die Knochensäge glitt ihr aus den Fingern und fiel klappernd zu Boden. Die eben noch so grausame Killerin ließ die Schultern sinken und schaute zu Boden. Dann ertönte ein weiteres Krachen und mit einem Mal schien die Krankenschwester wieder belebt zu sein. Sie schaute sich wieder kurz um und machte dann eine scheuchende Geste in Richtung Meg. Eilig hob die Killerin ihre Knochensäge vom Boden auf. Dann schaute sie wieder zu Meg und bedeutete ihr erneut, sich davon zu machen. Als das Mädchen immer noch nicht gehorchte, stieß die Krankenschwester ein schrilles Kreischen aus. Das wirkte.
Meg rappelte sich panisch auf, fiel zweimal hin und stürzte durch den Wald davon. Wieder hetzte sie wild wischen den Bäumen hindurch und schaute nicht zurück, ob sie verfolgt wurde. Sie wusste nur, dass sie weg von hier musste. Weit weg. Ein kalter Wind wehte ihr ins Gesicht und ließ sie nach Luft schnappen. Wind? Hier? Egal, einfach weiter! Meg stolperte erneut, doch sie fing sich. Ihr Herz schlug rasend schnell, während ihre Beine zu brennen begannen. Bald würde sie vollkommen erschöpft zusammenbrechen, und wenn das geschah musste sie sich in Sicherheit befinden.
Die Athletin rannte weiter und weiter, bis sie schließlich die Waldgrenze erreichte. Rasend schnell ließ sie die Bäume hinter sich und fand sich in mitten einer Wiese, wo sie zu Boden ging. Auf allen Vieren rang Meg nach Atem, ihre Glieder zitternd vor Erschöpfung. Doch sie hatte keine Zeit, sie musste weiter. Ächzend stand sie erneut auf und schaute sich um, allmählich wieder in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen.
Sie befand sich auf einem grasbewachsenen Hügel. Zu ihrer linken führte ein schmaler Feldweg am Waldrand entlang und über ihr grüßte der Mond und tausende funkelnde Sterne. Doch was Megs Blick fing, waren die hell leuchtenden Lichter der Stadt, die sich zu Fuße des Hügels erstreckte. Autos fuhren als kleine Lichtpunkte die rechteckig angelegten Straßen entlang und unzählige Fenster machten dem Sternenhimmel Konkurrenz. In der Ferne hörte Meg eine Polizeisirene, während ein kalter Windhauch um ihre Beine strich. Irgendwo rief ein Uhu und der frische Geruch in der Luft verriet Meg, dass es erst kürzlich geregnet hatte. Am Horizont kündigte ein heller Schein die bald aufgehende Sonne an.
Sie war zurück.
