Mein bester Freund Loretta
Prolog:
„Es tut mir leid, ich kann nicht", hallte es immer und immer wieder durch Rokkos Kopf. „Ich kann nicht… nicht… nicht…" Wütend ballte sich Rokkos Hand um den Ring seiner Großmutter. Die scharf geschliffenen Kanten des Steines bohrten sich in seine Haut, doch Rokko spürte den Schmerz nicht – nicht diesen Schmerz. Da war Schmerz, ja, aber die Verletzung an seiner Hand, die er sich gerade selbst zufügte, war sein geringstes Problem. Wut. Er fühlte Wut. Wut über sich selbst. Dass er so naiv gewesen war, zu glauben, die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Wut. Dass sie ihn hatte stehen lassen – am Altar, nachdem er schon ja gesagt hatte. Wut. Darüber, dass er sich in einem Menschen so getäuscht hatte. Noch nie hatte er sich in einem Menschen so getäuscht. Halt. Doch. Ein Mal. Das war ewig her. Er war ein Kind gewesen. Nicht ahnend, dass Onkel Rüdiger so war. Das tun würde. Dass Onkel Rüdiger der Mann war, vor dem Eltern einen immer warnten. Nimm keine Bonbons von Fremden. Geh nicht mit Fremden mit. So war Onkel Rüdiger. Er war der Fremde, der Kinder mitnahm. Ihnen Bonbons gab. Wie Lars gelitten haben musste. Zum Schweigen verurteilt. Gefangen in seinem eigenen Körper. Warmes Blut lief Rokkos Hand hinunter. Der Ring hatte nun doch die Haut seiner Handfläche durchbohrt. „Verdammt", schrie Rokko seine Wut hinaus, drückte seine Hand einfach auf den Hochzeitsanzug, um die Blutung zu stoppen. Seine Wut wechselte in ein irres Lachen. Wie absurd das eigentlich war. „Jeder Zoll ein Mister", hatte Jürgen gesagt und jetzt diente dieser Anzug der Schadensbegrenzung. Tja, der Gebrauchtwagen war nun vom Markt – mit dem Erstbesitzer. Ein schrilles Klingeln kam aus Rokkos Brusttasche. Erst wollte er sich nicht melden, doch dann stieg Hoffnung in ihm auf. Vielleicht war das alles ein Alptraum und dieses Geräusch würde ihn aus dem Schlaf reißen. „Meinen Glückwunsch zur Hochzeit", drang die fröhliche Stimme seiner Mutter an Rokkos Ohr. War so viel Zeit vergangen, dass die Trauung schon vorbei sein müsste? „Rokko?", hakte Melanie Kowalski nach. „Ich weiß, wir sind hoffnungslos zu spät und ihr wollt ja gleich in die Flitterwochen, aber vielleicht… wir sind gerade am Ortsschild… also in Göberitz. Könnt ihr nicht so lange warten, bis wir da sind? Wir würden deine Lisa gerne kennen lernen und Lars freut sich auch schon. Es war so aufregend für ihn – die lange Fahrt, die vielen Autos. Du kennst deinen Bruder, er ist besessen von Autos. Oh, bitte, wartet doch kurz auf uns. Rokko?", hakte die Frauenstimme nach, als sie Rokko schluchzen hörte. „Mama", brachte er dann doch heraus. „Es hat keine Hochzeit gegeben", informierte Rokko seine Mutter mit brüchiger Stimme. „Nicht?", fragte Melanie verwirrt. „Wieso denn nicht? Was ist denn mit… mit der Braut?" – „Die hat geheiratet. Einen anderen." – „Rokko, wo bist du?", wandte Melanie sich an ihren Sohn und dann etwas leiser an den Fahrer des Wagens: „Möppelchen, es ist etwas passiert. Wir müssen dem Jungen jetzt helfen." Hilflos sah Rokko sich um. Er war ziellos durch Göberitz gelaufen und hatte gar nicht gemerkt, wo er war. „Hier ist ein Supermarkt." – „Okay, wir kommen da hin. Beweg dich nicht und stell nichts Dummes an."
„Lars, komm, steig mal aus dem Auto aus", bemühte Henning Kowalski seinen ältesten Sohn, dazu zu bewegen, das Fahrzeug zu verlassen. „Sieh mal, Rokko ist auch hier." Lars hielt seinen Teddybären eng umarmt und schüttelte den Kopf. Entschuldigend wandte Henning sich an seinen jüngeren Sohn. „Tut mir leid, Rokko. Wir sind zu spät, weil…" – „Was hat Lars diesmal angestellt?", fragte Rokko zornig. „Er hat sich übergeben – vor Aufregung wahrscheinlich – und da mussten wir ja halten und ihn umziehen – auf einem Autobahnparkplatz. Wir haben ihn nur eine Sekunde aus den Augen gelassen und schon war er auf den Standstreifen gerannt und von dort nicht mehr wegzukriegen." – „Silber… Silber… Rot… Blau… Silber… Silber… Grün", murmelte Lars auf der Rückbank des Wagens. „Waren das die Farben der Autos, die du gesehen hast?", fragte Rokko seinen Bruder etwas sanfter, als er wenig zu vor mit seinen Eltern gesprochen hatte. Lars schüttelte heftig den Kopf. „Lügst du mich an, Lars?" – „Ja", lachte Rokkos Bruder und versteckte sich hinter seinem Plüschtier.
„Die Gruppenleiterin sagt, dass Lars gute Fortschritte macht. Dass er sich gut in die Gruppe integriert und seine Arbeit… naja, weil er von Zeit zu Zeit so austickt, haben sie ihn in die Landschaftsgärtnerei gesteckt, aber vielleicht kann er ja noch wechseln, wenn er sich an die neue Werkstatt und das neue Wohnheim gewöhnt hat. Zu schade, dass die alte Werkstatt keine Autisten mehr nimmt. Sehr schade. Andererseits… in der neuen wird eine Studie durchgeführt. Lars wird da für einige Stunden…" – „Mama", unterbrach Rokko Melanie unwirsch. Die ganze Zeit über hatte sie geredet und geredet, während er hektisch durch seine Wohnung gelaufen war und seine Habseligkeiten zusammen gerafft hatte. Mittlerweile war alles in Koffern verstaut und Rokko konnte sich den Erzählungen seiner Mutter widmen. „Lars, Lars… immer nur Lars! So ging das mein Leben lang. Jetzt ist mir aber mal etwas Schlimmes passiert!", platzte es aus Rokko heraus. „Tut mir leid, Mama, das sollte nicht so klingen", entschuldigte er sich, als er merkte, wie daneben sein Vorwurf war. „Ich weiß… es ist ja nur, ich weiß nicht, was ich sagen soll… wie ich dir helfen kann." – „Ihr helft mir, wenn ihr mich jetzt mit nach Bremen nehmt, okay?" – „Okay, ich sage deinem Vater Bescheid, dass er das Auto packen kann. Bleibst du kurz bei deinem Bruder? Er ist im Wohnzimmer."
„Hey Lars", lächelte Rokko seinen Bruder gequält an. „Wie gefällt dir Berlin?" Wortlos hielt Lars ihm den Daruma hin und deutete auf das Loch in dem japanischen Gott. „Der ist mir runtergefallen. Ich sollte ihn wegwerfen, der hat mir eh kein Glück gebracht." Rokko wollte danach greifen, doch Lars zog den Daruma zu sich. „Nee", protestierte Rokkos großer Bruder. „Willst du ihn haben?" – „Ja", kicherte Lars. „Irgendwie ist er ja auch schön. Passt der denn gut in dein neues Zimmer?" – „Ja", antwortete der autistische junge Mann und streckte seine Brust stolz hervor. „Dann behalte ihn", meinte Rokko. „Bist du schon mal nachts Auto gefahren?" Lars schüttelte den Kopf. „Bist du mutig genug für eine Nachtfahrt?" Lars nickte heftig, sah dabei aber nicht auf. „Lügst du mich an, Lars?", neckte Rokko seinen Bruder. „Ja", lachte Lars wieder. „Ich bin ja bei dir. Da passiert dir schon nichts. Wir können ja spielen, wer am längsten wach bleibt", schlug Rokko vor. Lars steckte den Daruma in seine quietschgrüne Bauchtasche und rückte dann näher an Rokko ran. „Hab dich lieb", murmelte er, bevor er sich an seinen Bruder kuschelte. „Mal sehen, ob du das noch sagst, wenn ich wieder in Bremen bin und dich richtig oft besuchen komme", schmunzelte Rokko. „Wir können dann", platzte Henning in die seltene Geste der Zuneigung zwischen den Brüdern.
