Kapitel 1: Tobias Hilfsgesuch

Sehr geehrter Mr Brandon,

mein Name ist Tobias Snape. Ich schreibe ihnen, weil ich ihren Rat benötige. Es geht um meinen Sohn Severus. Er braucht Hilfe. Seine Mutter ist vor knapp einem Monat gestorben. Ich trauere sehr um meine Frau und ich bin mir sicher, dass auch Severus dies tut, doch hat sich sein Verhalten in den letzten Wochen auf beunruhigende Art und Weise verändert. Ich möchte in diesem Brief nicht mehr erzählen, aus Angst er könnte vielleicht Leuten in die Finger geraten, die Severus Zustand nichts angeht.

Ich weiß, dass Sie normalerweise darauf bestehen, dass ihre Patienten freiwillig zu ihnen kommen und nicht von ihren Verwandten gedrängt werden. Ich hoffe Sie können in diesem Fall eine Ausnahme machen, da ich nicht glaube, dass sich mein Sohn freiwillig in psychologische Betreuung begeben würde, selbst wenn er es noch so nötig hätte.

Ich wäre bereit Ihnen in einem Gespräch unter vier Augen mehr über meinen Sohn zu erzählen. Meine Telefonnummer finden sie unten.

Mit Hoffnung auf ein baldiges Gespräch mit Ihnen,

Tobias Snape

0257/387655

„Nun …", sagte Mr Brandon und schob seine runde Brille, die im Begriff war von seiner Nase zu rutschen, weiter nach oben. „… ich habe ihren Brief gelesen, Mr Snape, und ich weiß nicht so recht was ich davon halten soll."

Tobias Snape, der dem Psychiater gegenübersaß schwieg geduldig. Er beobachtete Mr Brandon. Der Mann war schätzungsweise Anfang Vierzig, recht gut gebaut und hatte kurzes, braunes Haar, das ihm ein wenig wirr in alle Richtungen abstand. Er trug Anzug und Krawatte. Die Krawatte war schlecht umgebunden und der Anzug schien nicht so gut zu passen wie er eigentlich sollte. Alles in allem wirkte Mr Brandon weniger wie ein erfahrener Psychiater mit – wie Tobias wusste – sehr guten Genesungsergebnissen seiner Patienten, sondern mehr wie eine verwirrte Seele, die wohl zu viel von der eigenen Medizin geschluckt hatte. Das Gesicht des Mannes hatte allerdings nichts Verwirrtes oder Schluderiges. Es war hochkonzentriert und gepflegt. Zudem versprühte Mr Brandon ein gewisses Maß an intellektueller Stärke, die Tobias ein wenig an seinen Sohn erinnerte. Das Büro in dem sie sich befanden wirkte ein wenig wie Mr Brandon selbst: auf den ersten Blick einwenig zerstreut, dennoch intellektuell und zielbewusst. Die Einrichtung war rustikal. Schränke voller wissenschaftlicher Bücher füllten das Büro. Ein überfüllter Schreibtisch, an dem Mr Brandon saß und zwei gemütliche Ledersessel in der Mitte des Raumes. Einige Bücher und Hefter lagen blindlings hingeworfen auf einem Haufen vor einem der Regale.

„Ich muss mir ein genaues Bild ihres Sohnes machen, aber dazu muss ich mit ihm reden. Ich kann schlecht mit einem Patienten arbeiten, wenn er nicht anwesend ist.", sagte Mr Brandon.

„Das ist mir durchaus klar.", sagte Tobias. „Wissen Sie, ich weiß, dass fällt alles aus dem üblichen Rahmen, aber ich dachte mir, es wäre vermutlich besser, wenn sie zu uns kommen könnten und ihn sich mal anschauen – ohne, dass sie sich als Psychiater zu erkennen geben."

Mr Brandon zog die Braunen hoch. Offenbar fand er die Idee alles andere als prickelnd.

„Ich persönlich halte nicht viel davon meinen Patienten etwas vorzugaukeln. Zudem … wie Sie bereits sagten; fällt es ziemlich aus dem Rahmen des Üblichen."

„Ich weiß. Ich weiß, aber ich habe sehr viel von Ihnen gehört. Zum Beispiel, dass Sie auch schon ziemlich schwere Fälle wieder auf die Beine gebracht haben. Ich würde Sie nicht um Hilfe bitten, wenn es nicht ernst wäre.", sagte Tobias. Sein Tonfall hatte einen flehenden Klang angenommen. „Ich kann Severus nicht sagen, dass ich glaube, dass er einen Psychiater nötig hat. Wissen Sie, wir haben nicht das beste Verhältnis zueinander. Und ich fürchte er würde irgendwas Unüberlegtes tun, wenn ich es ihm sage."

Mr Brandon nickte und blickte Tobias nun verständnisvoll an.

„Ja, ich weiß, was Sie meinen. Nun, darf ich Fragen, was genau der Auslöser dafür war, dass Sie glauben, dass ihr Sohn Hilfe braucht?"

„Warum ich das denke? Er hat die Katze unserer Nachbarin getötet.", sagte Tobias nachdrücklich. „Ich habe ihn noch nicht darauf angesprochen, aber ich weiß, dass er es war."

Der Psychiater strich sich nachdenklich über sein Kinn und holte einen Block aus seiner Schreibtischschublade hervor. „Wenn Sie wollen, dass ich mich ihren Sohn nicht als Arzt vorstelle, dann muss ich trotzdem einige Sachen über ihn wissen. Kleinere Dinge, um einen besseren Einstieg mit ihm zu finden, für den Fall, dass er es mir schwer machen wird."

„Was sind kleinere Dinge?", fragte Tobias.

„Angewohnheiten. Vorlieben.", antwortete Mr Brandon und kritzelte mit seinem Kugelschreiber auf dem Papier herum, nur um festzustellen, dass dieser nicht mehr ging. Er nahm einen anderen Stift, welcher allerdings auch nicht funktionierte. Tobias beobachtete den Psychiater einige Augenblicke dabei wie er mehrere Kulis ausprobierte, die alle nicht mehr schrieben. Schließlich warf Mr Brandon leise fluchend das Handtuch und zog einen Bleistift hervor. „Nun, könnten Sie mir einige Dinge nennen, die ihren Sohn ausmachen."

Oh, das gibt es so einiges. , dachte Tobias Snape.

„Erst die schlechten oder guten Eigenschaften?", fragte er.

„Fangen Sie an wo Sie wollen.", sagte Mr Brandon.

„Severus ist manchmal ziemlich in sich zurückgezogen. Schon seit einigen Jahren. Er hat immer mehr mit seiner Mutter geredet als mit mir und auf Fremde reagiert er manchmal ein wenig grob. Er ist gern für sich." Während Tobias redete Schrieb Mr Brandon mit.

„Er ist also recht introvertiert?"

„Ja. Als Eileen – seine Mutter – noch lebte erzählte sie mir oft die Sachen, die Severus in der Schule passierten. Wissen Sie, er geht auf ein Internat, das ziemlich … ziemlich weit weg von Bristol ist. Er ist fast das ganze Jahr dort und kommt nur in den Ferien nach Hause."

„Was ist das für ein Internat?", fragte Mr Brandon.

„Ein sehr spezielles für begabte Kinder. Severus hat die Begabungen meiner Frau geerbt. Sie ist ebenfalls dort zur Schule gegangen und sie wollte gern, dass mein Sohn es auch tut."

„Interessant.", meinte Mr Brandon, während er auf sein Papier kritzelte. „Und was sind das für Begabungen?"

Und was machst du jetzt? Willst du es ihm sagen? Nein, dass kannst du nicht, Tobias. Er würde dich für einen Spinner halten.

„Sehr spezielle Begabungen.", wich Tobias der Frage aus. Mr Brandon runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts weiter dazu.

„Sie erwähnten, dass ihm gewisse Dinge in der Schule widerfahren sind. Was genau?"

„Soweit ich weiß ist er ein ziemlicher Außenseiter. Er hat deshalb mit einigen Schülern einige ziemliche Probleme bekommen.", sagte Tobias.

„Hat ihr Sohn Freunde?"

„Keine Ahnung. Er erzählt mir kaum etwas und seitdem Eileen gestorben ist wird es immer weniger. Er schottet sich total ab von allen."

„Verstehe.", sagte Mr Brandon. „Wie alt ist Severus?"

„Sechszehn.", antwortete Tobias.

„Schwieriges Alter.", meinte der Psychiater. Tobias nickte zustimmend. „Wie stets mit seinen Angewohnheiten? Gibt es da irgendwelche Besonderheiten?"

„Er raucht ziemlich viel. Ich glaube, er hat damit angefangen als er vierzehn war."

„Sonst noch was?", fragte Mr Brandon.

„Er ist ein ziemlicher Bücherwurm.", sagte Tobias.

„Was ließt er denn so?"

„Die meiste Zeit seine Schulbücher, aber auch andere Sachen. Ein Großteil davon ist recht klassisch, würde ich sagen. Zumindest habe ich mal Shakespeare bei ihm liegen sehen."

„Shakespeare?", fragte Mr Brandon und doch recht erstaunt. „Das ist weniger die Lektüre für sechzehnjährige Jungen, oder?"

„Ja, ich glaube es war MacBeth oder so.", meinte Tobias. Er versuchte sich an die Bücher in Severus Zimmer zu erinnern, doch ihm fielen sie nicht ein.

„Hmm, nun gut.", sagte Mr Brandon und steckte seinen Bleistift weg. „Ich denke das reicht für's erste, um mir ein grobes Bild zu machen. Ich hoffe alles wird ein wenig klarer, wenn ich mit ihm gesprochen habe. Wann wäre es ihnen recht, dass ich mir ihren Sohn ansehe?"

„So bald wie möglich! Er hat nur noch vier Wochen Ferien. Danach ist er bis Weihnachten in der Schule.", sagte Tobias. Er hoffte inständig, dass Mr Brandon seinem Sohn helfen konnte oder zumindest etwas Licht in Severus Gefühlswelt bringen konnte. Tobias größte Sorge war, dass der Junge ihm entglitt – und bei dem Verhältnis, das sie zueinander hatten, war das alles andere als unwahrscheinlich.