Der Tod eines Meisters
Endlich stand er ihm gegenüber, dem alten Meister der Krähen. Lange hatte er auf diesen Augenblick, diese Chance gewartet, sich gründlich vorbereitet. Sorgfältig studierte er den Elfen - mittelgroß war er, sehr schlank. Das Gesicht schmal und markant. Er soll einmal eine Schönheit gewesen sein, ein Mann, der viele Frauen und Männer zu verführen vermochte. Noch immer hatten seine Züge etwas Edles und Reizvolles - trotz der deutlichen Spuren des Alters, trotz der großen Narbe, die sich quer über seine rechte Wange zog und seine Oberlippe spaltete. Silberblonde Haare waren straff aus dem Gesicht gekämmt und zu einem Zopf gebunden. Über seine linke Gesichtshälfte zog sich eine Tätowierung - drei geschwungene schwarze Linien - ebenso schlicht wie einprägsam. Er hatte Augen in der Farbe von Bernstein. Aber sie leuchteten nicht. Es fehlte ihnen an Wärme. Seine Stimme klang angenehm singend und gleichzeitig befremdlich kalt.
"Meister Horsan... Ihr seid es. Überraschend. So ganz allein?" Hochmut zeigte sich um die Mundwinkel des alten Meisters.
"Eure Zeit ist vorüber, Zevran Arainai. Nach über zwanzig Jahren ist es Zeit für junges Blut."
"Dann wollte Ihr mich also ablösen, ja? Und Ihr wollt dann an meiner statt die Krähen führen?"
"Schweigt und kämpft!"
Der Elf schmunzelte und zog seine Waffen - zwei Schwerter aus Drachenknochen - alt, aber sorgfältig gepflegt und mit jeweils drei Großmeister-Runen versehen. Sie funkelten und summten in seinen Händen - das eine war ein Geschenk von ihr, das andere ihr Erbe.
Horsan zog Dolch und Degen aus Vulkangold - schärfer und stärker als Drachenknochen - und grinste siegessicher.
"Keine Angst zu sterben, alter Mann?"
"Ihr könnt mich nicht töten, Horsan. Ich bin schon vor langer Zeit gestorben." höhnte Meister Zevran. Er parierte den ersten Degenhieb.
Immer noch schnell, geschickt, den Kampf gewohnt, war er mit seinen Gedanken doch ganz woanders. Es war wieder Nacht um ihn und dieser schreckliche kalte Ferelden Regen prasselte auf das Dach von Fort Drakon. Sein Grauer Wächter hatte eine Armee aufgestellt. Erzmagier Irving war da, die Legion der Toten mit ihrem Anführer Kardol, Arl Eamon persönlich. Außerdem ein halbes Hundert Dalisher Bogenschützen in bester Ausrüstung. Und natürlich ihre engsten Gefährten - Wynne als Heilerin, Oghren, der Zwergenkrieger und er selbst, der Assassine, die Krähe aus Antiva hatten die Ehre, an ihrer Seite zu kämpfen. Dem anderen grauen Wächter, Alistair, hatte sie befohlen, bei den Toren zu bleiben. Zevran hatte sich gewundert, auch ein wenig gespottet über ihn. Noch hatte er ja keine Ahnung...
Erst als sie dieses Schwert nahm, ihren Ansturm nur kurz unterbrach, um ihn zu küssen, ihm "Vergib mir!" ins Ohr zu flüstern. Als er die einzelne Träne sah, die über ihr Gesicht rann, diese unendliche Trauer und gleichzeitig die Entschlossenheit, das Unvermeidliche zu tun, in ihren Augen...
Er mochte alt sein, sein Blick kalt, sein Grinsen zynisch - seine Schwerter waren schnell. Als er dem sehr viel Jüngeren den Todesstoß versetzte, flackerte für einen einzigen kurzen Moment ein Licht in seinen Augen. Es sah beinah aus, als würde er weinen.
So hatte sie entschieden, sein Grauer Wächter. Das erste und einzige Wesen auf der Welt, das er jemals geliebt hatte. Dass dieser tollpatschige Narr Alistair König wird und Ferelden in den zu erwarten gewesenen Ruin treibt, war ihr wichtiger als das eigene Leben. Wichtiger als ihre Liebe zu ihm, der kein König war, sondern nur ein Elf und Meuchelmörder. Nur eine Krähe aus Antiva.
Meister Zevran Arainai reinigte sorgfältig seine Schwerter und befahl seinen Wächtern, die Leiche zu beseitigen.
