Inhalt:
Spielt vor
der Serie, lange vorher.
„Michael
war zwölf und hatte gerade damit begonnen, sich zu einem
eigenbrötlerischen, verschlossenen Teenager zu entwickeln…"
als plötzlich sein Bruder verschwindet, und Michaels Leben sich
einmal mehr von Grund auf ändert.
A/N:
Ich hab
dies schon vor langer Zeit begonnen, und weiß noch nicht, wo es
hinführt. Normalerweise poste ich meine Stories nicht, wenn ich
nicht wenigstens weiß, wie sie enden werden, aber hierbei habe
ich den Eindruck, ich muss es langsam mal tun, damit ich überhaupt
weiterkomme. Möglicherweise werden sich das Rating und das Genre
mit späteren Kapiteln ändern.
Borderline
1
Als es zum ersten Mal geschah, war Michael Burrows zwölf und hatte gerade damit begonnen, sich zu einem eigenbrötlerischen, verschlossenen Teenager zu entwickeln. So war er nicht immer gewesen. Sein Lachen hatte von Anfang an jeden angesteckt, und sobald er herausgefunden hatte, wie man redete, hatte er sich als klug und aufgeweckt erwiesen. Seine Augen hatten blau und grün gestrahlt, wie das Meer unter der Sonne, immer wenn seine Mutter ihm vorgelesen hatte. Abenteuer und Märchen hörte er am liebsten. Aber der Held musste am Ende überleben oder das Mädchen kriegen. Hatte eine Geschichte kein Happy End gehabt, dann hatten sie gemeinsam eins erfunden. Doch vor einem Jahr war seine Mutter gestorben, und nun las niemand ihm mehr Geschichten vor. Lincoln hatte es versucht, aber Michael unterbrach ihn jedes Mal. Der ältere Bruder war sein ein und alles. Doch es war einfach nicht dasselbe.
Von da an lernte Michael umso verbissener für die Schule. Lincoln hatte ihm erklärt, Mom sah aus dem Himmel zu und war stolz auf ihn. Anfangs hatte das Michael getröstet. Er hatte seiner Mom weiterhin die Hausaufgaben gezeigt, stellte sich vor, wie sie lächelte, und manchmal, wenn er allein war, las er ihr etwas vor. Einmal überraschte Lincoln ihn dabei. Er saß am Küchentisch, vor sich ein großes, mit schwarzweißen Zeichnungen illustriertes Buch, daneben der Teller mit dem unberührten Abendbrot. Seine klare, helle Kinderstimme füllte den kleinen Raum.
„Was tust du da?", fragte Lincoln stirnrunzelnd, während er in seinen abgewetzten tarngrünen Parka schlüpfte.
„Peter Pan. Das ist Moms Lieblingsbuch", antwortete Michael, ohne auf die Frage zu antworten.
„Wie du meinst", brummte Lincoln. „Vergiss dein Abendessen aber nicht wieder, okay?"
„Mach' ich nicht."
„Ich bin dann weg. Wart' nicht auf mich. Wir sehen uns spätestens morgen nach der Schule."
„Warte, Linc. Kannst du nicht bleiben? Wir… wir könnten fernsehen."
„Keine Zeit, Kleiner. Ich muss los. Morgen machen wir was, versprochen. Und spätestens um neun machst du das Licht aus, klar?"
„Ja", murmelte Michael, „klar", aber sein Bruder hörte ihn nicht mehr. Die Küchentür schlug zu, und Michael war wieder allein. Er blinzelte. Sah zu, wie die karierte, kurze Gardine an der Küchentür hin und her schwang, ausgenommen die Falte ganz links, die sich immer an diesem Holzsplitter des verwitterten Fensterrahmens verfing. Michael beobachtete die Gardine so lange, bis sie sich nicht mehr bewegte.
Dann sah er wieder ins Buch, aber mit einemmal konnte er nicht mehr lesen, was dort stand. Die Buchstaben tanzten vor seinen Augen. Schwarz auf weiß. Scharfkantig und höhnisch hoben sie sich vom Untergrund ab, tauschten Plätze und wuselten in Ameisenkolonnen über das Papier. Immer in Bewegung, immer auf der Flucht vor seinen jagenden Augen. Michaels Atemfrequenz erhöhte sich Wie hakenschlagende Kaninchen flüchteten die Buchstaben vor ihm. Verschwammen. Schnell atmend versuchte Michael, den Blick zu fokussieren, den Text wieder einzufangen, von dem er wusste, dass er da sein musste. Seine Lippen waren eine schmale Linie, die Knöchel an seinen Händen traten weiß hervor, so fest griff er die Tischkante. Es nutzte nichts. Dieses Mal gewannen die Kaninchen. Lachten ihn aus.
Michael gab sich geschlagen. Er wusste, es war noch immer dasselbe Buch. Noch immer Peter Pan. Noch immer seine Muttersprache. Es lag an ihm. Bisher hatte er es niemandem verraten, aber er kannte das schon. Manchmal entzog sich eine Geschichte einfach für eine Weile seinen lesenden Augen. Die Buchstaben hätten aus dem Sanskrit oder Arabischen stammen können, und wären Michael nicht fremder vorgekommen als jetzt.
Frustriert klappte er das Buch zu, presste die Fäuste auf seine Augen, um den leisen Schmerz dahinter zu verdrängen. So war es jedes Mal. Er mochte es nicht. Ein paar Minuten wartete er, bis sein Atem wieder ruhiger geworden war, dann erhob er sich, um das Buch an seinen Stammplatz im Wohnzimmerschrank zu tragen. Mit den Fingerspitzen schob er es soweit in das Regal hinein, bis der Buchrücken sich exakt in die Linie der benachbarten Werke fügte.
Gerade wollte er sich wieder an den Küchentisch setzen, um wie versprochen das Brot aufzuessen, als er aus irgendeinem Grund über die Teppichkante stolperte. So eben konnte er einen Sturz verhindern, doch er schlug mit der flachen Hand auf den Rand seines Abendbrottellers, der dabei entzwei brach. Sein Zeigefinger rutschte über die Bruchkante und Michael spürte kurz einen scharfen Schmerz. Schnell und heiß wie ein Blitz. Den Bruchteil einer Sekunde später hatte er sich gefangen. Er setzte sich, blickte schuldbewusst den zerbrochenen Teller an - Lincoln würde schimpfen, soviel stand fest. Und Michael wusste, dass er recht damit hätte. Sie waren nicht gerade reich. Ihre neuen Pflegeeltern waren besser als die letzten. Besser, weil sie so gut wie nie da waren. Angeblich waren sie wegen der Jobs so viel unterwegs. Lincoln hasste sie. Fluchte oft über sie, wenn sie nicht da waren, und stellte wilde Theorien auf, weshalb sie trotz der vielen Arbeit kaum Geld für ihn und Michael hatten. Für Michael waren sie Fremde, die zufällig hin und wieder mit ihm im selben Haus lebten. Aber sie waren besser als die letzten. Vor allen Dingen, weil sie ihn bisher nie geschlagen oder tagelang in den Keller gesperrt hatten.
Ein merkwürdiges Pochen holte Michaels Gedanken aus dem Keller vom letzten Jahr zurück in die Gegenwart. Er sah hinunter. Auf dem hellen Holz des Küchentischs leuchteten zwei kreisrunde rote Flecken. Mist! Automatisch nahm er seinen Ärmel, um sie wegzuwischen. Seine Kleidung war ihm egal. Er hatte schon etwas kaputt gemacht heute, da wollte er nicht auch noch deswegen Ärger mit Linc kriegen.
Der Fleck verschmierte erst, doch nach etwas Rubbeln ging er ganz weg. Ein Glück. Aber das Pochen hörte nicht auf. Michael runzelte die Stirn. Dann hob er die linke Hand vor sein Gesicht und sah auf den Zeigefinger. Ein tiefer Schnitt ging längs durch das oberste Glied, und an dessen Ende saß ein dicker, hellroter Blutstropfen, der langsam anschwoll. Jeden Moment würde er hinunterfallen. Schnell steckte Michael den Finger in den Mund. Nebenbei registrierte er den bitteren, metallischen Geschmack. Viel seltsamer war jedoch das Gefühl, als seine Zungenspitze über die Verletzung fuhr. Sie fühlte sich so groß an. Riesig nahezu und klaffend. Michael staunte. Doch als er den vor Spucke glänzenden Zeigefinger wieder unter der Lampe ansah, war der Schnitt genauso wie zuvor. Kaum länger als einen Zentimeter und dünn wie eine Bleistiftlinie in seinem Matheheft.
Automatisch krabbelte er in Lincolns Bett, wie jedes Mal, wenn sein Bruder abends nicht zuhause war. Noch Stunden später lag Michael wach. Dieses Mal nicht, weil er sich vor den blutrünstigen Monstern im Schrank ängstigte, oder sich Sorgen machte, das Dach könne zu schwer für das Haus sein und alles zum Einsturz bringen. Auch nicht, weil er den trügerischen Schatten an den Wänden immer wieder neue Namen gab, während er sich ausmalte, was Lincoln gerade wohl tat. Nein. Dieses Mal starrte er mit offenem Mund im Dunkeln an die Zimmerdecke und lauschte fasziniert dem Pochen in seinem Finger. Es war, als führte der Finger ein Eigenleben. Als schrie er laut hinaus Hörst du mich? Ich bin da! Ich lebe! Ich atme! Als er mit trockener Kehle am Morgen aus einem tiefen, traumlosen Schlaf erwachte, war der Platz neben ihm im Bett immer noch leer.
tbc.
