Schatten der Vergangenheit

1.

Göberitz! Da wurde man der Schule verwiesen und dann fand man sich in diesem Kaff wieder. „Hm, atme tief, die Luft ist selten, dies ist ein guter Platz zum Zelten", maulte der ganz in Schwarz gekleidete junge Mann auf dem Beifahrersitz eines Familienwagens. „Dann hättest du dich eben nicht von der Schule werfen lassen sollen", knurrte der Fahrer, der zeitgleich auch der Vater des jungen Mannes war. „Ich bin von einer Schule geflogen und nicht von der einzigen Schule in Berlin." – „Ich bin überzeugt, dass dir dieses… idyllische Umfeld gut tun wird, Rokko." – „Ich werde den ganzen Tag damit beschäftigt sein, hier raus zu fahren und zurück ist das auch wieder eine halbe Weltreise." – „Genau das spricht auch für die neue Schule", erwiderte Rokkos Vater. „Dann hast du keine Zeit mehr für deine satanischen Freunde." – „Meine Freunde sind keine Satanisten." – „Nein, natürlich nicht und im Himmel ist Jahrmarkt", zischte Ehrhardt Kowalski sarkastisch. „Hast du dir mal überlegt, was es für Mama bedeutet, wenn ich mit Pendeln beschäftigt bin? Hast du dir mal überlegt, dass ich vielleicht gerne bei ihr wäre, jetzt wo…" Rokko schluckte hart. Der Gedanke an seine schwerkranke Mutter ließ ihm die Tränen in die Augen schießen. „Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du mit deinen feinen Freunden in die Schule einsteigst und ein… ein… ein Ritual auf dem Tisch des Schulleiters durchführst. Mama ist mit dieser Entscheidung einverstanden gewesen. Du kannst sie ja nach der Schule sehen." – „Hm, aber wer weiß, wie lange." Nun war es Ehrhardt Kowalski, der schlucken musste. Ja, es war nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Frau… nein, daran würde er jetzt nicht denken, nicht schon wieder. Verdrängen war besser. Noch lebte sie und noch halfen ihr die Medikamente. „Wir sind da. Soll ich dich zum Schulleiter begleiten?", hörte Ehrhardt sich plötzlich selbst sagen. „Nein, danke. Ich bin ein großer Junge und wegrennen hat hier ja keinen Sinn, außer ich möchte in einem Kuhstall enden." Trotzig schwang Rokko die Autotür auf und stieg aus. „Ich wünsche dir einen schönen Schultag", wünschte sein Vater mehr der lautstark zuschlagenden Tür als seinem Sohn.

„So Robert, das ist Ihr Deutsch-Grundkurs", kommentierte der Schulleiter, als er auf eine Tür zusteuerte. „Hm", brummte Rokko. Dieses Schulgebäude war piefig und rückständig und bisher hatte er keine coolen Leute gesehen. „Guten Morgen, Herr Kollege. Ich bringe Ihnen den Neuzugang", lachte der rundliche Schulleiter. „Robert Kowalski. Das ist Herr Beck, der Deutschlehrer." Rokko nickte dem Mann mittleren Alters kurz zu, sah sich dann doch lieber in seinem neuen Klassenzimmer um. Alles Landeier, fiel ein schnelles Urteil seinerseits. Aber wenigstens war es kein großer Kurs, es würde sich zumindest gut arbeiten und diskutieren lassen.

„Oh nee", murmelte Jürgen seiner Banknachbarin zu. „Schießen die wie Pilze aus dem Boden? Noch so ein Grufti hat unserer Schule gerade noch gefehlt." Lisa zuckte mit den Schultern. Sie musterte den Neuen: Schwarze Hose, schwarzes Hemd, schwarzer bodenlanger Mantel, mit schwarzem Kayal umrandete Augen, schwarzer Lippenstift. Ja, Jürgen hatte Recht, der würde gut zu den Jungs aus dem Mathe-LK passen! „Setzen Sie sich doch zu Lisa", schlug Herr Beck in diesem Moment vor. Das riss Lisa natürlich aus ihren Gedanken. Wie ein aufgescheuchtes Reh sah sie ihren Lehrer an. „Das ist die junge Dame da hinten, die ich gerade beim Träumen gestört habe", lachte der freundliche Lehrer.

„Hi", grüßte Rokko kurz. Laut ging sein ebenfalls schwarzer Rucksack neben der Bank zu Boden. „Hallo", lächelte Lisa. „Ich bin Lisa und das ist Jürgen." – „Hm", brummte Rokko. „Der sitzt da, als wären ihm seine Eier im Weg", schmunzelte Jürgen leise. „Er ist bestimmt nur unsicher, weil er neu ist." Lisa schob ihr Buch in die Mitte des Tisches. „Wir lesen gerade ‚Effi Briest'. Wenn du mit reinsehen willst." – „Hm", knurrte Rokko, wobei er sich demonstrativ nach hinten lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte.

„Hey!", kam ein junger Mann in der Pause auf Rokko zu. „Hallo", entgegnete dieser. „Du bist neu hier", stellte der ebenfalls ganz in Schwarz gekleidete Göberitzer fest. „Ich bin Robert Kowalski, aber alle nennen mich Rokko." – „Ich bin Vincent. Willst du nicht mit rüber zu meinen Freunden kommen? Ich stelle dir alle vor."

„Die Spießer hier können einfach nicht mit uns umgehen", verkündete Vincent. „Sieh sie dir an, diese feinen 1,0er-Abi-Kandidaten." Er machte eine ausschweifende Armbewegung und deutete auf Lisa und Jürgen, die mit einigem Abstand auf einer Bank saßen und über irgendetwas lachten. „Das ist die Plenske. Das ist die Oberstreberin. Mit der ist nur etwas anzufangen, wenn du mal Hilfe in Mathe brauchst. Aber denk ja nicht erst an abschreiben. Nein, abschreiben lässt sie nicht, aber die erklärt gerne und beantwortet Fragen. Örk." – „Klingt, als könntest du sie nicht sonderlich leiden. Ich fand sie eigentlich ganz nett – ein bisschen puttchenhaft vielleicht…" – „Das habe ich nicht gesagt", widersprach Vincent. „Sie wird uns noch sehr nützlich sein", grinste er dann, dass einem ein Schauer über den Rücken laufen lassen konnte.