Ludwig.
Schuhe. Zum Glanz poliert. Schnürsenkel. Eine gleichmäßige Schleife, die Enden gleich lang. Hose. Schwarz, mit einer perfekten Bügelfalte. Gürtel. Schwarzes Leder, glatt, eine silberne Schnalle. Jackett. Schwarz, mit leichtem Glencheckmuster, makellos glatt.
Er hob seinen Kopf und betrachtete sich selbst im polierten Spiegel.
Hemd. Weiß, glatt, ein Kentkragen. Krawatte. Blassilber, doppelter Windsorknoten.
Ludwig ließ seine Hand noch einmal über sein Kinn gleiten. Rasur war perfekt. Die Haut war weich und glatt. Er trug heute ein weicheres Rasierwasser. Man müsste sich zu ihm vorbeugen, um es zu riechen.
Er senkte seinen Kopf vor dem Spiegel und richtete seine Jackettärmel. Er hob den Kopf wieder. Betrachtete seine Haare.
Zurückgekämmt, wie früher. Wie immer. Glatt und perfekt. Wie alles an ihm.
Er hob den Kopf wieder.
Seine eisblauen Augen…auch sie…waren wie immer. Die Wunden in seinem Gesicht waren ohne Narben verschwunden. Sein Körper war makellos verheilt. Er war stärker, als zuvor. Er konnte es immer wieder spüren. Ludwig versuchte sein Spiegelbild anzulächeln. Er strengte die Muskeln in seiner Wange an. Lies seine Mundwinkel kurz auf und abzucken.
Einmal. Zweimal.
Es war anstrengend. Es war ungewohnt. Er hörte auf zu Lächeln. Schaltete es ab. Erstickte es. Ließ es erlöschen. Es verstarb nicht. Er hatte die Leitung gelöst.
Er betrachtete sich weiter. Narziss war verliebt in sein Spiegelbild. Ludwig verstand ihn nicht. Wäre Ludwig sich begegnet…auf der Straße…er hätte sich nicht gemocht. Früher. Vor Jahren. Ein anderer Ludwig. Ein anderer Ludwig hätte sich selbst vielleicht freundlich zugenickt. Vielleicht einen Hut gezogen. Aber Ludwig trug keine Hüte mehr. Und Ludwig nickte auch nicht. Und er lächelte nicht.
Ludwig trat vor seinem Spiegel zurück. Unter den Ärmeln seines Jacketts lugte seine schwere, silberne Armbanduhr hervor. Weißgold. Er hatte sie gestern gekauft. Nur für heute. Sein Mund verzog sich wieder. Nicht zu einem Lächeln. Zu einer grimmigen Grimasse.
Was hatte er gedacht?
Was wollte er tun?
Wollte er ihn beeindrucken?
Gilbert? Den nie etwas beeindruckt hatte…
Aber vielleicht ließ er sich heute beeindrucken?
Mit einer Hand öffnete Ludwig die Schnalle des Armbandes und ließ die Uhr über seine Hand gleiten. Sie war teuer gewesen. 500 DM.
Was hatte er gedacht?
Er ließ die Uhr achtlos auf den Badezimmerbeistelltisch fallen. Seine Rasierwässer standen dort. Ordentlich in einer Reihe. Fünf Flaschen. Sie hatten alle die gleiche Größe. Sie standen in einer ordentlichen Reihe. Ihre Etiketten waren nach vorne gedreht. Sie waren alle völlig zugeschraubt. Vielleicht hätte ein anderer Ludwig hier gelächelt. Hätte sich an dieser Ordnung erfreut. Und dann…dann wäre jemand gekommen und hätte sie zerstört. Feliciano hätte das Rasierwasser probieren wollen, und hätte die Ordnung durcheinandergebracht. Hätte wahrscheinlich die Flasche nicht einmal zugeschraubt. Gilbert hätte aus Versehen eine Flasche fallen gelassen oder sie mit dem Ellenbogen umgeworfen. Roderich hätte gefragt, ob er sich eine Flasche ausleihen können…vielleicht für einen Ball? Für ein Konzert? Roderich doch den Geruch von Ambra oder Patchouli. Und danach hätte er diese Flasche Ludwig niemals zurückgegeben. Und der frühere Ludwig wäre wütend gewesen und hätte geschimpft. Und dann hätte er geschmunzelt und hätte die Flaschen ersetzt und geordnet.
Und den Kopf geschüttelt.
Der heutige Ludwig schloss zuhause seine Badezimmertür ab.
Der heutige Ludwig würde sich daran gewöhnen müssen, es nicht mehr zu tun.
Ludwig betrachtete die Uhr neben den Rasierwasserflaschen.
Wenn Gilbert wieder zu ihm zurückkehren würde.
Diese Uhr. Mit ihren vier Zifferblättern. Mit tickenden Zeitanzeigen. Dieses Denkmal für Präzision. Was hatte er sich gedacht? Feliciano hätte ihm gesagt, dass diese Uhr nicht einmal gut aussah. Und das tat sie nicht. Aber…Ludwig schüttelte den Kopf. Kein Aber.
Was hatte er sich nur gedacht?
Hatte er geglaubt, dass sie diesen Abend einfacher machen würde? Das er diesen Abend mit dieser Uhr hinter sich bringen könnte? Gilbert würde kommen und sie sehen und bewundernd pfeifen? Er würde ihm die Stoppuhrfunktion zeigen…und sie würden vierzig Jahre vergessen? Vierzig Jahre waren nicht viel. Nicht für ein Land…aber sie wurden sehr lang.
Wenn einem etwas fehlte.
Er sah wieder auf und betrachtete seine Haare. Was dachte er sich nur?
Er schüttelte den Kopf. Es fehlte etwas. Etwas fehlte seit langer Zeit. Aber heute würde es wieder von einem Teil von ihm. Und vielleicht…würde sich dann etwas ändern. Eine wandernde Hand…die nicht die seine sein konnte, durfte…aber es doch war…fuhr durch seine glatten Haare. Presste sie noch einmal gegen seinen Kopf.
Was dachte er sich nur?
Ludwig schüttelte den Kopf.
Er hatte ein flaues Gefühl im Magen. Es verließ ihn nicht. Er konnte sich kleiden, wie es ihm gefiel. Er konnte sein Äußeres putzen und trimmen…Er war ohne Bedeutung. Es fehlte ihm immer etwas.
Ludwig schüttelte den Kopf wieder.
Er wandte sich vom Spiegel ab und drehte den Schlüssel im Türschloss, bevor er die Badezimmertür langsam öffnete und heraustrat. Er schloss die Tür hinter sich. Die Berliner Luft drang ihm entgegen und ihm stellten sich die Nackenhaare auf. Berliner Luft hatte ihn in den letzten Jahren nervös gemacht. In Bonn war es weniger gefährlich gewesen. Oder nicht? Er hatte sich an Bonn gewöhnt. Jetzt war er wieder in Berlin. Jetzt war er wieder in der ehemaligen Hauptstadt.
Reichshauptstadt. Hallte es durch seinen Kopf und Schemen der Vergangenheit blitzten durch seinen Kopf. Straffe Uniformen. Wütende Gesichter. Totenköpfe an Mützen. Hacken wurden zusammengeschlagen.
Was hatte er sich dabei bloß gedacht? Er war immer ein Narr gewesen.
Er schloss die Badezimmertür hinter sich und sah sich im Hotelzimmer um. Er hätte jeden Raum, jedes Haus in Berlin haben können. Aber er hatte ein Hotelzimmer gemietet.
Aber er wollte fliehen können.
Was, wenn er versagte? Was, wenn er scheiterte?
Was, wenn er sein Volk enttäuschte? Seine Vorgesetzten? Amerika, Frankreich und England?
Vielleicht die ganze Welt?
Er brauchte einen schnellen Fluchtweg.
Warum er? Er konnte schlecht mit Menschen umgehen. Das wusste er zu gut. Wie oft hatte er mit einem unsanften Ton Feliciano an den Rand der Tränen gebracht. Wie oft hatte er sich im Ton vergriffen, bis ihm Arthur gehobenen Brauen und einem pikierten Blick signalisiert hatte, dass er zu weit ging. Wie oft hatte er sich so grob verhalten, dass Francis bereit gewesen war ihn aufzugeben? Sicherlich konnte er nicht einmal mit Kiku umgehen. Nur war der zu höflich es ihm zu sagen.
Und jetzt war er hier und musste diese Situation meistern. Das Wiedersehen mit seinem Bruder. Nach Vierzig Jahren mit Russland.
Und hätte Ludwig nicht…hätte er damals nicht…
Wäre es damals anders gekommen…dann wäre all das nie geschehen.
Es war ein einfaches Hotelzimmer. Es gab ein Doppelbett. Eine Couch. Einen Röhrenfernseher. Die Bettdecke war unberührt. Zwei Schokoladenstücke lagen darauf. Er hatte es nicht über sich gebracht, sie zu essen. Er hatte die grässlichsten Gerüchte über die Zone gehört. Lebensmittelknappheit. Gehirnwäschen. Was, wenn Gilbert keine Schokolade gehabt hatte? Wenn er sie nicht mehr kannte?
Schuldbewusst dachte er an die Uhr auf dem Badezimmertisch. An seine Rasierwässerchen, die er aufgebaut hatte.
Was hatte er sich bloß gedacht?
Und wie viel Uhr war es?
Seine Uhr lag jetzt im Badezimmer. Sie tickte. Er konnte sie nicht hören, aber er wusste, dass sie tickte und so hörte er sie doch. Sie würde ihm die Zeit sagen, wenn er sie betrachtete. Er musste nur auf das Zeigerblatt sehen.
Würde Gilbert gleich hier sein?
Vielleicht waren es noch einige Minuten?
Vielleicht Zehn? Fünf? Drei? Oder…würde er gleich klopfen?
Er wollte die Uhr zurück. Er wollte seine Uhr wieder anziehen. Er wollte das Gewicht an seinem Arm, dass an ihm zog.
Er wandte sich wieder der Badezimmertür zu. Sie war geschlossen. Dahinter war die Uhr. Die Uhr…die Uhr…die Uhr, die ihm sagen würde, wann alles vorbei wäre. Und wann alles beginnen würde. Wann eine Ewigkeit vergangen war. Wann würde Zeit anfangen, all diese Jahrzehnte aufzuarbeiten? Ludwig hatte seinen Bruder verloren. Sein Volk hatte seine Brüder verloren. Und diese Brüder waren zu Cousins geworden. Zu Großcousins. Ferne Anverwandte. Bekannte. Aber das Verlangen war geblieben. Ein fernes, unbestimmbares Verlangen. Ein Verlangen nach Menschen, die man kaum noch kannte…das Verlangen nach einem Ende des Grauens, dass jederzeit losbrechen könnte. Ein Verlangen nach einer vereinten Seele.
Und das Grauen war hier. Es war zerbrochen. Es war mit dieser Mauer zerbrochen.
Hatte Gilbert das Hotel gefunden? Er hatte seine Vorgesetzten gebeten, ihn herzubringen. Sie hatten ihm ein großes Fest im Adlon angeboten. Sie hatten ihm einen Saal in Steglitz angeboten.
Er hätte das Adlon nehmen wollen. Und er hatte den Gedanken in seinem Kopf hin- und herbewogen. Ihm gefiel der Gedanke. Ein Ball vielleicht? Roderich könnte sich um die Musik kümmern. Und wenn die Situation unangenehm würde, könnte er fliehen. Unzählige Westdeutsche Abgeordnete würden Gilbert begrüßen wollen. Aber was hatte er sich gedacht? Was hatte er sich gedacht, bei dem Adlon? Bei der Uhr? Er schüttelte den Kopf.
Das Grauen war hier. Die Berliner Luft war hier. Sie lauerte über ihn. Es würde Jahre brauchen, bis Berlin diesen Geruch verlor. Bis er hier wieder heimisch sein könnte. Selbst wenn Berlin wieder Hauptstadt würde.
Ludwig drückte den Lichtschalter hinter sich und senkte die Finsternis über das Badezimmer hinter seiner verschlossenen Tür. Vor seinem inneren Auge sah er, wie das Zifferblatt seiner Uhr erlosch…der gnadenlose Sekundenzeiger.
Mit einigen entschlossenen Schritten trat er zu dem Fenster. Er konnte lautes, wildes Stimmengewirr hören. Doch sehen konnte er nichts. Das Licht im Zimmer ließ die Dunkelheit der Nacht nicht durch das Fenster dringen. Er drückte das Fenster zu und legte den Griff um.
Die Berliner Luft lag immer noch im Raum.
Irgendwo über das Stimmengewirr drangen Kirchenglocken. Sie schlugen die volle Stunde…
Und es klopfte.
Mehrmals.
Ein erstes Mal zaghaft. Leise. Schwach. Wie ein Versuch.
Dann lauter. Und noch ein drittes Mal…noch lauter.
Ludwig wagte es zuerst nicht, sich zur geschlossenen Tür umzuwenden.
Er spürte ein Brennen in seinen Augen. Die Berliner Luft. Ohne Zweifel.
Gilbert.
-
Fortsetzung folgt.
