Disclaimer: Alles gehört Tolkien sowie seinen Erben und denen, denen sie die Rechte an Teilen davon bereits für teuer Geld verscherbelt haben. Mangels entsprechender Mittel gehöre ich nicht dazu. Es ist also nur geliehen, rein hobbymäßig und ich werde Tolkien immer verehren für das, was er da erschaffen hat.
A/N: Ich bedanke mich bei euch allen, die ihr mir mit den Reviews für die Heiler-Reihe Mut gemacht habt, meine Fehler gefunden habt und mir Anregungen gegeben habt. Diejenigen der Charaktere, die ich eigentlich killen wollte und die überleben durften, weil ihr sie so mochtet, bedanken sich übrigens auch.
Mittlerweile dürfte der Punkt gekommen sein, an dem man diese Story nicht lesen sollte, ohne zuvor die anderen zumindest mal zu überfliegen. Ich gebe mir aber Mühe, wenigstens ein paar Sachen aus den Teilen davor zu erklären, ohne dass es zu sehr eine Wiederholung wird.
Und wie immer eine tiefe Verbeugung an Amélie, meinen Fehlerfindel.
Und nun: Viel Spaß und schöne Weihnachten!
o
Heiler und Wanderer
1. Kapitel: Bitte nicht!
o
„Ich glaube nicht, dass er damit einverstanden ist."
„Er weiß ja gar nichts davon."
Gaellas zerbrach vor Schreck den Keks, nach dem er gerade erfolgreich in seiner Gürteltasche geangelt hatte. Ihm war ohnehin der Appetit vergangen. Sein König wusste nichts davon, dass seine Königin einen Ausflug in den Wald machen wollte? „Hoheit…"
Sie blieb nicht einmal stehen, sondern stürmte mit entschlossenen Schritten in die Stallungen, wo ein sehr gelassener Elb gerade ihre Pferde den sauberen Gang zwischen den ebenso sauberen Boxen entlang führte. „Trödelt nicht, Gaellas", rief sie über die Schulter. „Thranduil ist spätestens bei Einbruch der Dämmerung wieder zurück. Bis dahin müssen wir alles erledigt haben."
„Müssen wir das?" echote er schwach und fingerte nochmals an seinem Bogen und dem vollen Köcher mit Pfeilen herum, den er aus einer dunklen Ahnung heraus mitgenommen hatte – zusätzlich zu dem Schwert und den zwei Dolchen. Wer die Gemahlin Thranduils schützte, sollte in dieser Hinsicht immer stark gerüstet sein. „Vielleicht wartet Ihr doch besser, bis König Thranduil wieder da ist. Es könnte doch sein, dass er selbst Euch begleiten will."
„Werdet nicht albern!" schnaubte sie und erhielt dafür einen bewundernden Blick von ihrer Stute. Für eine Elbin konnte Varya erstaunliche Geräusche von sich geben, um ihre Stimmung kundzutun. „Thranduil würde niemals damit einverstanden sein. Habt Ihr auch alles?"
„Alles", bestätigte er seufzend und schwang sich auf sein Pferd. Den mitleidigen Blick des Stallburschen ignorierte er. „Auch wenn ich nicht genau weiß, was Ihr damit anstellen wollt."
Seine geliebte, heiß verehrte und manchmal mit dem Hang zum Wahnsinn ausgestattete Königin lächelte ihm zu. Gewöhnlich reichte das, um Gaellas zu einem richtig glücklichen Elb zu machen, diesmal jedoch fühlte er einen ungewohnten Druck in seinem Brustkorb. Möglicherweise kündigte sich damit diese seltsame Krankheit an, die die Sterblichen so plötzlich überkam wie der Pfeil eines Wegelagerers. Wenn er sich recht erinnerte, nannte man diesen schnellen Tod wohl Herzschlag.
Unbeeindruckt von den Qualen ihres Leibwächters befestigte Varya ihre große Ledertasche, deren Inhalt kein Angehöriger des Waldelbenvolkes wohl jemals vollständig erblickt hatte, auf dem Rücken ihres Pferdes, schwang sich dann selber hinauf und war schon fast durch das große Brückentor hinaus, als Gaellas seinerseits den etwas sperrig ausgefüllten Leinenbeutel untergebracht hatte, den sie ihm heute morgen sozusagen zwischen Tür und Angel ihres Arbeitszimmers in den Tiefen des Palastes in die Hand gedrückt hatte, und er endlich die Verfolgung aufnehmen konnte.
Während sich Gaellas in den nächsten zwei Stunden immer mal wieder einige Rosinen in den Mund schob, die er in der anderen Gürteltasche untergebracht hatte, damit sie sich nicht zu sehr mit den Keksen vermischten, die ja in einer weiteren Tasche aufbewahrt wurden, grübelte er nicht sehr erfolgreich darüber nach, was ihm wohl bevorstand.
Noch führte ihr Weg durch sichere und bekannte Gefilde. Varya hielt sich auf den bewachten Wegen, auch wenn es etwas bedenklich war, dass eine südliche Tendenz festzustellen war. Aber das musste nicht wirklich etwas bedeuten. Bis zur Alten Waldstraße konnte ihnen nur wenig zustoßen. Die Tawarwaith arbeiteten hart daran, die Wege bis zu den Grenzen des Reiches von allerlei dunklem Getier freizuhalten. Fledermäuse und schwarze Eichhörnchen waren bis zu dem Grad zurückgedrängt worden, an dem sie nur noch eine Plage darstellten. Schlimmer waren hingegen die Mordor-Falter, die zwar nur im späten Frühling und Sommer anzutreffen waren, dann aber zu einer großen Gefahr wurden, weil sie nur mit Feuer zu bekämpfen waren. Seit sie vor vier Jahren erstmals in Erscheinung getreten waren, hatten sie sich immer weiter vorgewagt und in immer größeren Mengen.
Gaellas erinnerte sich, wie im vergangenen Sommer bei der Vernichtung eines riesigen Schwarmes dieser tödlichen Biester ein Teil des Waldes in Flammen aufgegangen war. Mit Tränen in den Augen hatten die Elben dieses Opfer gebracht, um sich selber vor der wachsenden Bedrohung zu schützen. Gaellas fühlte wieder den Schmerz, den der Anblick der brennenden Buchen und Eichen in ihm ausgelöst hatte. Bei einer getrockneten Pfirsichscheibe aus der dritten Gürteltasche suchte er etwas Trost.
„Ihr solltet alles zusammenmischen." Varya hatte ihr Tempo etwas verlangsamt und ritt nun neben ihm. „Dann braucht Ihr nicht dauernd zwischen den Taschen zu wechseln."
„Rosinen und Kekse." Gaellas runzelte leicht die Stirn. „Meint Ihr wirklich?"
„Etwas mehr Wagemut, nehmt die Pfirsiche auch dazu", lachte sie und Gaellas vergaß einen Moment das neue Rezept, um ganz kurz Düsterwalds oberste Heilerin anzuhimmeln. Kein Wunder, dass Thranduil kein Mittel gescheut hatte, sie zu seiner Gemahlin zu machen. Man hatte da so einige Gerüchte gehört, die um die Vermählung in Imladris kreisten, aber selbst Gaellas, der zu diesem Zeitpunkt dort gewesen war, hatte eigentlich nichts Ungewöhnliches bemerkt.
Viel ungewöhnlicher fand er schon, dass Varya nun von dem vertrauten Weg abbog. Wenn ihn nicht alles täuschte, war dieser Teil des Waldes erst kürzlich als sehr unsicher bezeichnet worden. Gaellas kratzte sich an der Schläfe. Hauptmann Forlos hatte das erwähnt, bevor er sich auf diese geheimnisvolle Reise machte, auf die ihn Thranduil persönlich geschickt hatte. Allerdings hatte der Hauptmann eine ganze Menge Dinge aufgezählt, auf die Gaellas achten sollte, solange ihm Varyas Schutz anvertraut war.
Gaellas hatte die Hälfte davon schon wieder vergessen. Es war wirklich zuviel gewesen. Eigentlich war es ja auch gar nicht so schwierig, auf Varya aufzupassen. Wenn sie nicht gerade bei Thranduil war oder bei den anderen Heilern, verbrachte sie viel Zeit in ihrem Arbeitszimmer, das tief im Innern des Berges untergebracht war und von dem sich jeder, dem die normale Hautfarbe lieb war, sowieso fernhielt. Ein bisschen übertrieben, fand Gaellas, denn bislang hatte er keine größeren Gefahren feststellen können, die von Varyas Experimenten ausgingen. Das einzige, was seit einigen Tagen etwas störte, war der Geruch des neuen Heiltrankes, an dem sie wohl arbeitete.
Er schrak aus seinen Gedanken, als Varya plötzlich anhielt und von ihrem Pferd stieg. „Ist das unser Ziel?" erkundigte er sich verwundert und betrachtete wachsam den Wald, der hier dicht und dunkel war, sich also nicht wirklich vom Rest des Waldes unterschied.
„Nein." Varya hob ihre Tasche vom Rücken ihrer Stute und schickte das Tier mit einem leisen Befehl den Weg zurück. „Gaellas, Ihr könnt natürlich hier den Rest des Tages einfach stehen bleiben, aber lieber wäre mir schon, wenn Ihr mich begleitet. So ganz sicher bin ich mir nicht, dass das Mittel wirklich wirkt. Ich meine, es wirkt schon, aber ob es auch stark genug ist, werden wir erst gleich erfahren."
Sinnend betrachtete ihr Leibwächter einen Moment die Rosine, die er ganz in Gedanken hervorgezogen hatte. War es nicht seine Aufgabe, die Königin vor jeder Gefahr zu schützen? Thranduil würde es ihm wohl nicht einmal übel nehmen, wenn er sie jetzt einfach fesselte und dann in den Palast zurückschleifte. Es klang nämlich ganz so, als hätte sie etwas vor, dass der König auf keinen Fall gutheißen würde. Etwas sehr gefährliches, um genau zu sein.
„Denkt gar nicht erst daran", drang ihre sanfte Stimme mitten hinein in seine Überlegungen. „Ihr wisst doch, was man über uns Rhûna erzählt, oder nicht?"
Seufzend stieg er ab und schickte sein Pferd in die gleiche Richtung, in die schon das von Varya gelaufen war. Da ging es also hin, das treue Tier, sein Helfer für eine schnelle Flucht. Varya nickte ihm noch kurz zu und marschierte dann entschlossen tiefer in den Wald hinein, dicht gefolgt von ihrem Leibwächter, der nicht so wirklich wusste, was er hier eigentlich tat.
Gaellas kannte diesen Teil des Waldes zwar, hatte aber nur wenig Zeit darin verbracht. Niemand hielt sich eigentlich hier lange auf. Es war sehr alter Wald, mit ebenso alten Bäumen, die ständig schlechte Laune verbreiteten, dichtem Dornengestrüpp und wenig jagbarem Getier. Die Tawarwaith beschränkten sich darauf, in doch recht langen Abständen hier Kundschafter auszuschicken, die Ausschau nach üblen Einflüssen aus dem Süden oder schwarzen Kreaturen hielten. Erfahrungsgemäß traf man so gut wie nie auf irgendetwas davon, obwohl es natürlich diese Gerüchte gab, dass sich etwas verändert hätte.
Ihr Ziel war etwas, das man mit viel Phantasie als Lichtung hätte bezeichnen können. Im Grunde standen die Bäume hier nicht so dicht wie sonst und das Gestrüpp hatte sich etwas zurückgezogen, da diese Art von Dornbüschen Sonnenlicht nicht besonders schätzte. Stattdessen bedeckte den Boden auf dem vielleicht dreißig Schritte durchmessenden Fleck eine Schicht aus Moos und Gras, die bis in die Nähe der alten Eiche reichte, die hartnäckig ihren Platz in der Mitte der Lichtung verteidigte.
„Perfekt!" verkündete Düsterwalds Königin und begann, in ihrer Umhängetasche zu kramen. „Gaellas, setzt den Hut auf."
„Den was?"
„Dieses runde Ding, das Ihr in dem Beutel finden werdet", erklang es ungeduldig und etwas gedämpft, weil sie bereits ein Tuch hervorgezogen und sich um die untere Gesichtshälfte gebunden hatte, um es weiter um den Rest ihres Kopfes zu winden.
Misstrauisch untersuchte er den Inhalt des Beutels und zerrte an einer Fackel vorbei eine Art Strohschüssel heraus, um deren unteren Rand ein feines Netz gebunden war. Als er das Gebilde probeweise auf seinen Kopf stülpte, hoffte er nur inständig, dass sich gerade keine Kundschafter in der Nähe aufhielten. Er würde auf Jahre unter den Kriegern für Erheiterung sorgen in diesem Aufzug.
„Sehr schön!" befand stattdessen seine Königin und baute sich vor ihm auf, um das Netz sorgfältig vor sein Gesicht zu ziehen und unter seinem leichten Lederharnisch festzustecken. Zu guter Letzt klopfte sie ihm zufrieden gegen die Brust. „Ich glaube nicht, dass Euch jetzt noch etwas schaden kann. Zieht Eure Handschuhe an und versteckt Euch in dem Dorngestrüpp da drüben. Da kommen sie nicht durch. Wenn etwas passiert, entzündet Ihr die Fackel und vertreibt sie."
„Wen?" Eigentlich wollte er die Antwort gar nicht wissen.
„Die Mordor-Falter."
„Hoheit! Nein!"
„Zu spät!" grinste sie boshaft. „Sie sind jeden Moment da. Da müssen wir jetzt durch, mein Lieber. Vertraut mir einfach. Und vergesst nicht, Eure Handschuhe anzuziehen, man kann ja nie wissen."
Gaellas rang noch einen Moment die Hände, ihm war sogar der Appetit vergangen, so hoffnungslos erschien ihm das Ganze. Varya machte nun wirklich nicht den Eindruck, als würde sie sich von ihrem Vorhaben abbringen lassen. Eher im Gegenteil – sie stand schon dicht vor der Eiche, hatte bis auf einen schmalen Sehschlitz im Gesicht so ziemlich jeden Teil blanke Haut abgedeckt und hantierte nun mit einer Sprühflasche, mit der sie sich in eine Wolke kleiner Tropfen hüllte. Gaellas hustete leicht, als ein Windhauch einen wirklich üblen Geruch zu ihm trug. Das war der Gestank, der schon seit Tagen die unteren Palastebenen verpestete, nur sehr viel intensiver.
Wenn seine Logik ihn nicht im Stich ließ, hatte also der kostbarste Schatz, den König Thranduil sein Eigen nannte, vor, sich mitten in eine Wolke Mordor-Falter zu stellen und dabei auszuprobieren, ob einer ihrer Zaubertränke geeignet war, diese Biester zu vertreiben. Gaellas stellte sich nur einen kurzen Moment vor, wie König Thranduil ihm nach und nach jeden einzelnen Knochen brach, dann die Ohren, Nase und Finger abschnitt als Rache dafür, dass er nicht besser auf Düsterwalds Königin geachtet hatte. Gaellas war zwar nicht mehr ganz jung, aber eindeutig jung genug, um noch nicht den Tod als willkommenen Freund in die Arme zu schließen.
Ebenso entschlossen wie Varya holte er ein grünlich schimmerndes Seil aus dem Beutel, das Varya zwar eingepackt, aber dessen Verwendung offenbar vergessen hatte und marschierte zu ihr rüber.
„Ihr sollt Euch doch in Sicherheit bringen", rief sie verärgert.
„Gleich", grollte er und schlang ihr das Seil um die Taille, um es mit einem festen Knoten zu sichern. „Wenn ich merke, dass Euer Mittel, das wirklich grauenhaft stinkt, nicht wirkt, ziehe ich Euch sofort zu mir. Ob Ihr wollt oder nicht!"
„Ihr klingt fast wie Forlos!"
„Hoffentlich!"
Auf dem Rückweg überlegte er, ob er sie nicht einfach sofort wegziehen sollte, ließ es dann aber besser bleiben. Varya in Wut war wahrscheinlich auch nicht viel harmloser als Thranduil selbst. Außerdem konnte es ja wirklich gut gehen und dann blieben ihnen in Zukunft die hohen Verluste bei der Abwehr der Mordor-Falter erspart. Wie genau das Mittel wirkte, war ihm zwar nicht ganz klar, aber Rhûnar-Zauberei war sowieso immer etwas merkwürdig. Verlässlich, aber eindeutig merkwürdig…
Fluchend bahnte sich Gaellas einen Weg in den Dornbusch. Dieser alberne Hut blieb dauernd an den langen Dornen hängen, seine Waffen waren auch nicht gerade leicht durch die regelrecht verfilzten Ranken zu manövrieren und nebenbei musste er das Seil auch noch so platzieren, dass er mit einem einfachen Ruck für eine sofortige Rückreise seiner Königin sorgen konnte, ohne es erst entwirren zu müssen. Schließlich lag er auf dem Bauch, vor sich in den Händen das Seil und spähte unter dem Rand des Hutes, leicht sichtbehindert durch das Gestrüpp selbst und den Schleier in Richtung Eiche, wo Varya breitbeinig, die Hände in die Hüften gestützt auf den Falter-Schwarm wartete.
Und so warteten sie also.
…und warteten.
Mit leichter Mühe schob Gaellas seine Hand in die Kekstasche und zog ein zerdrücktes Exemplar heraus. „Woher wollt Ihr eigentlich wissen, dass sie hierher kommen?" rief er zwischen zwei Bissen.
„Sie wurden hier gesichtet", schrie sie zurück und zupfte ihre Handschuhe zurecht. Varya trug wieder die widerstandsfähige grauschwarze Lederkleidung aus Rhûnar, die hoffentlich die Attacken der Falter überstehen würde. „Wenn man alles zusammenzählt, was wir inzwischen über die Biester wissen, bevorzugen sie in der Mittagswärme Plätze wie diesen. Komisch eigentlich, wenn man bedenkt, dass sie aus der Dunkelheit stammen."
„Ja, sehr komisch." Gaellas zog eine Grimasse und schluckte die letzten Reste seines Gebäcks herunter. Sein feines Gehör hatte eine Art Rauschen ausgemacht und seine letzte Hoffnung schwand dahin, dass dieser Ausflug einfach enden würde, ohne den scheußlichen Kreaturen zu begegnen.
Einen Atemzug später verdunkelte sich der Himmel. Gaellas hob den Kopf und blickte gegen die Innenseite seines Hutes. Gut gearbeitet und damit blickdicht. Er fluchte wieder und schob das Korbgebilde etwas in den Nacken. Sofort verhedderte sich der Schleier in einer Ranke und für einen Moment brach ein wilder Kampf zwischen dem Elb und den Dornen aus. Als er endlich wieder freie Sicht auf die Lichtung hatte, stockte ihm der Atem.
Ein Schwarm - der größte, den er je erblickt hatte – senkte sich gerade von oben auf Varya herab. Mit dieser Menge schien sie ebenfalls nicht gerechnet zu haben, denn sie begann, wild mit den Armen in der Luft zu wedeln und herumzutaumeln. Sofort zog sie dabei das Seil zu sich heran, das Gaellas bei seinem Kampf mit den Dornen nur für einen Moment losgelassen hatte und es verschwand jenseits des Gestrüpps, um sich wie eine betrunkene Schlange unberechenbar über den Boden zu winden.
Mit einer Hand versuchte er das Seilende zu erreichen, das fröhlich vor seinen zupackenden Fingern hin und her tanzte, mit der anderen Hand griff er zur Fackel, die leider noch nicht brannte. Aber darüber würde er sich später Gedanken machen. Vielleicht war es auch ganz gut so, bevor er als der Elb im brennenden Dornbusch in die Sagen seines Volkes einging. Varya stand aufrecht, wenn er die Form der Falter-Wolke richtig deutete. Verwunderlich genug, denn normalerweise reichte das Puder auf den Flügeln dieser kleinen Monster aus, schon bei der kleinsten Berührung die Beute in einen tiefen Schlaf zu versetzen.
„Gaellas!" erklang es gedämpft, aber triumphierend aus dem Gewimmel von dunklen Flügeln und schmuddeliggrauen Puderschwaden. „Es funktioniert! Das Pulver kann mir nichts mehr anhaben!"
Zeit für eine Antwort hatte er nicht. Gegen die Dornen half nur noch rohe Gewalt. Ohne Rücksicht darauf, dass der Schleier zerriss, der Hut an einer Ranke hängen blieb und sich unzählige Dornen in seine Haut bohrten, kämpfte sich der Elb durch das Gestrüpp. Irgendwie beschlich ihn das ungute Gefühl, dass das Schlafpulver nicht die einzige Gefahr war, die von den Faltern ausging.
„Gaellas!" Jetzt klang Varya schon etwas unsicherer. „Die sollten eigentlich sterben, diese Biester. Oh! Gaellas! Sie BEISSEN!"
Er hätte sie beruhigen können. Die Falter starben tatsächlich, aber es dauerte, bis einige tausend, aus denen dieser Schwarm bestand, ihr Ende fanden. Viele taumelten zwar schon halb tot zu Boden, aber es waren immer noch genug um Varya herum, um sich wütend auf sie zu stürzen und immer da, wo im Eifer des Gefechts die Tücher und Kleidung verrutscht waren, ihre spitzen Zähne in ihr Fleisch zu schlagen. Sie wurde bei lebendigem Leib aufgefressen, in sehr kleinen Happen.
Der Verzweiflung nahe brach Gaellas durch die letzten Schichten des Gestrüpps und bekam mit einem Hechtsprung endlich das Seilende zu fassen. Mit einem heftigen Ruck zerrte er die schreiende, zappelnde Gestalt seiner Königin zu sich heran. Es überlief ihn kalt, als er den Rest des Schwarms erblickte, der sich dicht über dem Waldboden sammelte und offenbar bereit machte, eine neue Attacke gegen die beiden Elben zu fliegen.
Gerade als der Schwarm sich zu einer Art hektisch flatternder Kugel zusammenballte, erklang ein vertrautes Geräusch. Flammende Linien kamen aus allen Richtungen der Lichtung und durchschnitten den dicht gedrängten Schwarm, um ihn dabei zu entzünden. Die feinen Flügel der Falter loderten kurz auf, entzündeten andere in ihrer Nähe und zerfielen zu feiner Asche. Die wenigen, die dem Feuer entkamen, suchten sofort ihr Heil in der Flucht.
Einen Augenblick herrschte Ruhe. Gaellas atmete einmal tief durch und stürmte dann vor, um Varya freizuschaufeln, die unter einer dicken Schicht toter Falter begraben nur noch einige Schritte von ihm entfernt lag. Blut, Asche und Schlafpulver verbargen ihre Gesichtszüge, nur ihre Augen strahlten sehr grün und sehr zufrieden.
„Ihr seht ziemlich zerzaust und verkratzt aus", stellte sie dann hustend fest.
„Das dürfte seine geringste Sorge sein!"
Gaellas erstarrte, Varya hustete noch mehr und gleichzeitig wandten sie beide den Kopf in die Richtung, aus der die vertraute und ausgesprochen zornige Stimme gekommen war.
‚Schiff nach Westen' schoss es Gaellas durch den Kopf, bevor er hastig auf die Beine sprang und Varya gleich mit sich zog. Mit langen Schritten überquerte Thranduil Oropherion die Lichtung, Haltung und Gesichtsausdruck das verkörperte Verderben. Vor den beiden Überlebenden des Falter-Experimentes blieb er stehen und bleckte die Zähne wie ein Wolf.
„Es ist meine Schuld", stammelte Gaellas nach dem ersten Schock.
„Das weiß ich", knurrte der König, ohne ihn anzusehen. „Wir beide unterhalten uns später. Geht mir jetzt besser aus den Augen."
Es gab Befehle, die man unter keinen Umständen in Frage stellte. Gaellas neigte noch leicht den Kopf, ließ Varya los, in der Hoffnung, dass sie nicht umfallen würde und hastete dann an den Rand der Lichtung, wo sich einige Krieger eingefunden hatte, die ihm mit einer Mischung aus Mitleid und Schadenfreude in Empfang nahmen.
„Hast du eigentlich den Verstand verloren?" füllte Thranduils erboste Stimme wahrscheinlich die Hälfte des Düsterwalds aus. „Diese Biester hätten dich umbringen können!"
„Ich schätze, du hast Recht." Varya klang nicht unbedingt so verängstigt, wie man sich angesichts eines zornbebenden Königs fühlen sollte.
„Wie war das?"
„Du hast Recht", wiederholte sie ganz sanft und die Krieger grinsten hinter Thranduils Rücken verstohlen.
„Das ist ja ganz was Neues." Thranduil wirkte etwas irritiert.
„Aber für einen ersten Versuch hat es doch fabelhaft geklappt", lächelte Varya, bevor sie sich mit einem tiefen Seufzer gegen ihn sinken ließ. „Ich würde aber jetzt doch gerne in den Palast zurück reiten und ein Bad nehmen."
„Gute Idee", war die knurrige Antwort. „Du stinkst wie ein Iltis!"
o
o
Haldir packte zu, bevor sein ohnehin schon nicht mehr sehr gut gelaunter Begleiter den Fuß auf den undefinierbaren Haufen setzte, der die Straße zierte und sich dabei die Stiefel ruinierte. „Vorsicht!"
Forlos machte einen Ausfallschritt und murmelte einen Fluch, den Haldir noch nicht kannte. Dabei war er davon ausgegangen, den Bestand übelster, aber auch interessanter Flüche und Verwünschungen des Tawarwaith in den letzten Tagen recht gut kennen gelernt zu haben.
„Gehen wir wieder zurück", meinte Loriens ranghöchster Krieger nach Celeborn selbst verständnisvoll und schlug sogleich den Weg in Richtung der Taverne an, in der sie sich vor vier Tagen einquartiert hatten, um auf das zu warten, was ihnen sowohl Thranduil als auch Celeborn angekündigt hatten.
Haldir korrigierte sich, während er einigen denkbar schmutzigen Gestalten auswich, die diesen Teil der Ansiedlung bevölkerten, die von den Sterblichen in einem Anflug von Größenwahn Stadt genannt wurde. ‚Hellheim' um genau zu sein, wobei Haldir hier weder etwas Helles noch ein Heim hatte erkennen können. Vielleicht hatten sie an den falschen Plätzen gesucht, doch eigentlich war er sich sicher, bereits jeden Teil dieser konzentrierten Mischung von sterblichem Abschaum gesehen zu haben. Haldir hatte von Hellheim gehört, es bislang aber immer tunlichst vermieden, diesen angeblichen Handelsposten aufzusuchen.
Der Ort war auf eine seltsame Art losgelöst von jeder Art von Ordnung, die selbst in den Reichen der Sterblichen zu finden war. An der Grenze zu Rohan, aber nicht wirklich dazugehörig, versammelte sich in den verwinkelten Gassen, die vor Unrat nur so überquollen, alles, was in diesem Teil der Welt Geschäfte machte, die nicht immer gut genannt werden konnten. Die Lage war dafür ideal – der Anduin war in Sichtweite, die größten Bedrohungen aus dem Osten durch ihn auch noch zurückgehalten. Rohan stellte eine Art Bollwerk gegen Gefahren aus dem Süden dar und aus dem Norden kamen nur gelegentlich Reisende, die zumeist auf einem der Schiffe den sicheren Wasserweg nahmen.
Jetzt, im Frühling nach der Schneeschmelze, versank die Stadt mit ihren unbefestigten Wegen in Schlamm. Man musste schon ein Elb sein, um halbwegs sauber überhaupt den Weg von einem Gebäude zum nächsten zurücklegen zu können. Immer wieder kreuzten bis zu den Knien verdreckte Gestalten den Weg der beiden Hauptmänner, die ihre Umhänge um sich geschlungen und die Kapuzen tief in die Gesichter gezogen hatten. Anfangs hatten sich ein paar Unerschrockene gewagt, die beiden auf ihren Streifzügen anzusprechen und Waren anzubieten, die Haldir nicht einmal mit zwei Lagen Handschuhen übereinander angefasst hätte, aber mittlerweile ließ man sie in Ruhe. Die Menschen, deren vom Winter noch fast gräulich verhärmte Gesichter nur selten die Gier vermissen ließen, die alle hier anzutreiben schien, waren wohl genug seltsame Dinge gewöhnt und nahmen die Gegenwart der beiden Elben nun recht gelassen hin.
„Was beschäftigt dich?" erkundigte sich Forlos, als Haldir leicht den Kopf schüttelte.
„Ich frage mich, ob ich diese Menschen hier dafür bewundern soll, dass sie sich nicht mehr über uns wundern, oder eher beunruhigt sein sollte, dass sie so abgebrüht sind."
„Ignorier sie", war der knappe Kommentar.
„Nicht einfach, wenn man bedenkt, wie sie riechen."
Forlos lachte leise, um sofort wieder ernst zu werden. „Frag dich lieber, auf was wir hier warten."
„Das mache ich ohne Unterlass." Haldir stieß die Tür der Taverne mit dem Fuß auf und drückte sich dann an den fast bis zur Klinke mit Schlamm bespritzten Holzbohlen vorbei, die man nicht gerade ein Meisterstück der Schreinerkunst nennen konnte.
Freiwillig hätte keiner der beiden auch nur einen Fuß in diese Absteige gesetzt, doch die Anweisungen waren eindeutig gewesen, hatten sie festgestellt, als sie sich wenige Tagesritte vor Hellheim getroffen hatten. Sowohl Thranduil als auch Celeborn hatten ihnen befohlen, sich in der Taverne mit dem zerbrochenen Schild einzufinden und dann zu warten, bis sie weitere Nachricht erhielten. Das zerbrochene Schild war nicht zu übersehen, denn es hing gefährlich dicht und nicht sehr vertrauenerweckend an verrosteten Haken direkt über dem Eingang. Nun fehlte nur noch die Nachricht, wegen derer man sie herbestellt hatte. Wichtig musste sie in jedem Fall sein, denn warum sonst sollten die Herrscher der beiden Reiche ausgerechnet ihre Hauptmänner herschicken.
Aken, der Wirt der Taverne, sah kurz aus dem Raum, der die zweifelhafte Küche dieser Lokalität beherbergte. „Ihr habt Besuch", brummte er und deutete mit einer Bewegung seines absolut haarlosen Schädels in Richtung des Schankraumes. „Kommen noch mehr von Eurer Sorte in den nächsten Tagen oder was ist hier los?"
Haldir traute sich zwar durchaus zu, den Koloss niederzuschlagen für seine unverschämte Art, aber der Gedanke, dafür der Schmierschicht dieses Mannes zu nahe zu kommen, schreckte ihn nach wie vor ab. Also nickte er nur stumm, tauschte einen erwartungsvollen Blick mit Forlos, der schon einmal vorsichtshalber den Umhang so zurückgeschlagen hatte, dass er besser zu seinem Schwert greifen konnte und marschierte in den Schankraum.
Diese düstere Bude war um Längen passender für eine Räuberspelunke, als es der abgebrannte ‚Krumme Hund' nahe Bruchtal je hätte sein können. Zu einer festen Masse verklebte Binsen, die seit dem Bau des Gebäudes wohl nicht mehr gewechselt worden waren, bedeckten den Boden des niedrigen Raumes. Balken und Bretter teilten ihn in viele kleine Abteilungen entlang der Wände, während die Mitte des Raumes frei war. Hier fanden beinahe jeden Abend wilde Raufereien statt, die nicht selten damit endeten, dass irgendjemand nur noch halb lebendig am Boden liegen blieb und die Binsenschicht mit frischer roter Farbe vollblutete.
Selbst die beiden Elben brauchten eine Weile, bis sich ihre Augen an das dämmrige Licht gewöhnt hatten, das von einigen verdreckten Öllampen an der Decke stammte und nur durch wenige Strahlen ergänzt wurde, die sich durch die halbblinden Scheiben der zwei Fenster kämpften. Zu mehr hatte der Wagemut des Erbauers dieses Hauses wohl nicht gereicht. Außerdem machten sich schlecht dunkle Geschäfte, wenn die Sonne im Raum herumtanzte. Aken legte viel Wert auf Atmosphäre.
Langsam durchquerten die Hauptmänner den Schankraum und suchten dabei unauffällig nach dem Gast, der auf sie warten sollte. Schließlich richteten sich beinahe gleichzeitig ihre Blicke auf eine der wirklich fast komplett im Dunkel des Raumes gelegenen Nischen, über der eine Art unsichtbare Wolke der Missbilligung zu schweben schien.
Forlos nahm die Hand wieder vom Schwertgriff und beeilte sich, den Tisch des Neuankömmlings zu erreichen. So wie Haldir konnte er sich gerade noch zurückhalten, bei der Begrüßung mit der diesem Elb angemessen tiefen Neigung des Kopfes die Neugierde der übrigen Gäste noch mehr zu wecken. Der andere knurrte leicht und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, sich zu ihm zu setzen.
„Dies-„ verkündete er und seine Stimme vibrierte leicht vor Widerwillen, „ist der mieseste Gasthof, den ich jemals gezwungen war, aufzusuchen. Und ich habe schon so einige besucht."
Nach den Erfahrungen ihrer letzten Begegnung hatte Haldir daran auch nicht den geringsten Zweifel. „Wir haben Euch erwartet, Lord Erestor."
„Ach wirklich?" Der Noldo lehnte sich leicht vor und das Licht der Öllampe verlor sich in den tiefschwarzen Augen. „Dann wisst Ihr offenbar etwas, das ich nicht weiß. Eigentlich führte mich mein Weg nämlich in diese Abfallgrube, um jemand ganz anderen zu finden."
Die beiden Hauptmänner schwiegen verblüfft. Erestor war nicht derjenige, den sie treffen sollten, soviel war also klar. Elronds Seneschall spielte gewöhnlich keine Spiele.
„Aber…" Forlos winkte ganz gegen seine Gewohntheit dem Schankmädchen zu, damit es ihnen etwas zu trinken brachte. „Und warum seid Ihr dann hier?"
„Erklärt mir lieber, warum Ihr hier seid!" forderte Erestor und trommelte leicht mit den Fingern auf der Tischplatte herum. „Kaum habe ich meinen Fuß in dieses Haus gesetzt, kommt dieser Berg von einem Wirt auf mich zu und raunzt mich an, dass ‚meine Freunde' gerade unterwegs sind und ich solange hier warten soll."
„Was Ihr dann auch getan habt", ergänzte Haldir mit hochgezogenen Brauen. „War das nicht etwas riskant, wenn Ihr gar nicht wusstet, um wen es sich handelt?"
„Riskant?" Erestor legte den Kopf ein wenig zur Seite. „Vielleicht ebenso riskant, wie der Aufenthalt zweier hochrangiger Krieger hier? Was hat Celeborn veranlasst, Euch herzuschicken, Hauptmann? Habt Ihr versehentlich seinen angeberischen weißen Bogen zerbrochen? Und Ihr, Forlos? Kleinen unerlaubten Ausflug in Thranduils Weinkeller gemacht?"
Haldir erstarrte einen Augenblick bei der Vorstellung, die Erestor da ausmalte. Celeborns weißer, mit durchbrochenen Mithril-Ranken umhüllter Bogen war ein Heiligtum. Galadriel hatte vor langer Zeit nur halb im Scherz geseufzt, sie wünschte sich, dass der Herr Loriens sich niemals zwischen ihr und der Waffe entscheiden musste, wenn ihr Leben davon abhing. Im Gegensatz dazu war Glorfindels Besessenheit von Gil-Galads Schwert nur eine harmlose Marotte.
„Wir sollen auf eine Nachricht warten", erklärte Forlos ungerührt. Ein Überfall auf Thranduils Weinkeller war offenbar nicht so schrecklich, wie Erestor annahm. „Und was führt Euch dann her?"
„Ich suche jemanden", wiederholte Erestor und betrachtete interessiert die Becher, die das Schankmädchen vor ihnen abstellte. Die Krüge glänzten und blitzten vor Sauberkeit. Er warf ihr eine Münze zu und sie lächelte strahlend, wobei sie eine nicht mehr ganz vollständige Zahnreihe enthüllte. Erestor seufzte nur und goss sich etwas von dem schweren Wein ein.
„Jemanden?" bohrte Forlos weiter und fing sich einen düsteren Blick des Seneschalls ein. „So weit unten im Süden?"
Haldir verdrängte das Bild des zerbrochenen Bogens erfolgreich und nahm einen Schluck Wein. So langsam dämmerte ihm, was Elronds Vertrauten herführte und es beruhigte ihn nicht besonders. „Ihr solltet ihn nicht alleine suchen."
„Ich werde ihn alleine töten, also kann ich ihn auch alleine suchen", lächelte Erestor kühl.
„Und er soll hier sein?"
„Er nicht, aber jemand, der ihn gut kennt."
„Doch nicht etwa das Mädchen?" schnaubte Forlos kopfschüttelnd. „Sie wird längst tot sein."
„Unterschätzt niemals die Lebenskraft der Sterblichen", wischte Erestor den Einwand beiseite. „Hestia ist hier und Eure Anwesenheit macht es mir nicht einfacher, sie zu finden. Sie wird sich sofort im nächsten Loch verkrochen haben, als sie von den zwei Elben hörte, die in Hellheim herumstreifen."
Ein leises Lachen erklang aus der angrenzenden Nische. „So alt und dennoch so nachtragend", erklang es dann in Sindarin. „Ihr könnt Eure Abstammung einfach nicht verleugnen, Erestor von Imladris."
Haldir gestand sich ein, dass er nun einen der seltenen Momente seines Lebens durchmachte, in dem ihm die Worte fehlten. Nicht nur die Worte, er saß einfach wie erstarrt da und war nicht einmal in der Lage, zu seinen Waffen zu greifen. Wer auch immer dort saß, er hatte jedes Wort verstanden und noch war nicht klar, ob es Freund oder Feind war. Nicht nur ihm erging es so, auch Forlos hielt seinen Becher mitten in der Luft vor sich, die Augen starr auf die Trennwand gerichtet. Einzig Erestors Lippen verzogen sich zu einem sparsamen Lächeln.
„Gehört das Belauschen fremder Gespräche neuerdings zu Eurem Zeitvertreib?" fragte der Noldo dann voller Spott ihren unbekannten Zuhörer.
„Etwas, das auch Euch vertraut sein sollte." Nebenan raschelte Stoff, dann schob sich eine seltsame Gestalt vor das Licht des Schankraums. Ihr Zuhörer war groß, irgendwie unförmig, als trüge er viele Lagen Stoff am Leib und auf seinem Kopf thronte ein Hut, rund wie ein Wagenrad wo er auf den langen, grauen Haaren saß und spitz zulaufend mit einem leichten Knick im oberen Drittel. „Nun, Ihr Herren Elben, habt Ihr an Eurem Tisch noch Platz für einen alten Zauberer?"
„Mithrandir", sagte Haldir leise in Forlos' Richtung. „Du wirst von ihm gehört haben."
„Gehört ja", bestätigte der Waldelb und rückte etwas zur Seite, damit sich der Istar einen Stuhl heranziehen konnte. „Aber noch nie begegnet."
„Wartet mit dem Urteil, ob dies bislang ein Versäumnis oder ein Glücksfall für Euch war", riet ihm Erestor mit einem grimmigen Lächeln.
Gandalfs hellblaue Augen strahlten vor Vergnügen. „Nein, Ihr verändert Euch wirklich nicht mehr. Ein beruhigendes Gefühl, dass doch einiges so bleibt, wie es ist."
Haldir räusperte sich. „Mithrandir-„
„Gandalf", wurde er von dem Zauberer unterbrochen. „So kennt man mich hier."
„Ich finde es bezeichnend, dass man Euch hier überhaupt kennt", kommentierte Erestor bissig.
„Allerlei seltsames Volk trifft sich in Hellheim", parierte Gandalf noch vergnügter. „Nicht wahr, Erestor? Deswegen seid Ihr doch wohl an diesem Ort und fallt genauso wenig auf wie ich."
Die beiden Hauptmänner wechselten einen langen Blick. Das konnte ja heiter werden. Wenn die zwei weiter Komplimente austauschten, würden weder Celeborn noch Thranduil in naher Zukunft die Nachricht erhalten, auf die sie so angespannt warteten.
„Ich stelle fest, dass die zwei jungen Krieger ungeduldig werden", schmunzelte Gandalf.
Haldir wölbte eine Braue. Junge Krieger…so hatte man ihn schon länger nicht mehr genannt. „Ich denke dabei eher an Herrn Celeborn und König Thranduil."
„Sie werden sich wünschen, die Nachricht nie erhalten zu haben", lautete die plötzlich sehr unheilschwangere Antwort. „Doch wir sollten nicht hier darüber reden. Wer weiß schon, welche Ohren zuhören. Und Ihr könnt ruhig mitkommen, Erestor. Erfahren hättet Ihr es ohnehin."
„Wie beruhigend, Gandalf."
Gandalf packte seinen Holzstab aus silbrig verwitterter Eiche und überhörte geflissentlich Erestors Kommentar. Energisch verließ er den Schankraum und rempelte dabei mit Leichtigkeit den massigen Wirt um, der heraneilte, um zwei Raufbolde zu trennen, die schon zu dieser frühen Stunde mit einem Faustkampf angefangen hatten.
o
o
Es hatte etwas Tröstliches, wieder vertraute Sterne an diesem klaren Nachthimmel zu erblicken. Nicht, dass die Zeit so tief im Osten verschwendet gewesen war, im Gegenteil – Aragorn hatte sie genossen. Es gab viel zu entdecken jenseits des Meeres von Rhûn und trotz der langen Monate, die er dort mit Legolas und Galen herumgewandert war, hatte er nur einen kleinen Teil dieser fremdartigen Gegend kennen gelernt. Wilde Völker lebten dort, deren Sitten es wohl in keinem anderen Teil dieser Welt gab.
Aragorn rückte ein wenig auf dem harten Boden hin und her, bis er es bequemer hatte. „Habt ihr nicht auch die Sterne vermisst?"
„Estel", seufzte Legolas, der zu seiner Linken lag. „Du willst jetzt nicht wirklich mit uns über die Sterne reden?"
„Doch, will er", kam es von Galen, der den Platz zu Aragorns Rechten belegte.
„Ich versuche nur, mich zu entspannen", verteidigte sich Aragorn.
„Genau das, auf was es hier ankommt", knurrte der Waldelb. „Entspann du dich nur, Galen und ich versuchen inzwischen, aus diesem Schlamassel rauszukommen."
Aragorn hob etwas den Kopf und ließ seinen Blick über die Szenerie gleiten, die Legolas nicht ganz zu Unrecht als Schlamassel bezeichnet hatte. So richtig konnte er sich immer noch nicht erklären, wie das überhaupt hatte passieren können. Dabei war die Grenze zum Düsterwald höchstens noch einen Tagesritt entfernt. Eine von so verlässlichen Kriegern wie Caeril bewachte Grenze, die die Lösung aller ihrer Probleme sein würde.
„Ein Messer würde uns schon weiterhelfen", überlegte Galen.
„In der Tat." Legolas' Stimme troff vor Sarkasmus. „Vorausgesetzt, wir könnten uns zuvor von den Fesseln befreien, um es in die Hand zu nehmen."
„Das war nicht sehr hilfreich", schnappte Galen und hüllte sich in beleidigtes Schweigen.
Aragorn fühlte mit ihm. Legolas hatte wirklich seit einiger Zeit sehr üble Laune. Um genau zu sein, hatte sich seine Laune abrupt verschlechtert, als sie der Horde Orks in die Hände gefallen waren. Vielleicht waren sie ein bisschen unvorsichtig geworden, weil ihr Ziel doch schon so nah gewesen war. Sie hatten einige Abenteuer zusammen im Osten überstanden und einfach nicht mehr damit gerechnet, dass ihnen so nah am Düsterwald noch etwas passieren konnte. Fünfzig Orks, die sich ungewohnt leise in der Nacht an ihr Lager geschlichen hatten, waren dann doch eine Überraschung gewesen, die sehr schnell damit endete, dass die drei nun verschnürt wie Stoffballen am Rande des Lagers der Orks lagen und darauf warteten, zum Abendessen verspeist zu werden.
Darum jedenfalls schien sich die lautstarke Auseinandersetzung der bösartigen Kreaturen zu drehen, die sich schon eine ganze Weile hinzog. Es waren gefährliche Burschen, nicht mit Borzo zu vergleichen, alle schwer bewaffnet und so blutrünstig, dass es förmlich zu spüren war. Zu Aragorns Glück war der Hass auf die Elben größer als auf einen Sterblichen und so hatten seine beiden unsterblichen Begleiter einen Großteil der Hiebe und Tritte eingefangen, mit denen sie die Orks während der Nacht weiter durch die Ebene getrieben hatten.
„Sie scheinen sich einig zu sein", stöhnte Galen, als sich einer der Orks aus der Gruppe löste und mit schlurfenden Schritten zu ihnen kam. „Ich wünschte fast, Elladan wäre hier und hätte einen seiner Pläne."
„So verzweifelt ist unsere Lage nun auch nicht", murmelte Legolas.
Der Ork blieb zwei Schritte vor ihnen stehen und schlenkerte irgendwie unschlüssig mit den Armen. Ein Büschel hellen, verfilzten Haares wuchs mitten auf seinem Kopf und hing ihm bis über die Augen, die hinter diesem Schleier ungewohnt rotgolden schimmerten. Ratlosigkeit spiegelte sich darin. Im Gegensatz zu seinen Mitorks war er beinahe ordentlich gekleidet, zumindest bedeckten verlumpte Kleidungsstücke einen Großteil seiner unappetitlich glänzenden Haut. Der Teil, der zu sehen war, wies Flecken und Narben auf, sicher nicht immer Zeichen kriegerischer Auseinandersetzungen. Unter den Orks selbst ging es keineswegs harmlos zu. Eine wilde Keilerei, die unter den anderen gerade ausbrach, war der deutlichste Beweis dafür.
Der Ork sah kurz über seine Schulter, dann ging er rechts neben Legolas in die Knie. Zur Verwunderung der drei Gefangenen streckte er vorsichtig die Hand mit den klauenartigen Fingern aus und strich über das verschlungene Muster, das in den ledernen Armschutz geprägt war. Legolas verzog angewidert das Gesicht und versuchte, der Berührung zu entkommen. Sofort hob der Ork beinahe beschwichtigend die Hand.
„Waldelb", raunte er mit heiserer Stimme. „Du bist ein Waldelb."
„Was ändert das?" stieß Thranduils einziger Nachfahre mit zusammengebissenen Zähnen hervor. „Wenn du mich töten willst, dann tu es, aber erspare mir jedes weitere Wort."
„Waldelb…" Der Ork seufzte leise und leckte sich mit der Zunge, die an der Spitze gespalten war, über die schmalen, dunklen Lippen. Das erklärte zumindest sein leichtes Lispeln. Er schien sich erst sammeln zu müssen, um überhaupt einen kompletten Satz hervorzubringen. „Nur eine Frage."
„Eine Frage?" echote Aragorn höchst irritiert. Orks fragten nicht. Abgesehen vielleicht von Borzo, doch der war eine Ausnahme und damit kein verlässlicher Maßstab.
„Nichts dergleichen", fauchte Legolas und richtete sich abrupt auf, so gut es mit der festen Verschnürung ging. Seine schlechte Laune erreichte eindeutig einen neuen Höhepunkt und das ging zu Lasten der ihm sonst so eigenen Gelassenheit.
Der Ork warf einen hastigen Blick über seine Schulter. Am Feuer näherte sich die Diskussion offenem Blutvergießen. Niemand achtete weiter auf sie. „Eine Frage, Waldelb!"
„Lass ihn doch fragen", schlug Galen vor, der sich neugierig ebenfalls aufgerichtet hatte und den Diener Saurons wieder mit diesem bedenklichen Interesse in den Smaragdaugen betrachtete, das für alle anderen Ärger ankündigte.
Legolas knurrte nur, aber für den Ork war das wohl pure Zustimmung. „Es heißt, ihr Elben habt einen Ork unter euch."
„Nein!" Legolas streckte das Kinn vor und rümpfte fast die Nase. „Der Ork lebt in Bruchtal. Keiner deiner Art wird jemals das Waldelbenreich bevölkern. Abschaum wie ihr überschreitet nicht lebend unsere Grenzen."
Das war nun doch ein wenig hart, fand Aragorn und Galen gab auch einen etwas ungeduldigen Laut von sich. „Lass ihn doch mal ausreden", meinte der Ithildrim tadelnd auf Sindarin. „Irgendwas will er schließlich."
Der Ork stülpte die Lippen vor und kratzte sich an der Brust. Man konnte die Flöhe förmlich springen sehen. „Ich könnte euch befreien."
„Ach wirklich?" machte Legolas mit ätzendem Spott. „Könntest du das?"
Eifriges Nicken folgte. „Morgen früh, wenn die anderen dem Licht entfliehen müssen."
„Und dann?" Galen lächelte beinahe herzlich. „Was willst du als Gegenleistung?"
Die rotgoldenen Augen wanderten zwischen ihnen hin und her. „Ich will mit."
„Nur über meine Leiche!" zischelte Legolas.
„Kein Problem", strahlte Galen.
„Warum nicht?" nickte Aragorn.
„Seid ihr verrückt geworden?" empörte sich Thranduilion. „Ich kann keinen Ork mit in den Palast bringen. Mein Vater schmeißt uns alle in den Waldfluss."
„Die Alternative besteht darin, dass er nur noch deine Asche vorfindet", erinnerte ihn Galen.
„Die könnte er dann allerdings auch in den Waldfluss werfen", ergänzte Aragorn.
„Ihr wisst doch gar nicht, ob er die Wahrheit sagt", verteidigte sich Legolas, dem die Logik wohl nicht ganz verborgen blieb, die in der Annahme eines derartigen Angebotes lag.
Galen runzelte leicht die Stirn und wechselte wieder in Westron. „Wieso kannst du uns befreien morgen früh?"
„Weil ich als einziger Wache halten werde", grinste der Ork und zeigte seine zwar erstaunlich weißen, aber auch enorm spitzen Zähne.
„So?"
„Mir macht die Sonne nichts."
„Faszinierend", freute sich der Rhûnar-Heiler. „Woher kommt das?"
Das ging sogar Aragorn zu weit, zumal am Feuer wieder Ruhe eingekehrt war. „Ist doch egal. Du willst uns also helfen. Gut, ich denke, wir sind uns einig. Nicht wahr, Legolas?"
Stur presste der Waldelb die Lippen zusammen.
„Legolas", beschwor ihn auch Galen.
„IZAK!" brüllte plötzlich einer der anderen, wirklich großen Orks und trampelte zu ihnen herüber.
Izak – eindeutig der Name ihres Orks, so wie er zusammenzuckte – starrte Legolas an. „Gib mir dein Wort, Waldelb!"
Am Ende siegte der natürliche Überlebenstrieb und ganz langsam nickte Mittelerdes einziger Elbenprinz. Er sah dabei zwar aus, als müsste er sich ganz unelbisch übergeben, aber immerhin. Keinen Moment zu früh, denn Izak flog unter dem wuchtigen Fußtritt des anderen Ork mehrere Schritte weit weg.
„Was machst du da?" schrie der andere ihren Verbündeten an, der sich bereits wieder aufrappelte und gebückt und ohne den Blick zu heben weiter auswich. „Wolltest dir wohl doch mal ein Stück Fleisch holen, du erbärmlicher Wurm. Jetzt verschwinde!"
Izak schlich davon, aber nicht ohne den drei Gefangenen verstohlen zuzublinzeln.
o
o
tbc
