Bemerkung vorweg:
Wenn je ein Film dazu einlud, seine Missing Scenes zu beschreiben, dann wohl „Brokeback Mountain". Ich glaube, es wurde selten so ausdrucksvoll geschwiegen, und das hat mich gereizt, ein paar der ungesagten Dinge auszuformulieren - so wie ich sie mir denke.

Es gibt einige Zeitsprünge in dieser Geschichte, daher schadet es nicht, den Film bzw. die Kurzgeschichte zu kennen. Ansonsten gilt natürlich Spoileralarm.

Ich schätze, es hat sich herumgesprochen, dass es in „Brokeback Mountain" um eine homosexuelle Beziehung geht, daher muss ich die Phobiker wohl nicht extra warnen.

Rating M für: Sprache, Andeutungen von Sexualität und Gewalt
(obwohl, nach dem deutschen FSK-System wäre dies, wie der Film, wohl ab 12)

Disclaimer:
Ich erhebe keinerlei Ansprüche auf irgendwelche Rechte. Die liegen bei Annie Proulx, Larry McMurtry und Diana Ossana, Focus Features, Del Mar Productions und wie sie alle heißen...


Was übrig bleibt…

Der Kaffee ist kalt und abgestanden. Ennis Del Mar verzieht das Gesicht und schlürft ihn trotzdem in kleinen Schlucken, nachdem er sich aus seiner Koje geschält hat. Die Sonne steht hoch am Himmel. Mit geschlossenen Augen lässt er den Kopf in den Nacken fallen und lauscht dem vertrauten Knacken von Knochen und Sehnen, als er ihn einmal von Schulter zu Schulter rollen lässt. Vor über eine Woche haben sie ihm gekündigt. Es ist einer von vielen miesen, schlecht bezahlten Saisonjobs gewesen, und er hat ihm, solange er dauerte, ein Dach über dem Kopf und regelmäßige warme Mahlzeiten eingebracht. Jetzt hat Ennis nur noch das Dach, und auch das bloß noch für ein paar Tage, dann werden sie ihn rauswerfen. Das Gas ist schon abgedreht. Einmal am Tag brüht er sich bei den Hansons, dem Ehepaar im Wohnwagen hinter ihm, eine Thermoskanne heißen Kaffee auf, den er dann über den ganzen Tag verteilt trinkt. Wenn er zu kalt geworden ist, raucht er dabei ein oder zwei Zigaretten, um den scheußlichen Geschmack zu übertünchen.

Ein paar Tage, dann wird er wieder aufbrechen. Etwas suchen. Diesmal etwas Ordentliches. Irgendwer muss seine Erfahrung doch zu schätzen wissen, sagt er sich. Aber bis es soweit ist, wird er hier ausharren. Wird dem Klappern des Wellblechdachs von der Baracke nebenan lauschen und sich ganz seinen Gedanken hingeben. Sonst gibt es nichts zu tun für ihn.

Dezember 1964, Lightning Flat, Wyoming


Ennis,
hey, wie geht's dir, alter Mistkerl? Alles klar bei dir? Ich muss dauernd an unsere Arbeit letztes Jahr auf dem Brokeback denken und hab das als Anlass genommen, diesen Brief hier anzufangen.

Weißt du, ich bin wieder bei Aguirre gewesen. Im Juni. Er sagte, er hätte dieses Jahr nichts für mich. Bin verdammt sauer auf den alten Hurenbock! Hat mich um den ganzen Verdienst des Sommers gebracht. Sicher, ich hab ein paar Mäuse mit den Rodeos verdient, aber Schafehüten wäre weitaus gesünder für meine Knochen gewesen, das kannst du mir glauben! Hoffentlich haben die Wölfe so viele von den verdammten Viechern gerissen, dass es Aguirre richtig weh tut! Und den Rest der Herde kann meinetwegen der Blitz erschlagen haben!

Den Winter verbringe ich auf der Ranch meiner Eltern. Hier gibt's immer genug zu tun. Aber sobald es wärmer wird, bin ich hier wieder weg! Ein elendes Scheißkaff ist das. Unten in Texas verdiene ich mein eigenes Geld. Vielleicht komme ich mal in Riverton vorbei. Es liegt fast auf meinem Weg. Wenn das für dich okay ist.

Machs gut, Kumpel.
Jack Twist

Mit einem Seufzer faltet Ennis den Brief wieder zusammen. An den Knickfalten ist das Papier brüchig und löst sich auf wie eine durchgescheuerte Pferdedecke. Vorsichtig schiebt er die einzelne, dünne Seite in den fleckigen Umschlag zurück. Sein Blick fällt auf den ramponierten, blauroten Schuhkarton, dessen Werbeaufschrift kaum mehr zu lesen ist. Nicht alle Briefe haben noch ihre zugehörigen Umschläge, doch sie sind chronologisch sortiert, und Ennis behandelt das strapazierte Papier so sorgsam wie seine beiden Mädchen damals, als sie noch Babies waren. Er muss dringend pinkeln, hat aber keine Lust, sich zu bewegen. Automatisch nimmt er den nächsten Brief.

30. März 1965, Childress, Texas

Ennis,
ich bin nicht gut im Schreiben, aber ich möchte dir so viel sagen! Dabei weiß ich nicht mal, ob du dich an mich erinnerst. Ach, was, Mist, natürlich erinnerst du dich. Ich bin der Typ, der dich vor fast zwei Jahren dauernd mit der Mundharmonika gequält hat, wie könntest du mich vergessen! Du hattest recht. Ich war mies. Ich hab's aufgegeben…

Weißt du, ich hab dir schon einen Brief geschrieben, vor ein paar Monaten, ihn aber nicht abgeschickt. War mir zu blöd. Wie gesagt, Schreiben ist nicht mein Ding. Na ja, ich hab ihn aufgehoben. Vielleicht schicke ich beide zusammen weg. Irgendwann.

Warum schreibe ich überhaupt? Ich sag es ganz direkt, ich muss immer wieder an dich denken. Wieviel Spaß wir da oben hatten. Ich hatte gehofft, wir könnten wieder zusammen den Sommer auf dem Brokeback verbringen, ´nen verdammten Elch schießen, Bier trinken und den Schafen beim Grasen zusehen.

Im letzten Brief habe ich nicht die ganze Wahrheit gesagt, über letzten Juni, als ich wieder unten in Signal war, und das ist der Hauptgrund, warum ich jetzt wieder schreibe. Na ja, ich habe nicht gelogen oder so, Mann, das ist nicht meine Art, nein, aber…

Ach zur Hölle, was soll's. Ich kann es genausogut geradeheraus schreiben: Er wusste es, Ennis, er wusste es! Aguirre, meine ich. Keine Ahnung, ob er uns gesehen hat, oder ob uns einer der Basken oder Mexikaner verpfiffen hat. Er hat wörtlich zu mir gesagt, für solche wie uns hätte er keine Arbeit. Solche wie uns! Hat mich dabei mit seinen Schweinsaugen angesehen, als ob ich Schafscheiße unter seinen Stiefeln sei. Nun… manchmal denke ich, das bin ich…

Ich war so wütend! So verdammt wütend! Und weißt du was, mein Freund? Am liebsten hätte ich dem Schwein seinen eigenen Kugelschreiber ins Auge gerammt, aber eigentlich war ich auf mich wütend. Das hab ich gemerkt, als ich wieder im Truck über die Landstraße schepperte. Hab das Mistding nie richtig reparieren können. Nach ein paar Meilen war es mir klar. Ich war wütend auf mich, weil ich nichts getan habe! Ich Idiot hab bloß den Kopf hängen lassen und geschwiegen. Er hat mich als schuldig verurteilt, und ich habe es akzeptiert. Was hätte ich auch sagen sollen? Ich war ja schuldig. Wir beide waren schuldig, nicht wahr? Aber ich schätze, ich war es ein bisschen mehr als du.

Trotzdem hat es mir nichts ausgemacht, dass Joe Aguirre mich dieses Mal wegschickte. Willst du wissen warum? Weil du nicht da warst. Ja. Ich hatte es gehofft, irgendwie, aber nicht wirklich. Also bin ich weiter nach Texas abgehauen. Da war es nicht nur wärmer, ich konnte auch bei ein paar Rodeos meine Reitkünste zeigen. Ennis, ich wünschte, du könntest dabei sein! Von Mal zu Mal werde ich besser. Okay, meine Handgelenke schmerzen höllisch abends, und einmal hab ich mir die Schulter ausgekugelt, war kein Spaß, aber ich werde besser! Ich hab es bald raus, Mann! Und dann kassiere ich das große Geld!

Ich hoffe, dir ergeht's gut, mein Freund. Wenn alles nach deinen Plänen verlaufen ist, hast du diesen Dezember deine Alma geheiratet. Hast du? Dann bist du jetzt ein ehrbarer Mann, Ennis. Wow. Ganz ehrlich? Ich stelle es mir nur ungern vor, aber ich wünsche dir alles Gute. Pass gut auf dein Mädchen auf! Wenn man jemanden gefunden hat, sollte man ihn festhalten.

Vielleicht komme ich bald in Riverton vorbei.

Grüße aus Texas,
Jack

P.S.: Ist ´n echt langer Brief geworden, was? Hätte nicht gedacht, dass ich so was kann.

Jetzt kann Ennis es nicht länger halten. Er muss raus in die Kälte, wenn er sich nicht die einzig saubere Jeans versauen will. Hinter dem Wohnwagen spuckt er kräftig aus, während er einen langen Strahl auf die vertrocknenden Disteln richtet. Jack, Jack… immer wieder Jack. Jack scheint die einzige Konstante in seinem Leben zu sein. Wenn er nur eher gewusst hätte, was er für ihn empfindet. Nein, sagt er sich, das ist gelogen. Er hat es von Anfang an gewusst, aber die Angst war immer größer gewesen. Er knöpft sich die Hose wieder zu und denkt an ihr letztes Treffen. Zweieinhalb Jahre ist es jetzt her. Mai 1983. Mit kleinen Augen schlurft Ennis in den Wohnwagen zurück, während in seinem Geist blitzlichtartig Momente und Gesprächsfetzen aufflackern. So oft schon hat er diese Tage in Gedanken rekapituliert, und er wird dessen nicht müde. Die Vergangenheit kommt ihm manchmal realer vor als die Gegenwart.

Dieser Trip war anders gewesen, und doch genauso wie alle anderen zuvor. Sie hatten Spaß gehabt an den Quellen des Hail Strew River, waren durch die raue Landschaft geritten, hatten so manches Wild geschossen, denn keiner von ihnen hatte je gelernt, wie man eine Angelrute benutzt. Eine Menge Whiskey war abends am Lagefeuer geflossen und hatte ihre Eingeweide angewärmt, bevor sie gemeinsam das Innere des kleinen Zeltes erhitzten.

Und doch schien die ganze Zeit ein Unwetter am Horizont zu drohen, dunkle Wolken, die, wenn sie erst mal da wären, mit Getöse ihre Fracht aus Unheil und Verderben über ihren Köpfen abladen würden. Je näher das Ende kam, desto schweigsamer wurden sie. Jeder trug ein Geheimnis mit sich herum. Jack offenbarte seins zuerst. Sie luden alles ein, führten zuletzt die Pferde in den Hänger, und Ennis holte schon Luft, als Jack murmelte, er solle mal kurz warten. Ennis' Blick blieb an Jacks Hintern hängen, als dieser in seinem Truck herumkramte. Jack war ein wenig fülliger um die Mitte geworden, seit er die Rodeos aufgegeben hatte, aber er war noch immer bestens in Form. Ennis hatte während der vergangenen Woche jede Gelegenheit gehabt, dies festzustellen. Dann drückte Jack ihm zögerlich und mit abgewandtem Blick einen unscheinbaren, kleinen Karton in die Hand.

„Was ist das?", fragte Ennis.

„Ah, eigentlich nichts."

Ennis erinnert sich an den Moment, als er den Deckel anhob und seine Augen vor Staunen groß wurden. Der Karton war randvoll mit Briefumschlägen, beschriftet und offenbar gefüllt.

„Briefe? Hast du die etwa geschrieben, Jack Twist?"

Jack legte seine Hand schnell auf die von Ennis, um den Deckel zu schließen. Wie bei jeder ihrer Berührungen, war es wie ein knisternder Stromschlag. Er zuckte abwertend mit den Schultern.

„Bloß Zeug, das ich loswerden wollte. Nimm sie. Lies sie. Verbrenn sie, wenn du willst. Ich…ich kann doch nichts mehr damit anfangen."

„Jack, ich…"

„Schon gut, Ennis. Schon gut."

Ennis sagte nichts weiter für den Moment. Da war noch das Geheimnis, das er loswerden musste. Die ganze Woche hatte er es vor sich her geschoben, wohl wissend, dass es Jack nicht gefallen würde. Ennis drückte den Karton an seine Brust, räusperte sich unbehaglich, bevor er stammelnd beichtete, dass aus dem geplanten Treffen im August nichts werden würde, dass er erst im November wieder frei bekäme. Ennis hörte sich selbst Dinge sagen von Färsen, Kälbern, Vorarbeitern und Unterhaltszahlungen, reale Dinge, die trotz notorischer Geldnot allesamt nach Ausflüchten klangen.

Einige Augenblicke lang war die Stille zwischen ihnen greifbar, die Pferde schnaubten ungeduldig im Hänger, spürten womöglich das herannahende Unwetter, und mit einemmal explodierte der sonst so besonnene Jack. Ob er, Ennis, es sich nicht vorstellen könne, wie verflucht schlimm es für ihn sei, immer so lange warten zu müssen. Ob ihm überhaupt bewusst sei, wie oft sie sich in zwanzig Jahren gesehen hätten. „Ich bin nicht du, Ennis." Der gelegentliche Bergfick reiche ihm längst nicht mehr aus, und nun würde es noch länger dauern!

Plötzlich fehlte Ennis Luft zum Atmen. Es war als schnüre ihm eine unsichtbare Hand die Kehle zu. Er wollte etwas erwidern, brachte jedoch kein Wort heraus. Statt dessen wurde es finster vor seinen Augen. Ennis fiel. Tiefer und tiefer fiel er, in einen bodenlosen Abgrund, ohne Licht und ohne jedes Geräusch. Dann war Jack plötzlich da und hielt ihn fest, und ehe er sich's versah, trommelte er mit seinen Fäusten gegen Jacks Brust. Versuchte ihn von sich zu stoßen, während er sich gleichzeitig unter Tränen in seiner Jacke festkrallte. Warum! Warum konnte es nicht so sein wie immer! Warum musste Jack es kompliziert machen! Warum musste er ihm immer wieder mit Gewalt den Spiegel vorhalten?

Es war jedoch Jack, der als erster seine Worte wiederfand, der unter kaum verhohlenem Schluchzen hervorpresste: „Ich wünschte, ich wüsste, wie ich von dir loskomme!" Er schrie es ihm förmlich entgegen. Eine Sekunde absoluter Schwärze, etwas stach so schmerzhaft in sein Herz, dass er aufkeuchte, dann gaben unversehens Ennis' Knie nach. Wenn Jack ihn nicht ebenso fest gehalten hätte, wäre er hart auf den Asphalt aufgeschlagen.

Äußerlich hatten beide sich schnell wieder im Griff, klopften sich betreten gegenseitig das Revers ab, sahen sich jedoch nicht in die Augen.

„Wir seh'n uns dann im November", hatte Jack noch mit rauer Stimme gemurmelt, und als sie dann in verschiedene Richtungen davonfuhren, fühlte Ennis sich genauso elend wie zwanzig Jahre zuvor, als sie sich zum ersten Mal getrennt hatten. Damals hatte er noch nicht gewusst, was es war, das ihm die Eingeweide aus dem Leib zu reißen drohte. Inzwischen war der Schmerz über den Verlust fast ein alter Vertrauter geworden, dem er regelmäßig zuprostete. Er wusste, was es war, und es tat immer noch genauso weh wie beim ersten Mal, aber er selbst hatte einmal gesagt, wenn man etwas nicht ändern kann, muss man's aushalten.

tbc.