Schwarzer und roter Holunder

Kapitel 1 Rituale

Die langen hageren Finger glitten überaus zärtlich über den ausgebleichten rot-grün karierten Einband, des in die Jahre gekommenen Tagebuches. Ein paar wenige gräuliche Flecken zierten den weichen Stoff, dessen Farbe in den vielen Jahren an Intensität verloren hatte.

Aber nicht der Inhalt. Er war immer noch so bedeutend, wie eh und je. Jedenfalls für ihn.

Er wusste, dass es eigentlich nicht sein Eigentum war, doch wer außer ihm hatte noch das Recht es zu besitzen?

Keiner mehr außer ihm! Denn die Eigentümerin war nicht mehr am Leben und nur sie und ihn ging es etwas an, was darin zu lesen war.

Dennoch glaubte er, durch jedes Wort, das in diesem Buch geschrieben stand, ihre Nähe zu fühlen, sie atmen zu hören und sogar sie ganz nah bei sich zu spüren.

Wie lange war es her, dass diese Worte niedergeschrieben worden waren? Es schien ihm wie eine Ewigkeit zu sein, beinahe so fern wie ein anderes fernes Leben.

Langsam sank er in den ledernen abgewohnten Sessel hinein, ließ die Fingerkuppen über den Buchrand gleiten und schlug es schließlich beinahe zärtlich auf.

Der Inhalt dieses Tagebuches, war das Einzige, was ihm geblieben war, von dem Menschen, den er am meisten geliebt hatte, nein … dem Menschen, den er als Einziges geliebt hatte.

Lily Evans

Nur zwei Mal im Jahr holte er das Tagebuch von Lily aus seinem Versteck, um darin zu lesen. Das war am 30. Januar, Lilys Geburtstag und am 31. Oktober, das war ihr Sterbetag.

Immer wieder aufs Neue fragte er sich, was wohl aus ihnen geworden wäre, wenn er nicht bei den Todessern gelandet wäre. Wenn seine Verblendung ihn nicht dazu gebracht hätte, das Einzige, was ihm wichtig gewesen war, zu verletzten und am Ende zu verlieren.

Ein feuchter Glanz erreichte seine tiefschwarzen Augen. Er blinzelte die Tränen unwirsch davon und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

Nun sah er sie wieder vor sich. Ihre langen dunkelroten Haare, die im Wind wehten und ihre hellgrünen Augen, aus denen sie zu ihm herauf schaute. Die kleinen unendlich vielen Sommersprossen, die er nie geschafft hatte, zu zählen, und das Grübchen auf ihrer Stirn, das immer dann auftauchte, wenn sie über etwas angestrengt nachgrübelte.

Es war der Tag vor den Sommerferien 1975.

Ein seltsamer Tag, um mit einem neuen Tagebuch anzufangen, das hatte sich Severus immer wieder gesagt, doch war er am Ende zu dem Schluss gekommen, dass das andere Tagebuch wohl vollgewesen sein musste, auch wenn er nie ein anderes Tagebuch, als dieses hier von ihr gefunden hatte.

Eigentlich kannte er die Worte schon auswendig und dennoch musste er sie immer wieder betrachten, sie lesen, denn sie machten das Erzählte immer wieder aufs Neue so lebendig.

Die wunderschönen ebenmäßigen, leicht geschwungenen Buchstaben verrieten soviel über den Menschen, der diese zu Papier gebracht und dessen warme Hand die schwarze Tintenspur auf den Seiten gezogen hatte. Wörter, die die Geschichte zweier Menschen erzählte, zweier Menschen, denen es am Ende nicht vergönnt gewesen war, ihre Liebe zu leben.

Und doch berichtete dieses Tagebuch genau von den Wochen, wo er – Severus - das erste und einzige Mal daran geglaubt hatte, dass es einen Himmel auf Erden geben könnte.

Samstag, der 12 Juli

Schule ist vorbei. Die Arbeiten liegen hinter uns und morgen geht es nach Hause. Endlich Sommerferien!

Mein eigenes Zimmer, keine kreischenden und kichernden Mädchen mehr … Es wird ganz sicher wundervoll werden.

Sev meinte, er würde versuchen mich so oft wie möglich zu besuchen. Er ist so süß, wenn er nicht grade mit diesen Möchtegern-Freunden zusammenhängt. Ich hoffe nur meine nervige Schwester spioniert nicht wieder hinter uns her, sie schafft es immer, die schönsten Situationen zu zerstören. Tunia ist manchmal soo unsensibel, und wenn sie nicht meine Schwester wäre ...

Sonntag, der 13 Juli

Endlich zuhause. Als ich heute Morgen mit meinem Gepäck durch den Zug gegangen bin, erblickte ich Severus alleine in einem Abteil sitzend. Sein Blick ging so traurig aus dem Fenster, dass ich nicht anders konnte, als mich zu ihm ins Abteil zu setzen, auch wenn ich Eva versprochen hatte, mich im Zug zu ihr zu setzten, denn sie wollte mir ihre neuste Modezeitschrift zeigen.

Er wirkte so betrübt, dass es mir fast das Herz zerrissen hat.

Wieder schloss der Tränkemeister die Augen und er hatte genau diese Situation vor sich, in seinem Kopf spielte sich alles noch einmal ab.

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„Hi Sev. Darf ich mich zu dir setzten?" Überrascht wandte der Dunkelhaarige seinen Kopf zu Lily und als er sie ansah, huschte ein selten zu sehendes Lächlen über sein blasses Gesicht. Seine Augen betrachteten das rothaarige, außerordentlich hübsche Mädchen fast schon begierig.

„Du doch immer", antwortete er und warf einen kurzen Blick in den Gang, wo viele Schüler vorbeidrängten, um noch ein freies Abteil im Zug zu finden.

„Freust du dich nicht auf die Ferien?", fragte Lily, nachdem sie ihre Tasche unter ihrem Sitz verstaut hatte.

„Ich … denke nicht. Außer mein Vater ist für 6 Wochen verreist, was ich ausschließe."

„Oh stimmt, daran hatte ich gar nicht mehr gedacht. Nun vielleicht … hat er sich ja auch etwas verändert … in dem Jahr, wo du jetzt weg warst."

Der sehr skeptische Blick von Severus zeigte dem offenen Mädchen, dass er eher an den Weihnachtsmann glauben würde, als an die Tatsache, dass sein Vater sich jemals ändern könnte.

„Lily?" Severus drehte sich jetzt zu ihr und nahm ihre Hand, was sie etwas verwunderte, doch entzog sie ihm diese nicht.

„Ja Sev?"

„Darf … ich darf dich doch in den Sommerferien besuchen kommen, ja?"

Jetzt lächelte das sommersprossige Mädchen und nickte.

„Hey, na klar. Ich wäre sogar sehr böse, wenn du es nicht tun würdest. Ich freue mich doch schon die ganze letzte Zeit darauf." Ihre Stimme war so klar, wie eine helle Glocke und berührte Severus tief in seinem Herzen. „Ich hoffe nur Tunie, spioniert nicht wieder hinter uns her. Denn dann hetzte ich ihr einen ganz schrecklichen Fluch auf den Hals."

„Nein, das wirst du nicht tun. Denn sonst bekommst du einen bösen Brief und womöglich, werfen sie dich aus Hogwarts raus und das wäre verflucht schade."

„Verteidigst du etwas meine Schwester oder hast du Angst, dass man mich aus Hogwarts wirft?"

„Ich hab Angst, dass man dich von der Schule wirft, mit wem soll ich mich denn dort sonst geistreich dort unterhalten", ein Schmunzeln huschte über sein Gesicht.

„Och du hast doch noch Mulkliber und Averey."

„Ja, die haben soviel Hirn wie Knallrümpfige Kröter."

Nun lachten beide und Sev merkte erst jetzt, dass er immer noch ihre Hand hielt. Doch genau in dem Moment knallte die Türe auf und zwei schwarzhaarige Jungs streckten die Köpfe ins Abteil.

„Och, ist das etwa Abschiedsschmerz? Schau mal James, wie süß er ihre Hand hält."

„Das ist ja widerlich, den würde ich nicht mal mit der Kneifzange anpacken. Evans, ich kann nicht verstehen, wie du dich mit ‚dem' überhaupt abgeben kannst." Es war James Potter, der auf die erste Äußerung seines Freundes Sirius noch einen oben drauf geben hatte müssen. Intuitiv hatte Severus unter seinen Umhang gegriffen und seine Finger schlossen sich blitzschnell um seinen Zauberstab. Doch Lily legte ihre Hand auf die Seine und hielt ihn auf.

„Halt die Klappe Potter, es ist mir vollkommen egal, was du und dein arroganter Freund hier von euch gebt. Los haut ab und sucht euch ein anderes Abteil, hier ist jedenfalls kein Platz mehr frei."

„Also ich sehe nicht, dass hier was besetzt ist", sagte Sirius mit einem breiten Grinsen und ließ sich in einen der Sitze fallen.

„Stimmt, steht auch nirgends reserviert drauf", warf James hinterher. Doch als auch dieser sich neben Sirius setzten wollte, hielt ein braunhaariger Junge ihn auf.

„James, warte. Peter hat ein freies Abteil für uns, lass uns dorthin gehen."

„Remus du bist ein Spielverderber", brummte Sirius und sah abwartend auf James, so als würde er auf dessen Befehl warten. Doch zu Sirius Enttäuschung nickte Potter und wandte sich zum Gehen.

„Evans? Irgendwann wirst du noch sehen, dass du dir die falschen Freunde ausgesucht hast", sagte James dann noch mit einem abwertenden Blick auf Severus und ging hinter Remus her, der schon auf dem Weg zu Peter war.

Mit einem Seufzen erhob Sirius Black sich und ging zur Türe, er hatte schon den Mund geöffnet, um noch etwas zu sagen, als Regulus sich an seinem Bruder vorbeidrückte, und ohne eine Regung sich gegenüber von Severus ans Fenster setzte. Für einen Moment starrte Sirius seinen Bruder an, es schien fast so, als wolle er etwas zu ihm sagen, doch da Regulus ihn einfach ignorierte, tat Sirius das am Ende auch und verschwand …

Montag 14. Juli

Es war so schön die Familie wieder zu sehen. Nur Tunie hat sich irgendwie komisch benommen. Gut das tut sie eigentlich immer, doch diesmal besonders. Ob sie immer noch neidisch ist, weil sie nicht nach Hogwarts hatte gehen dürfen?Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie inzwischen darüber hinweg wäre. Sie geht auf eine tolle Schule, hat einen Jungen kennengelernt, der ihr wohl gut gefällt. Auch wenn ich bisher nicht rausbekommen habe, ob er auch Interesse an ihr hat. Vielleicht ist sie auch deshalb so komisch, weil sie verknallt ist, und er sich nichts aus ihr macht. Vielleicht kann ich ja etwas nachhelfen … es gibt tolle Zaubertränke dafür (hinter diesen Worten, waren zwei Herzchen gemalt, die ineinander verschlungen waren)

Severus schmunzelte und versuchte sich Lilys Schwester vorzustellen, wie sie mit einem Jungen da stand und sie sich wild und heftig küssten. Seine Lippen kräuselten sich bei dem Gedanken und kaum merklich schüttelte er den Kopf.

Sev ist nicht vorbei gekommen, obwohl er es versprochen hatte. Ob er wieder Ärger zuhause hat?Manchmal wünschte ich, sein Vater würde sich einfach in Luft auflösen und verschwinden. Na ja, seine Mum macht auch nicht grade einen supernetten Eindruck auf mich, aber sie schlägt ihn wenigstens nicht.

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Geschlagen hatte Severus' Dad ihn nicht, aber in sein Zimmer gesperrt. Kaum dass er daheim gewesen war. Seine Mutter hatte ihm erst, als sein Dad zur Arbeit weg war- er hatte diese Woche die Nachtschicht - etwas zu Essen bringen können. Dann war seine Mum bei ihm sitzen geblieben und er musste ihr von der Schule erzählen, vom Unterricht, den Lehrern und seinen Noten. Seine Mutter war kein Mensch gewesen die ihre Gefühle offen zeigen konnte, dennoch hatte er in ihren Augen so etwas wie unheimlichen Stolz gesehen. Und genau dieser Blick war es, der ihn dazu veranlasste durchzuhalten, weiter zu machen und er beschloss, noch viel mehr zu lernen.

So verließ er das Haus weder am ersten noch am zweiten Ferientag. Sein Vater hatte ihm eine Woche Hausarrest gegeben, weil er vergessen hatte, seine Koffer gleich in sein Zimmer zu stellen.

Doch als sein Vater am zweiten Abend wieder zur Arbeit gegangen war und seine Mutter ihm das Abendessen gebracht hatte, sagte er ihr, dass er noch lernen wollte, woraufhin sie ihn alleine lies.

Schnell war Severus aus seinem Fenster geklettert. Er war so mager, dass er sogar zwischen den Gitterstäben hindurchpasste, die vor seinem Fenster angebracht waren. Nun gut, vielleicht schaffte er es auch nur sich durchzuzwängen, weil eine der Stangen lose war und diese sich etwas zur Seite schieben ließ.

Er brauchte nicht lange, bis er vor dem Haus der Evans stand und zum Fenster hoch sah, wo Lilys Zimmer lag. Er was schon einige Male hier gewesen, deshalb wusste er genau, welches ihr Fenster war.

Zuerst sah er nur hoch zu ihr und wartete, doch dann sammelte er ein paar kleine Kieselsteine auf und warf sie im Sekundentakt gegen die Scheibe.

Im ersten Moment, als jemand das Fenster energisch öffnete, trat er fast erschrocken einen Schritt zurück und verbarg sich im Schatten eines Baumes. Doch als er das rote Haar im Lichtschein, der aus dem Zimmer kam, erkannte, schritt rasch er unter das Fenster und sah hoch zu ihr.

„Hallo, ich bin' s. Kannst du runterkommen?"

„Sev?", ihre Stimme klang sehr überrascht. Kurz blickte sie hinter sich, doch dann neigte sie sich noch weiter aus dem Fenster. „Was machst du hier … vor allem um die Uhrzeit?"

„Ich konnte nicht früher weg. Ich erklär es dir, wenn du runterkommst."

„Sev ich … kann nicht", flüsterte sie nun warf unsicher nochmal einen Blick in ihr Zimmer.

Als sie aber dann den traurigen Blick von ihm sah, während er die restlichen Kiesel, die er noch in der Hand gehabt hatte, wegwarf, rief sie leise zu ihm hinunter. „In Ordnung, ich komme, aber nur 5 Minuten."

Er hatte keine Zeit, um noch zu antworten, denn sie schloss rasch ihr Fenster und war auch schon wieder verschwunden.

Zur Sicherheit zog sich Severus in den Schatten zurück, mit dem er bis auf sein blasses Gesicht vollkommen verschmolz.

Er musste nicht lange warten, da knarrte die Haustüre schon leise in ihren Angeln, sie sich öffnete einen Spalt und eine zarte Gestalt schob sich lautlos hindurch. Schnell war sie in den Garten gehuscht und sah sich jetzt nach allen Seiten um.

„Sev? Sev wo bist du?"

„Ich bin hier", flüsterte er zurück und ging ihr entgegen. Er war sichtlich überrascht, als sie einfach kurz die Arme um ihn legte und ihn an sich drückte.

„Ich hatte schon Angst, dass du wieder …" Sie beendete den Satz nicht und blickt Sev an, der seinen Kopf schüttelte.

„Mir geht es gut. Mein Dad hat mir Hausarrest gegeben und da er im Moment tagsüber zuhause ist, kann ich nicht weg."

„Oh, ich verstehe. Sonst geht es dir aber gut, ja?"

„Ja", gab er mit einem Lächeln zurück. „Und bei dir? Hat sich deine Schwester beruhigt?"

„Nun ja … sagen wir es so … Ich glaube sie hat andere Probleme und ist mit sich selber beschäftigt", gab sie grinsend zurück und zog Severus dann mit sich auf eine Holzbank, die im Moment ganz im Dunklen unter einem Ahornbaum stand. Dort setzten sie sich und blickten zwischen den Ästen des Baumes hoch in den Nachthimmel, der sternenklar war und von dem es heute nur so funkelte und blinkte. Zuerst sprachen sie kein Wort und dann begannen beide gleichzeitig zu reden.

„Lily ich …"

„Weißt du …"

„Du zuerst", sagte Severus mit einem Nicken.

„Eigentlich wollte ich dir nur sagen, dass meine Eltern dieses Jahr nicht vorhaben zu verreisen, was heißt, dass ich die ganzen Ferien hier sein werde. Sie hatten wohl einige Ausgaben wegen Reparaturen am Haus. Sie sagten das Dach war undicht und na ja …"

„Hey das ist doch klasse, dann … können wir noch öfter sehen", antwortete Sev spontan, doch dann sah er auf die kleine Wiese vor dem Haus, wo die Schaukel stand, auf der Lily früher immer geschaukelt und er sie beobachtete hatte.

Zuerst antwortet Lily ihm nicht, dann aber spürte er ihre Hand auf der Seinen und sein Kopf drehte sich ganz automatisch wieder zu ihr.

„Ich bin so froh, dass dein Dad dich nicht wieder geschlagen hat. Vielleicht hat er sich ja doch verändert?"

„Nein hat er nicht und wird er sich auch nie. Schon gut, ich … habe gelernt damit umzugehen."

Lily nickte nur und drückte seine Hand etwas fester. Als sie sich nochmal ein paar Minuten angeschwiegen hatten, drückte sich Lily auf die Beine.

„Ich muss wieder reingehen. Mum wollte mir noch heiße Milch hochbringen, vor dem Einschlafen. Sehe ich dich morgen?"

„Ich kann erst wieder so wie heute kommen."

„In Ordnung, dann … werde ich es so hindrehen, dass ich verschwinden kann. Sev?"

Auch er war aufgestanden und blickte jetzt in Lilys Augen, die sogar in der Dunkelheit noch grün leuchteten.

„Ja?"
„Ich … freue mich auf morgen", flüsterte sie nun so leise, als wäre es eine Verschwörung.

„Ja, ich auch", gab er ebenso leise zurück.

Noch bevor er sie hätte aufhalten können, war sie zum Haus zurückgelaufen und darin verschwunden.

Der Slytherin hatte noch einige Zeit auf der Bank gesessen und zu Lilys Zimmer hochgesehen, solange bis dort das Licht gelöscht wurde. Dann zog er los und streunte noch in den Straßen umher. Nach Hause wollte er noch nicht. Es würde reichen, wenn er kurz vor seinem Vater zurück und in seinem Zimmer war.

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