Prometheusfunken
1. Akt – Das Versprechen
Prolog: Was ein alter Mann bedauert
„Jeder große Zaubertrick besteht aus drei Akten. Der erste Akt heißt „Das Versprechen": Der Zauberer zeigt Ihnen etwas Gewöhnliches, ein Kartendeck, einen Vogel oder einen Mann. Er zeigt Ihnen das Objekt. Vielleicht fordert er Sie auf, das Objekt genau zu betrachten, ob es wirklich real ist, unverändert, normal. Aber in Wirklichkeit ist es natürlich alles andere als gewöhnlich. Der zweite Akt nennt sich „Die Wendung": Der Zauberer lässt sein gewöhnliches Etwas etwas Ungewöhnliches tun. Wenn Sie jetzt nach dem Geheimnis suchen, werden Sie es nicht finden, weil Sie natürlich nicht wirklich hinsehen. Sie wollen es nicht wirklich wissen. Sie wollen reingelegt werden. Aber Sie applaudieren noch nicht – denn etwas verschwinden zu lassen ist noch nicht genug. Man muss es auch zurückbringen. Deshalb gibt es bei Zaubertricks den dritten Akt, „Das Prestige" genannt. Dies ist der Teil mit den Drehungen und Wendungen, in dem Leben auf dem Spiel stehen, und Sie werden etwas Schockierendes sehen, was Sie noch nie zuvor gesehen haben." – Christopher Priest, „The Prestige"
„There is a crack, a crack in everything – That's how the light gets in." – Leonard Cohen, „Anthem"
Jeder Geschichtsschreiber wird Ihnen bestätigen können, dass in der Geschichte jedes großen Helden der Tag kommt, an dem seine Zeit offiziell vorbei ist. Keine heroischen Schlachten mehr, keine Jungfrauen in Nöten, kein Erzfeind mit schurkischem Plan zur Übernahme der Weltherrschaft. Herrgott, nicht einmal mehr ein simpler Banküberfall, den man verhindern kann. Denn wie der Rest der Menschheit können auch die meisten Helden dem größten aller Feinde nicht entkommen: der Zeit.
Was in der Jugend nur so vor Kraft und Energie strotzte wird im Alter zur schmerzenden Last.
Und mit dem Alter kommt das Vergessen. Kaum rettet man einmal nicht an jedem ersten Samstag im Monat die Welt, schon wissen die Leute nicht einmal mehr, wie sie deinen Namen schreiben sollen. Aller Glanz, der ganze Ruhm des Superhelden-Daseins schwinden dahin. Übrig bleiben nur noch eine Hand voll angestaubter Orden, rostige Helme und Rüstungsteile. Und Erinnerungen.
Nun, im Fall von Tony Stark, Genie, Milliardär, (Ex-)Playboy, Philanthrop, bereiteten ihm letztere allerdings zunehmend Schwierigkeiten. Er war noch immer ein Genie und beinahe täglich erhielt er Anfragen von Studenten und Wissenschaftlern aus aller Welt, die sein Lebenswerk studierten und seine Theorien und Erfindungen zur alternativen Energiegewinnung weiterentwickeln wollten. Er war auch nach wie vor noch im Besitz eines beträchtlichen Vermögens (was seinen Ruhestand außerordentlich angenehm gestaltete), und auch wenn er nicht mehr der Schürzenjäger von Früher war, so war er doch bei der Damenwelt immer noch äußerst beliebt. Er unterstützte wohltätige Organisationen, richtete zahlreiche Fonts ein, deren Gelder vor allem den Zugang zur Bildung für sozial Benachteiligte und die Ausbildung zukünftiger genialer Köpfe förderten.
Trotzdessen seine Tage als Avenger, und damit als einem der mächtigsten Helden der Erde, vorüber waren und er seine Anzüge schon vor langer Zeit an den sprichwörtlichen Nagel gehängt hatte, konnte er besten Gewissens behaupten, immer noch einer der Guten, immer noch ein Held zu sein.
Wenn da nur nicht die Sache mit seinen Erinnerungen wäre.
Jeden Morgen weckte JARVIS ihn pünktlich zum Erscheinen der Pfleger um halb acht. Jeden Morgen wachte er völlig desorientiert in seinem Zimmer im teuersten, renommiertesten New Yorker Pflegeheim auf und konnte sich in den ersten zehn Minuten nicht daran erinnern, wie zur Hölle er hier her gekommen war. Demenz im Anfangsstadium, diagnostizierten die Ärzte. Nicht aufzuhalten, nicht abzumildern. Irgendwann würde er sich an nichts mehr erinnern können.
„Guten Morgen, Sir." JARVIS Stimme durchbrach den Nebel seiner Gedanken. Tony hatte die letzten Minuten damit zugebracht, die Altersflecke auf seinen Handrücken zu betrachten.
„Guten Morgen, JARVIS", brummte er abwesend und blinzelte, als sein AI die Sonnenblenden der Fensterfront zurückfuhr, um das Licht des frühen Morgens in sein Zimmer zu lassen. JARVIS war eines der Dinge, auf die Tony bestanden hatte, bevor er einem Umzug in ein Pflegeheim zugestimmt hatte. Es war zwar nur eine abgespeckte Version und Tony hätte schwören können, dass JARVIS bei der Komprimierung seines Systems einige Male frustriert aufgestöhnt hatte, aber dies war der Kompromiss, den er mit den Verantwortlichen von S.H.I.E.L.D. und der Leitung des Pflegeheims ausgehandelt hatte: Ohne seine AI ging Tony nirgendwo hin. Ein Leben mit JARVIS als sprichwörtlicher Besserer Hälfte war derart zur Gewohnheit geworden, dass Tonys Existenz ohne sie schier unmöglich war. In diesem Punkt mussten die übrigen Beteiligen wohl oder übel zustimmen.
Jedoch hatte er JARVIS auf eine lokale Einheit herunterfahren müssen, die ausschließlich Zugriff auf das Netzwerk seines Patientenzimmers hatte. Vom Rest des Pflegeheims war sie abgeschottet.
Tony hatte dem widerstrebend zugestimmt, jedoch nicht verraten, dass er längst ein Programm geschireben hatte, mit dem JARVIS sich unbemerkt in das Netzwerk des Krankenhauses einklinken konnte, um seinen Entwickler über jede Neuigkeit und jeden einzelnen Patienten oder Pfleger zu informieren.
„Sir, der Pfleger ist auf dem Weg zu Ihnen. Soll ich Ihm die Tür öffnen?"
Pfleger. Noch ein Teil seiner Bedingungen. Tony hatte sich das Recht erkämpft, seine Pfleger selbst auszuwählen. Natürlich führte dies zu einem relativ hohen Verschleiß, da er dazu neigte, mitten in einem Wutausbruch Leute zu entlassen, nur weil sie ihm den falschen Kaffee brachten, ihm Alkohol verwehrten (wie es von den Ärzten verordnet war) oder, das Schlimmste von allem, seine Musik leiser drehten. Mittlerweile lag sein Body-Count bei 35 Pflegern und Pflegerinnen.
Die neuste Version war irgend so ein Teenager namens Parker. Jung, ungefähr 19 schätzte Tony – aber nicht auf den Kopf gefallen. Er bot genau das richtige Maß an Respekt und Durchsetzungsvermögen das man brauchte, um den pensionierten Iron Man in der Spur zu halten. Er kuschte nicht vor ihm und das imponierte Tony. Er ertappte sich manchmal dabei, wie er begann, väterliche Gefühle für den Jungen zu hegen. Er konnte ihn gut leiden, auch wenn er das niemals zugeben würde.
Die Besucherliste des Patienten Stark war recht kurz. Rhodey besuchte ihn, sooft ihn seine alten Knochen aus dem Haus ließen. Und Pepper kam regelmäßig, das nun graue Haar noch immer zu diesem eleganten Knoten zurückgebunden, eine Frisur, die nach wie vor Autorität und Gründlichkeit ausstrahlte, auch so viele Jahre nachdem sie sich nicht mehr um die persönlichen und geschäftlichen Dinge von Anthony Stark kümmerte.
Pepper. Wieso nur um alles in der Welt hatte er sie damals gehen lassen? Sicher, nach der Schlacht um New York waren die Dinge zwischen ihnen komplizierter geworden, aber mit ein bisschen Arbeit hätten sie vielleicht…
Wem wollte er etwas vormachen? Er war ein Einzelgänger, ein Eremit. Jemand, mit dem es sich nur schwerlich zusammenleben ließ. Nicht ohne Grund war sein engster Vertrauter ein AI-System, das auf der Persönlichkeit seines ehemaligen Butlers beruhte. Niemand hielt es lange mit ihm aus. Schließlich hatte Pepper Happy geheiratet. Was sie in dem gutmütigen Chauffeur sah entzog sich Tonys Verständnis, auch wenn er dem guten Happy Hogan sein Leben verdankte und wohl noch nie in seinem Leben einem aufrichtigerem Kerl begegnet war. Nun, mit Ausnahme von Captain Rogers vielleicht.
„Sir?"
Tony zuckte zusammen. Er war schon wieder abgeschweift. Das passierte in letzter Zeit viel zu häufig. „Ja, JARVIS? Wovon sprachen wir noch gleich?"
„Soll ich die Tür für Mr. Parker öffnen?"
„Ja. Lass ihn rein." Er rieb sich die müden Augen und betrachtete dann erneut seine Handrücken. Warum waren ihm diese Altersflecke bisher nicht aufgefallen?
Mit einem leisen Swoosch glitt die Eingangstür zur Seite und ein junger Mann in Skinny-Jeans und roten Sneakers betrat das Patientenzimmer. „Was geht, Mr. S.? Haben Sie gut geschlafen?"
„Hallo, Peter", erwiderte Tony müde und betrachtete den Jungen eingehend. „Heute keine Henkerkutte?"
Peter Parker, der grade eine Schachtel Donuts und zwei Pappbecher Kaffee aus seinem Rucksack holte (Donuts – Gott, Tony liebte diesen Jungen), hielt inne und blickte ihn verwirrt an. Dann wurde das Stirnrunzeln von einem schuldbewussten Grinsen abgelöst. „Sie meinen die Straßenklamotten? Ich war heute Morgen etwas spät dran und ich hasse es, in Pflegeruniform U-Bahn zu fahren. Tut mir Leid, Mr. S.! Ich hatte gehofft, ich könnte mich in Ihrem Bad schnell umziehen?"
Tony schnaubte. „Tu dir meinetwegen keinen Zwang an. Je weniger ich von diesem grässlichen rosa zu sehen bekomme, desto besser."
„Eigentlich ist sie fliederfarben, Mr. S.", korrigierte Peter, immer noch grinsend. „Von mir aus steht der Deal, aber verpetzen Sie mich nicht an Miss Palmer!"
Christine Palmer leitete das Pflegeheim und legte sehr viel Wert auf gewissenhafte Repräsentation Seitens ihres Personals.
„Niemals", sagte Tony und machte ein Kreuz über dem ARC-Reaktor in seiner Brust. „Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist!"
„Was nicht viel ist", gab Peter lachend zurück und schob seinen Rucksack in einen Schrank neben der Tür. „Damit wäre ich meinen Job also so gut wie los…"
Tony schmunzelte. Der Junge war wirklich nicht auf den Kopf gefallen.
„Waren das grade Donuts, die meine alten Augen dort erspäht haben? Ich meine echte, fettige, ungesunde, großartige Donuts? Oder war das nur wieder eine von meinen Altershalluzinationen?"
„Nein, die Donuts sind ganz real, Mr. S.!" Peter klappte das kleine Tischmodul an Tonys Bett herunter und servierte ihm eine Schachtel mit vier gefüllten Donuts, zwei mit rosa Zuckerguss, zwei mit Schokoladenüberzug. Herzinfarkt in seiner schönsten Form!
Auch der Kaffee aus den beiden Bechern duftete herrlich. Wie lang war es her, dass Tony richtigen New Yorker Straßenkaffee getrunken hatte, statt des gefärbten Wassers, bei dem man in dieser Institution darauf bestand, es Kaffee zu nennen. Er nahm einen Schluck und seufzte genussvoll auf. Herrlich. Wie hatte er es überhaupt so lange mit dieser koffeinreduzierten, geschmacksgemilderten Plörre ausgehalten?
„Du musst dringend mal ein Wörtchen mit deiner Chefin reden, Peter", sinnierte er, den warmen Becher in der Hand. „Sag ihr, nichts ist förderlicher für das Wohlergehen unserer ältesten Mitbürger, wie ein guter Kaffee aus dem Shawarma Palace!"
Wortlos teilte Peter die Donuts mit einem Messer in kleine Stücke, damit Tony sie besser kauen konnte. Das Alter zollte auch beim Essen seinen Tribut.
„Wie komme ich eigentlich zu dem Vergnügen?", fragte Tony, während er sich einen schokoglasierten Donut in den Mund schob. „Gibt's was zu feiern?"
Der Teenager sah ihn mit hochgezogenen Brauen, aber immer noch lächelnd an. „Heute ist Ihr Geburtstag, Mr. Stark."
Tony wurde still. Dann sagte er: „Das kann nicht sein. JARVIS, welchen Tag haben wir heute?"
„Heute ist Mittwoch, der 29. Mai 2064, Sir. Es ist ihr 94. Geburtstag. Herzlichen Glückwunsch."
Tony blinzelte verwirrt. „Seit wann bin ich 94. Jahre alt?"
„Seit ungefähr 94 Jahren, 7 Stunden und 46 Minuten, Sir."
„Das war eine rhetorische Frage, JARVIS", brummte Tony und rollte mit den Augen, während Peter in seinen eigenen Kaffee prustete. „Warum hast du mir das eigentlich nicht schon vorhin gesagt?"
„Verzeihung, Sir, aber ich habe mich daran erinnert, wie wenig Sie von Geburtstagen halten. Speziell von den letzten zwanzig." Lag tatsächlich so etwas wie Reue in JARVIS computergenerierter Stimme?
„Wie soll man mit 94 auch etwas von Geburtstagen halten? Man ist alt, kann nicht mal mehr alleine aufs Klo, geschweige denn irgendetwas von den Dingen tun, die früher mal das Leben wert waren." Tony war schlagartig der Appetit vergangen. 94 Jahre – da musste etwas schief gelaufen sein. Er hätte schwören können, er wäre grade erst 43 geworden...
„Sehen Sie es nicht so düster, Mr. Stark. Sie haben es ein gutes Stück weiter geschafft als mein Onkel", sagte Peter mit einem leisen Lächeln, das Tony nicht ganz deuten konnte. „Er starb mit 65. Und er hatte noch eine ganze Menge vor."
Tony biss sich gedanklich in den Hintern für seine Taktlosigkeit. „Tut mir Leid, Peter. Ich bin ein egozentrisches Arschloch."
Beide schwiegen einen Moment.
„Machen Sie sich nichts draus", sagte Peter schließlich in seiner gewohnten Fröhlichkeit. „Sie haben bestimmt schon mehr Scheiße gesehen als der Rest von uns."
„Das ist keine Entschuldigung für taktloses Benehmen", brummte Tony und betrachtete erneut seine Hände. „Aber manchmal frage ich mich, was mit der ganzen Zeit passiert ist."
„Wie meinen Sie das?"
„Nun, ich bin heute Morgen aufgewacht und war plötzlich 94. Dabei war ich gestern erst 43. Und ich habe nicht die geringste Ahnung, was in den 51 Jahren dazwischen passiert ist…" Er ballte die Hände zu Fäusten. Seine Kraft hatte ihn verlassen. Hatte er in seiner Jugend noch ganze Metallblöcke durch den Raum geschoben, so schaffte er es jetzt grade noch, einen Becher Kaffee zu halten. Die Zeit war ein Arschloch.
Peter lachte. „Das geht den meisten so, Mr. S.! Denken Sie daran, dass Sie sich zeitweise nicht mal erinnern können, ob sie auf dem Klo waren, oder nicht."
„Redet man so etwa mit senilen Patienten, Mr. Parker?", sagte Tony mit gespieltem Entrüsten, was ihm ein amüsiertes Grunzen seitens Peter einbrachte.
„Dann gibt man senilen Patienten wohl auch keinen Geburtstags-Schuss Brandy in ihren Kaffee", konterte der Junge und wedelte ihm mit einem Flachmann unter der Nase herum.
Tony blickte ihn mit leuchtenden Augen an. „Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass ich dich liebe, Peter Parker?"
„Nein, haben Sie nicht", lachte Peter mit hochgezogener Augenbraue, während er einen großzügigen Schluck Brandy in Tonys Becher kippte. „Und das lassen Sie auch besser, sonst wirft man mich noch raus. Wegen Missbrauchs Schutzbefohlener."
„Ich bin also schon in dem Alter, in dem man mir nicht mehr Verführung Minderjähriger vorwerfen würde, wie?" Tony nahm einen großen Schluck aus dem Becher, hustete kurz und lächelte dann. „Gutes Zeug!"
„Das beste, das ich auftreiben konnte", stimmte Peter feierlich zu, während er den Flachmann wieder in der Innentasche seiner Weste verschwinden ließ. „Happy Birthday, Mr. S.!"
Tony prostete ihm zu und nahm noch einen Schluck. Dann sah er gedankenverloren aus dem Fenster. Von seinem Zimmer aus konnte er die 55th Street und die Kreuzung zur 7th Avenue überblicken. New York versank bereits wieder im üblichen geschäftigen Berufsverkehr. Die Stadt die niemals schlief und die er in der Vergangenheit mehr als einmal vor der kompletten Zerstörung bewahrt hatte, gab sich einem neuen, ganz gewöhnlichen Arbeitstag hin. Er seufzte tief.
„Alles klar bei Ihnen, Mr. S.?" Peter musterte ihn eindringlich.
„Klar ist alles klar", sagte Tony betont fröhlich. Dann blickte er auf die Flecken, die seine Handrücken bedeckten. Große, hellbraune Flecken, die sich quer über die faltige Haut zogen. „Ich habe nur irgendwie das Gefühl…" Er brach ab und seufzte erneut.
„Was fühlen Sie, Mr. Stark?", fragte Peter und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. Tony runzelte die Stirn. Es war etwas, mit dem er aufgewacht war. Etwas, das ihn geweckt hatte, noch bevor JARVIS seinen üblichen Weckruf abgegeben hatte. Ein Gefühl des Unbehagens. Irgendetwas, das nicht stimmte…
„Ich habe das Gefühl, dass ich irgendetwas Wichtiges vergessen habe. Irgendetwas, das ich nicht vergessen dürfte. Ich…" Frustriert schlug er die Hände vors Gesicht und raufte sich die Haare. „Aargh! Ich weiß auch nicht. Diese verfluchten Erinnerungen!" Die Handballen an die Augen gedrückt ließ er die knochigen alten Schultern hängen.
„Ganz ruhig, Mr. Stark!", sagte Peter hastig. Er stand auf und ging zu einem Monitor an der anderen Seite des Bettes, der Tonys Vitalfunktionen überprüfte. „Sie dürfen sich nicht so aufregen. Vielleicht sollten Sie lieber auf den restlichen Kaffee verzichten."
Tony schnaubte. „Dann wirst du den wohl aus meinem Magen pumpen müssen, mein Lieber!" Er hob seinen Becher eilig zum Mund und nahm ein paar große Züge, wobei er sich um ein Haar verschluckte. Peter eilte zurück an seine Seite und klopfte ihm auf den Rücken, während er den letzten Schluck Kaffee mit Brandy wieder aushustete.
„Meine Güte", brummte Peter. „Sie bringen uns beide noch ins Grab!"
„Das würde dir so passen, was?", keuchte Tony und schüttelte seine Hand ab. „Mir geht's gut! Hör auf, meinen Rücken als Trommel zu benutzen, sonst sterbe ich vielleicht wirklich durch innere Blutungen!"
Das Klopfen hörte auf. „Verzeihung."
„Ja ja, schon gut", brummte Tony, immer noch heiser vom Husten. „Woher nimmst du diese unglaubliche Stärke? Steroide?"
Peter schnaubte. „Ich hab nicht mal fest zugeschlagen. Sie sind ja heute ganz schön empfindlich."
„He, nicht frech werden, ja? Wäre ich fünfzig Jahre jünger, würde ich dich jetzt im hohen Bogen aus dem Fenster da befördern!"
Peter kicherte.
„So, das findest du also lustig, ja? Du lachst also grade tatsächlich den Mann aus, der nur mittels seines Verstandes unzählige Male die Welt gerettet hat?" Seine Gekränktheit war gespielt, sein Tonfall jedoch herausfordernd.
„Sie haben nicht nur Ihren Verstand benutzt", erwiderte Peter mit einem gleichmütigen Achselzucken. „Sie hatten Ihre Anzüge."
„Und was meinst du Grünschnabel, woher diese Anzüge kamen?", fragte Tony schnippisch und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. „Sowas wächst nicht auf Bäumen, weißt du? Da steckte ne Menge Grips drin. Ich hab sogar mal einen Anzug entworfen, der mich in die Erdumlaufbahn gebracht hat."
Peter lachte laut auf. „Jetzt verarschen Sie mich aber!"
„Mit Nichten!", beharrte Tony, der sich mit einem Mal daran erinnern konnte. „Nach der Schlacht von New York hatte ich 2013 begonnen an einem Anzug zu arbeiten, der auch unter nichtatmosphärischen Bedingungen einwandfrei funktionieren würde. Ich hab versucht, mich von der Misere mit Pepper abzulenken und da kam mir diese Idee…" Er stockte plötzlich. Da war noch mehr. Erinnerungen, die im Schatten lagen. Die Geschichte mit dem Anzug war größer gewesen. Ein ganz großes Ding.
Peter zog sich einen Stuhl ans Bett, sodass die Sitzfläche von Tony weg zeigte. Dann setzte er sich verkehrt herum breitbeinig darauf und stützte die verschränkten Arme auf die Rückenlehne. Aufmerksame Augen funkelten ihn hungrig an. „Erzählen Sie die Geschichte, Mr. S.!" Während er dies sagte schob er sich noch ein Stück Donut in den Mund. „Lassen Sie uns sehen, an was Sie sich noch erinnern können."
Tony sah ihn einen Augenblick lang an, unsicher ob er sich wirklich erinnerte, oder ob sein Kopf ihm wieder einmal einen Streich spielte. Die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge zu verfestigen begannen, waren allesamt mit einem grauen Schleier überzogen und er konnte sie nicht festhalten. Sie entglitten ihm immer wieder, als würde jemand versuchen, sie vor seinem Griff zurückzuhalten.
Dennoch spürte er, wie sie den Umriss einer altvertrauten Geschichte bildeten. Gesichter und Namen, die ihm bekannt vorkamen. Alte Freunde. Und alte Feinde.
Angestrengt dachte er nach. Suchte nach dem richtigen Schalter, um Licht in die Dunkelheit zu bringen. Licht! Es hatte irgendetwas mit Licht zu tun gehabt. Wenn nur sein verfluchtes Gedächtnis noch richtig funktionieren würde! Alles, was er zu greifen bekam waren Funken der Erinnerung, einzelne Bildfragmente, die sich nicht ordnen ließen.
Dann, mit einem Mal und dennoch widerstrebend, begann sich der Schleier zu heben. Die Bilder fielen an ihre Plätze, wie Puzzleteile fügten sie sich zusammen und der Nebel, der sonst immer ein stetiger Begleiter seiner Gedanken war, lichtete sich und gab die Sicht frei.
Er sah die Neugier in Peters Augen und lächelte. Ja, er konnte diese Geschichte erzählen, auch wenn seine Wiedergabe vielleicht nicht immer ganz stimmte. Aber er konnte sie erzählen.
„Nun", begann er, „im Grunde fing alles mit dieser verfluchten Atombombe an."
