Waterloo in Berlin

Lisa stand vor dem Spiegel und fuhr sich noch mal mit dem Lipgloss die Lippen nach. David stand ungeduldig an der Wohnungstür. Sie hätten schon vor 10 Minuten unterwegs sein müssen. „Bist Du dann bald soweit?" David erschien in der Badezimmertür. „Ja, gleich!" Lisa hatte überhaupt keine Lust zu der Präsentation dieses neuen Designers zu gehen. Wieder ein Abend an dem ich nur rum stehen und nett aussehen darf! Seitdem Lisa mit David fest zusammen war, hatte sich ihr Aussehen weiter verändert. Sie trug jetzt Kontaktlinsen und ihre Haare waren leicht aufgehellt. Sie warf noch mal einen Blick in den Spiegel und ging dann zu David.

Wenig später waren sie bei der Location angekommen. Die Präsentation hatte schon begonnen und so stellten sie sich hinter das sitzende Publikum an die Seite des Catwalks.

„Klasse, jetzt haben wir deinetwegen die Hälfte der Kollektion verpasst" raunzte David Lisa an. Er stand griesgrämig, wie so oft in letzter Zeit, neben ihr und sobald der Applaus verklungen war und die Bar geöffnet hatte, war er auch schon an diese verschwunden.

Na, toll. Wie befürchtet. Jetzt steh ich hier mal wieder alleine rum. Lisa ging ebenfalls in den Partybereich hinüber und holte sich an der 2. Bar etwas zu trinken. Sie hatte keine Lust David zu begegnen. Wenn sie Glück hatte, dachte er daran sie zu suchen, bevor er ging. Und wenn nicht dann fuhr sie eben mit dem Taxi nach hause. Es wäre nicht das erste Mal.

Wehmütig dachte sie an die erste Zeit mit David, nachdem sie Rokko, vor der geplanten Hochzeit mit ihm, hatte sitzen lassen. David hatte ihr seine Liebe beteuert und Lisa sah sich endlich am Ziel ihrer Träume. Ein Leben mit David. Ihr Traum hatte mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun. Schon wenige Monate nach dem Beginn ihrer Beziehung wurde David immer gleichgültiger ihr gegenüber. Sie kam sich vor wie eine Trophäe, die man nachdem man sie gewonnen hat, in einen Schrank stellt und einmal im Jahr zum abstauben herausholt. Yvonne hatte Recht! dachte sie während sie an ihrem Sekt nippte. Ich war für David nur ein Spielzeug, das er besitzen wollte, aber immer nur dann, wenn der Nachbarsjunge damit spielt! Diese Erkenntnis tat Lisa weh, denn sie hatte sich so sehr gewünscht, dass David sie wirklich liebte.

"Aua! Passen Sie doch auf!"

Lisa war mit jemandem zusammengestoßen. War ja nicht das erste Mal, dass ihre Träumerei sie in eine derartige Situation brachte. Sie saß auf dem Boden und rieb sich ihren Kopf an der Stelle, an der sie mit dem anderen kollidiert war.

"Das tut mir leid. Ist ihnen etwas passiert?"

Eine Hand wurde ihr entgegen gestreckt, um sie hochzuziehen. Sie griff danach und fühlte sich merkwürdig an etwas sehr bekanntes erinnert. Als sie aufblickte, wusste sie auch woran. Oder besser: an wen.

"Rokko..." kam es atemlos von Lisa.

"Lisa! Hallo. Schön dich wieder zu sehen", sprudelte es geradezu aus Rokko heraus. "Du siehst toll aus. Wie geht's dir denn?"

"Gut", log Lisa und hoffte, dass es dunkel genug war. Rokko hatte immer schon durch ihre Lügenversuche gesehen. "Und dir?"

"Hervorragend. Und bei Kerima? Alles im Lot?"

"Ja, unsere Präsentation ist auch bald. Vielleicht sieht man sich da wieder?"

"Ja, vielleicht. Also, ich muss leider schnell weiter. Bis dann!" Und schon war er wieder verschwunden. Lisa sah ihm noch nach. Er lief eilig zu einer jungen Frau mit schulterlangen blonden Haaren. Als er bei ihr angekommen war, gab er ihr einen sanften Kuss (einen sanften Rokko-Kuss) und setzte sich dann mit ihr auf eine Couch im Chill-out Bereich. Lisa konnte sie nicht mehr sehen. Sie wollte aber sehen... Also reckte sie ihren Kopf, bis sie sie gefunden hatte. Vorsichtig trat sie ein paar Schritte nach vorn, achtete aber darauf, dass sie nicht gesehen wurde. Sie hielt sich im Schatten einer großen Grünpflanze auf. Von hier aus konnte sie Rokko und seine Begleiterin gut beobachten.

Sie konnte ganz genau sehen, wie Rokko eine Erdbeere nahm und sie in den Mund der Frau, die ihre Augen geschlossen hatte, steckte. Dabei grinste er und hatte seine Zunge leicht durch seine Zähne gesteckt. Sie lachten und die Frau schlang ihre Arme um Rokkos Hals, um ihn zu sich zu ziehen. Rokko küsste den Erdbeersaft weg, der ein wenig an ihrem Mundwinkel herunter gelaufen war. Wieder schloss die Frau ihre Augen und Rokko nahm eine Chilischote vom Teller. Eine Chili... Lisa dachte an den Abend bei Rokko zurück, als er ihr die Chilischote zum Probieren in den Mund gesteckt hatte. Die Kissenschlacht, die darauf gefolgt war, hatte sie auf Rokkos Bett landen lassen. Lisa musste lächeln, als sie daran dachte, wie liebevoll Rokko damals akzeptiert hatte, dass sie noch nicht bereit war, mit ihm zu schlafen. Lisa seufzte innerlich. Ach, Rokko, ich hätte dir nie so wehtun dürfen.

Lisa sah sich jetzt Rokkos Begleitung genauer an. Die kenn ich doch! Oh, Gott! Das ist ja meine neue Assistentin. Lisa hatte erst am vergangen Morgen Melanie Förster als ihre neue Assistentin eingestellt. Und genau diese Frau lag jetzt dort in Rokkos Armen.

Lisa blieb keine Zeit sich von ihrem Schock zu erholen, denn plötzlich wurde sie recht unsanft am Arm aus ihrem Beobachtungsposten gerissen. David stand vor ihr. „Versteckst Du Dich vor mir?" er hielt sie immer noch am Arm und Lisa registrierte an seinen glasigen Augen und seinem aggressiven Tonfall, dass er ziemlich betrunken war. Nein, nicht schon wieder! Lisa wusste, dass sie keine gute Nacht vor sich hatte. Sie nahm David an der Hand und versuchte ihn möglichst unauffällig aus dem Raum zu bugsieren. Es war immer noch Presse anwesend und der besoffene Junior-Chef von Kerima wäre den Klatsch-Journalisten sicher eine Schlagzeile wert. Sie gingen an der Tanzfläche vorbei und David versuchte sie zu umarmen und zu den tanzenden Paaren zu drängen. „Nein, David, komm jetzt, wir gehen jetzt nach hause!" sie drängte ihn zurück. Dabei verlor David das Gleichgewicht und stieß gegen einen der Stehtische, die am Rand der Tanzfläche aufgestellt waren. Die draufstehenden Gläser fielen mit einem Riesenkrach zu Boden. Unzählige Augenpaare waren auf David und Lisa gerichtet, als Lisa ihm wieder beim aufstehen half.

Auch Rokko und seine Freundin hatten den Zwischenfall bemerkt. „Oh, das ist ja meine neue Chefin!" Melanie strahlte Rokko an. „Wie deinen neue Chefin?" er sah sie in einer Mischung aus Schock und Unglauben an. „Ja, ich hab es Dir noch nicht gesagt. Ich bin ab morgen die neue persönliche Assistentin von Lisa Plenske bei Kerima Moda." Sie gab ihm einen Kuss. Rokko reagierte nicht, sondern starrte gedankenverloren vor sich hin. „He, Du freust Dich ja gar nicht!" Das riss Rokko aus seinen Gedanken. „Doch, Schatz! Ich freu mich wirklich für Dich!" er grinste sie an. Melanie kuschelte sich wieder an seine Brust. Über Melanies Kopf hinweg beobachtete Rokko, wie Lisa David aus dem Raum schaffte. Tja, Lisa. So hast Du es gewollt! Er zog Melanie näher an sich.

Lisa hatte David endlich in den Vorraum gebracht. Nach dem Zusammenstoss mit dem Tisch hatte er sich nicht mehr allzu sehr gewehrt. Als sie ihr Jacken holte, bemerkte sie, dass sie ihre Tasche drinnen vergessen hatte. Sie setzte David auf einen Stuhl und ging noch mal in den Saal. Sie fand ihre Tasche hinter dem Blumentopf, von wo aus sie Rokko beobachtet hatte. Sie sah zu der Couch hinüber, doch die beiden waren verschwunden. Sie seufzte und machte sich wieder auf den Weg nach draußen. Als sie an der Tanzfläche vorbei kam, sah sie Rokko eng umschlungen mit Melanie tanzen. Jetzt erkannte sie auch das Lied, das die Band gerade spielte „You are so beautiful". Lisa stiegen die Tränen in die Augen. Sie riss sich von dem Anblick der beiden los und rannte fast aus dem Saal.