Herz über Kopf

Kapitel 1

Unerwartete Überraschungen

Als sie den Tisch zum Abendessen deckte, schwelgte Anzu mal wieder in Erinnerungen. Es war inzwischen drei Jahre her, seit sie hier eingezogen war. Ein hübsches, kleines Appartement mitten im hektischen New Yorker Leben. Sie erinnert sich noch ganz genau, was der Verwalter zu ihr sagte, bevor sie die Wohnung bezog:

„Dies ist ein sehr ruhiges Haus, Hunde und kleine Kinder sind hier nicht erwünscht."

Dabei schaute der Verwalter Anzu prüfend an. Sie nickte verstehend. Solche Worte gleich bei einer Wohnungsbesichtigung? Nicht gerade freundlich, aber sie konnte damit leben. Da sie ledig war, würden sich so schnell keine Kinder einstellen und für einen Hund hatte sie keine Zeit. Die Arbeit am Broadway hielt sie einfach zu sehr in Atem. Doch es war ihr erfüllter Traum und nun brauchte sie nur noch eine eigene Bleibe. Sie konnte nicht ewig in einem WG-Zimmer leben. Da sie auch Zuhause trainieren wollte, war Ruhe für sie sehr wichtig. Ständige Störung ihrer Konzentration war auch für sie unerwünscht.

„Ich nehme die Wohnung."

Dafür hatte sie sich damals entschieden. Die Gabeln neben die Teller postierend, prüfte sie noch einmal ihr Gesamtwerk. Alles sollte perfekt für heute Abend sein.

Nichts durfte sie dem Zufall überlassen. Schließlich hatte sie ihm etwas Wichtiges zu sagen. Anzu warf einen Blick durch ihre Wohnung. Es gefiel ihr hier wirklich gut, aber so könnte es in Zukunft nicht weiter gehen. Vier Wochen nach ihrer Besichtigung war sie hier eingezogen. Sie hatte keine Probleme damit gehabt, sich einzuleben. Die Umgebung war herrlich, die Nachbarn, überwiegend ältere Leute, waren stets freundlich. Und im Haus war es tatsächlich sehr still.

„Wie auf einem Friedhof...", dachte Anzu manchmal.

Aber sie hatte es ja genau so gewollt…

Es war ein Sonntagnachmittag gewesen, als sich ihr Schicksal so gravierend geändert hatte. Anzu machte gerade ein paar Yogaübungen, um sich ausreichend für ihr Training zu dehnen, als sie plötzlich seltsame Geräusche aus der Wohnung nebenan hörte. Hämmern, klopfen, fürchterliches Gerumpel. Entweder zog da gerade jemand unsanft ein oder die Inneneinrichtung wurde soeben demoliert. Ihre alte Nachbarin war vor kurzem ausgezogen und sie wusste nicht, wer nun dort wohnte.

„Von wegen Friedhofsruhe...", hatte Anzu unwillig gemurmelt.

Sie entschloss sich dazu, einen Spaziergang durch den Central Park zu machen. Der oder die Menschen nebenan konnte ja nicht ewig renovieren. Die frische Luft tat ihr gut, doch als sie nach zwei Stunden in ihre Wohnung zurückkehrte, hämmerte ihr neuer Nachbar schon wieder - oder immer noch?

„Es ist Wochenende.", besänftigte Anzu sich selbst.

„Wahrscheinlich sind die Leute auch berufstätig und haben sonst keine Zeit."

Wochentags würde es bestimmt wieder ruhig sein. Doch da irrte sie sich gewaltig. Am Montagnachmittag ging es wieder los. Immer mehr Handwerker stürmte das Treppenhaus rauf und runter. Nahmen absolut keine Rücksicht. Tag für Tag ging das so weiter und Anzu dachte schon, es würde niemals ein Ende nehmen. Von dem Krach, der ab und an aus der Wohnung nebenan dröhnte, konnte die junge Tänzerin beinahe schließen, dass ganze Wände eingerissen wurden. Hatte der Vermieter nichts dagegen? Und überhaupt hatte sie die neuen Nachbarn noch nie zu Gesicht bekommen. Nur die Handwerker kannte sie beinahe schon alle beim Vornamen. Derart viele Telefonnummern hatten bisher auch noch nicht an ihrem Briefkasten gehangen. Die mussten ja Geld haben, bei der Schar von Arbeitskräften, die hier rumlungerten. Anzu riss der Geduldsfaden. Sie klopfte heftig gegen die Wand.

„Ja, ja!", tönte eine dunkle Stimme von nebenan.

„Ruhe!", rief Anzu böse und ihr wurde klar, wie albern es war eine Wand anzuschreien.

Aber es zeigte offenbar Wirkung. Dann hörte sie eine ebenfalls tiefe, aber vollkommen andere Stimme sprechen.

Diese wirkte freundlicher, aufgeschlossener und ja, irgendwie netter.

„Hey, Jungs! Hört mal für einen Moment mit dem Hämmern auf. Jetzt können die Maler an die Arbeit gehen. Unsere Nachbarin braucht scheinbar Ruhe."

„Die kann sie gern haben, wenn sie auszieht!"

Anzu klappte der Mund auf. Was für eine Frechheit! Was bildete sich dieser Kerl bloß ein? Das ihm das gesamte Haus gehörte? So ein Idiot. Aber nun war die junge Tänzerin etwas klüger. Sie hatte es also mit einem männlichen Nachbarn zu tun. Aber das würde sie nicht zurück schrecken. Sie hatte keine Angst vor Männern. Ob es ein schwules Pärchen war? Das würde sie nicht stören, solange sie endlich mit dem Krach aufhören würden! Das Schimpfen hatte gefruchtet, es blieb eine Stunde still. Dann setzte das muntere Treiben von nebenan wieder ein. Anzu griff zum Telefon. So konnte es nicht weiter gehen. Sie musste wissen, welcher Rüpel dort wohnte. Doch einfach rüber zu gehen, traute sie sich dann doch nicht.

„Guten Tag, Miss Mazaki!"

Die Stimme des Verwalters klang schmalzig. Vermutlich hatten sich schon mehrere Hausbewohner beschwert. Richtig so!

„Wie geht es Ihnen?"

„Bis zum Wochenende ging's mir gut.", schnaubte Anzu.

„Sagen Sie, wer ist denn in die Wohnungen der alten Misses Crawford gezogen?"

„Der Bruder des Eigentümers, dem die Wohnung neben Ihrer gehört. Sie haben vor knapp fünf Jahren schon einmal in diesem Haus gewohnt, jedoch im Erdgeschoss. Diese Liegenschaft war Ihnen angeblich nun zu klein und sie haben sich für's Dachgeschoss entschieden. Der jüngere Bruder war begeistert von der Dachterasse...", begann der Verwalter zu schwärmen, doch das interessierte Anzu herzlich wenig. Da sie nach einer halben Stunde heißer Diskussion zu keinem nennenswerten Ergebnis gekommen waren, legte Anzu auf. Hilfe konnte sie an dieser Stelle anscheinend nicht erwarten.

„Eigentum bedeutet nicht gleich, dass man gegen die Regeln der Hausordnung verstoßen darf! Es gibt Ruhezeiten und die werde ich durchsetzten, bevor ich wahnsinnig werde!", dachte sie wütend.

„Die werden sich noch wundern."

Anzus Kampfgeist war angefacht. Sie nahm einen Bogen Papier und schrieb den Plagegeistern von nebenan einen Brief. Was Anzu damals nicht wusste: mit dieser Beschwerde änderte sich plötzlich ihr ganzes Leben... Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Am nächsten Morgen lag ein Brief in ihrem Fach. Der neue Bewohner bedauerte die Ruhestörung zutiefst und versprach, sich der Angelegenheit anzunehmen und die Handwerker bis zur Fertigstellung etwas zu bremsen.

„Da bin ich ja mal gespannt.", dachte Anzu etwas missmutig, doch hoffte sie auf das Beste.

Zwei Tage später hörte sie laute Stimmen im Treppenhaus, während Anzu im Keller ihre Waschmaschine befüllte.

„Nicht schon wieder...", murmelte sie wenig begeistert und stopfte die Wäsche bis zum Anschlag in die Trommel.

„Wehe denen, die machen heute wieder so einen Radau! Dann gehe ich persönlich rüber, das schwöre ich!"

Schritte auf den Stufen zum Keller hallten durch die zahllosen finsteren Gänge.

„Und was heißt überhaupt der Keller wurde nicht entrümpelt? Soll ich jetzt auch noch den Schrott der Vormieterin auf meine Kosten entsorgen lassen?"

Oh weh, da hatte aber jemand schlechte Laune. Anzu grinste etwas schadenfroh. Sollte der sich bloß rumärgern. Recht so! Der liebe Gott straft die kleinen Sünden immer sofort. Aber irgendwie kam ihr die Stimme bekannt vor.

„Selbstverständlich nicht, Mister Kaiba. Es tut uns auch sehr leid..."

„Ich habe kein Verständnis für ihre miserable Arbeit. Entweder dieser Müll ist bis heute Nachmittag weg oder wir suchen uns eine andere Wohnung, haben Sie mich verstanden?"

Anzu durchfuhr ein Blitz der Überraschung, als sie den Namen Kaiba vernahm. Natürlich, jetzt wusste sie auch, woher sie diese tiefe Stimme kannte. Es war Seto Kaiba.

Er war anscheinend der neue Nachbar. Das würde natürlich einiges erklären. Sie musste es mit eigenen Augen sehen, sonst würde sie es nicht glauben. Als sie um die Ecke in den dunklen Korridor blickte, sah sie ihn vor einem der Kellerräume stehen. Groß, schlank, sehr attraktiv. Er sah aus wie immer. Nur ein klein wenig übellauniger als sonst. Sie entschloss, auf ihn zuzugehen. Seit Jahren hatte sie keinen ihrer Freunde wiedergesehen und irgendwie freute es sie. Auch Kaiba sie niemals als Freundin angesehen hatte, für Anzu gehörte er ebenfalls dazu. Und was hatte der Verwalter noch gleich am Telefon gesagt? Der Bruder des Eigentümers würde einziehen? Das bedeutete doch, dass Mokuba auch hier war! Heiße Freude stieg in ihr auf. Auf den Jüngeren freute sie sich besonders.

„Hey, Kaiba!", rief sie ihm etwas übermütig zu und erhob die Hand zu einem Gruß.

Dieser blickte sie an, schien sie erst nach wenigen Sekunden zu erkennen. Er nickte nur kurz.

„Mazaki..."

Mit schnellen Schritten war Anzu zu ihm hinüber gelaufen. Ihre Wange,vor Aufregung gerötet.

„Wie schön dich Wieder zusehen, Kaiba-kun. Ich habe nicht gewusst, dass ihr beiden neben mir einziehen würdet."

Erst jetzt schien es dem Älteren der beiden Kaibabrüder zu dämmern, dass sie die lästige Nachbarin war.

Sein Blick verfinsterte sich.

„Ich glaube wir beide habe ein Problem, dass wir dringend klären sollten."

Anzus Lächeln erstarb. Kaiba hatte sich kein Stück geändert. Zeigte keinerlei Freude über ihr zusammen treffen. Sah sie weiterhin nur als Störenfried an. Na, der konnte sie gern haben. Auf dem Absatz kehrt machen, drehte sie ihm den Rücken zu und stolzierte davon. Sie hatte sicherlich nicht vor hier und jetzt mit ihm zu diskutieren.

„Wenn du eure unmögliche Form der Ruhestörung meinst, dann haben wir wirklich etwas zu klären!"

Als sie die Waschküche erreichte, hatte sie nicht damit gerechnet, dass er ihr Folgen würde. Wütend öffnete sie das Waschmittelfach und donnerte zwei Becher des Pulvers hinein.

„Du hast dich bei Mokuba über den Lärm unserer Baumaßnahmen beschwert. Ich denke wir sollten ein ernstes Wort darüber sprechen."

Sie waren also beiden nicht auf Frieden aus. Das konnte ja heiter werden. Während Anzu sprach folgten zwei weitere Becher.

„Du willst darüber sprechen? Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Die Rechtslage sagt ganz klar, dass selbst die Kaibas sich an die üblichen Ruhevorschriften zu halten haben. Wenn ihr euch daran halten würdet, dann…"

Und noch ein Becher.

„Ich meinte etwas ganz anderes Mazaki.", unterbrach der CEO sie barsch.

Überrascht blinzelte Anzu. Was konnte er nur meinen?

„Es geht darum, dass die Wohnung im Dachgeschoss immer noch zu klein für Mokuba wäre. Allein der Arbeitsbereich reicht nicht einmal ansatzweise aus."

„Und weswegen erzählst du mir das?"

„Ganz einfach, weil du aus deiner Wohnung raus musst. Wir brauchen den Platz."

„Wie bitte?"

Hätte er sie geschlagen, hätte sie nicht verblüffter sein können. Was bildete Kaiba sich nur ein? Sie würde garantiert nicht ausziehen! Das wäre ja noch schöner!

„Ich nehme mal an, wir sprechen immer noch dieselbe Sprache. Oder verstehst du jetzt nur noch englisch?"

Verärgert schüttelte sie den Kopf und kippte einen weiteren Becher ein.

„Ich habe dich sehr wohl verstanden, Kaiba!", zischte sie seinen Namen als wäre er ein Schimpfwort.

„Aber du glaubst doch wohl nicht im Ernst, dass ich ausziehen werde. Ich habe die Wohnung gerade erst hergerichtet. Zumal es das einzige Objekt war, dass nah genug zur Arbeit ist und meinen finanziellen Rahmen nicht sprengt. Nicht alle Menschen haben so unendlich viel Geld wie du, Kaiba!"

„Wenn das dein einziges Kriterium ist, zieh doch in den Theaterkeller. Dann musst du nur die Treppe rauf und schon bist du auf der Arbeit.", spottete der Größere über sie.

„Die Lage ist ganz einfach Mazaki. Entweder ziehst du freiwillig aus oder ich kaufe deine Wohnung dem Vermieter ab und schmeiße dich dann wegen Eigenbedarfs raus. So oder so, du wirst deine Koffer packen müssen. Gewöhn dich schon mal an den Gedanken."

Mit den Augen ihrer Bewegung folgend, blickte er verwirrt drein.

„Sag mal, wie viel Waschpulver willst du da noch reinkippen? Meinst du nicht, dass ist etwas zu viel des Gutem? Nimm doch gleich den ganzen Kasten."

„Was geht dich das an?", fuhr sie ihn unbeherrscht an und knallte die Klappe lautstark zu.

„Als hättest du Ahnung von Hausarbeit. Dein ganzes Leben wurde dir doch alles hinterher getragen. Ich wette du wüsstest nicht mal, wie man eine Waschmaschine gescheit bedient."

Damit drehte sie den Hahn auf und schaltete die Maschine ein. Das Wasser strömte tosend durch das, etwas in die Jahre gekommene, Stück Technik. Knatternde Geräusche waren zu hören. Aber was erwartete man schon von Second Hand? Sie war damals froh gewesen, die Maschine so günstig ergattert zu haben. In der Ausbildung war ihr Gehalt sehr knapp bemessen gewesen, da war kein Geld für eine Neue.

„Du aber anscheinend auch nicht, sonst würdest du nicht...", er brach ab und machte einen gewaltigen Satz nach hinten, bevor das heiße Wasser mit einer riesigen Ladung Schaum sich auf seiner gesamten Hose ergoss.

Schmerzhaft spürte er die Hitze auf seiner Haut. Anzu schrie auf, als ihre nackten Füße, welche nur durch ein paar FlipFlops besohlt waren, unter Wasser standen.

„Iiiih, verdammt, was ist denn jetzt los? Oh Gott..."

Panisch versuchte die junge Tänzerin das Problem zu lösen und schritt auf die überlaufende Waschmaschine zu.

„Du hast zu viel Waschpulver genommen, deswegen schäumt sie über."

„Quatsch nicht, sondern hilf mir! Sonst steht hier gleich alles unter Wasser!"

Alle Knöpfe auf einmal drückend, versuchte sie den Wasserfluss irgendwie zu stoppen oder die Maschine auszuschalten. Ohne Erfolg.

Fortsetzung folgt…