Die giftgrünen Leuchtziffern des Weckers sprangen auf fünfzehn Uhr. Ein schrilles Piepen erfüllte den Raum. Kurz darauf tastete eine schlanke Hand mit schwarz lackierten Nägeln über den Nachttisch und warf auf ihrem Weg zum Ausschaltknopf den einen oder anderen Gegenstand um. Sobald das nervtötende Geräusch verstummt war, machte die Hand sich am Schalter der kleinen Lampe zu schaffen, deren Schein die nähere Umgebung in ein warmes Gelb tauchte und die Person sichtbar machte, die gerade auf unangenehme Weise aus dem Reich der Träume gerissen worden war. Bill Kaulitz, achtzehn Jahre alt, Sänger der Band Tokio Hotel und rekordverdächtiger Langschläfer.
Stöhnend rieb Bill sich über die verquollenen Augen. Es war zu früh, viel zu früh! Fünfzehn Stunden Schlaf reichten bei Weitem nicht aus, damit er sich fit fühlte. Allerdings würde er das benötigte Pensum wohl nie erreichen, nicht in seinem Beruf und schon gar nicht im Moment, denn die Band befand sich auf Tour, und das bedeutete: Anstrengung pur!
Schwerfällig setzte Bill sich auf und fuhr sich mit beiden Händen durch das tiefschwarze Haar. Noch zwei Stunden bis zum Soundcheck und Warm Up. Um neunzehn Uhr begann das Konzert. Bill fühlte schon jetzt die ziehende Nervosität im Magen. Er freute sich auf die Fans, das tat er jedes Mal, doch gleichzeitig plagte ihn die zermürbende Angst, ihren Erwartungen nicht gerecht zu werden. Was, wenn es ihnen nicht gefiel…?
Er schüttelte heftig den Kopf und schwang die Beine aus dem Bett. Nur nicht darüber nachdenken. Es würde alles gut gehen, wie immer. Die Show würde ein Erfolg werden und die Fans würden begeistert sein.
Bill wankte ins Bad, stieg in die Dusche und spürte, wie das heiße Wasser auf seinen Rücken prasselte und ihn beruhigte. Er hätte ewig so dort stehen bleiben können, doch er zwang sich, das Wasser abzustellen, sich anzuziehen und sich um seine Frisur zu kümmern. Er öffnete den Schrank über dem Waschbecken und nahm eine Haarsprayflasche heraus. Ungefähr ein Dutzend hatte er noch vorrätig, lange würde er damit jedoch nicht auskommen, schließlich verbrauchte er jeden Tag eine ganze Flasche.
Als die Frisur endlich zu Bills Zufriedenheit saß und er gerade dabei war, seine Augen mit Kajal zu umranden, klopfte es an der Tür.
„Bill? Bist du fertig? Wenn du vor dem Soundcheck noch etwas essen willst, musst du dich beeilen!"
Bill warf einen kurzen Blick zur Uhr.
„Fuck!", entfuhr es ihm unwillkürlich. Er hatte nicht auf die Zeit geachtet. „Ich komme gleich, Tom! Kannst du mir die Cornflakes fertig machen?"
„Jaja, schon gut."
Bill hörte, wie sein Zwillingsbruder sich entfernte und in die Küche des Tourbusses ging. Was würd er nur ohne ihn tun? Bill und Tom waren wie ein und dieselbe Person, waren unzertrennlich und wussten alles voneinander.
Als er fertig geschminkt war, ging er in die Küche und ließ sich auf die Sitzbank fallen. Georg, der ihm gegenüber saß und ein Sandwich verspeiste, grinste ihn an.
„Na, auch endlich ausgeschlafen?"
„Halts Maul", sagte Bill und zog die Schüssel mit den Cornflakes heran, die Tom vorbereitet hatte. „Wo sind die anderen?"
„Tom gammelt hinten auf dem Sofa, und Gustav keine Ahnung."
Bill zuckte die Schultern. Der Schlagzeuger würde schon wieder auftauchen.
„Bereit für die Show?", fragte er Georg und schob sich einen Löffel Cornflakes in den Mund.
„So bereit wie man sein kann", erwiderte dieser mit vollem Mund. „Und du, Boss?"
Bill sagte nichts. Es gab nichts dazu zu sagen. Man konnte nie wirklich bereit dafür sein, vor zehntausend Menschen auf der Bühne zu stehen und das Höchste vom Höchsten zu erbringen, um ihre Erwartungen voll und ganz zu erfüllen. Georg schien zu wissen, was er dachte, denn er warf ihm einen bedeutungsvollen Blick zu.
Die beiden aßen schweigend zuende. Bill gesellte sich anschließend zu seinem Bruder, und sie sprachen über Gott und die Welt, um sich gegenseitig die Angst ein wenig zu nehmen. Bill war so unglaublich froh, dass Tom da war. Ohne ihn hätte er das alles niemals geschafft. Vielleicht wäre er ohne ihn nie so weit gekommen.
„Glaube ich auch", sagte Tom und legte ihm grinsend einen Arm um die Schultern. Bill grinste ebenfalls. Die Zwillinge brauchten nicht miteinander zu reden um zu wissen, was im jeweils anderen vorging. Die meisten Menschen wären vermutlich peinlich berührt, wenn jemand genau wüsste, was sie dachten, doch für Bill und Tom war es ganz selbstverständlich und nicht wegzudenken.
„Ich glaube, wir müssen langsam los", sagte Bill schließlich und erhob sich. Tom folgte ihm.
„Hey, Georg, ist Gustav wieder da?"
„Ich bin direkt neben dir, du Penner", kam es vom Spülstein, gefolgt von einem Schlag in die Seite.
„Danke, dass du meine Schüssel mit spülst", erwiderte Bill.
Gustav zog die Augenbrauen hoch.
„Ach, das ist deine? Jetzt wissen wir endlich, wer sein Zeug nie wegräumt!"
„Nie?! Das war dieses eine Mal!"
„Ja, klar, und was war gestern und vorgestern? Bill, keiner von uns isst so viel Cornflakes wie du!"
„Bist du bescheuert? Ich habe meine Schüsseln immer gespült!"
Georg stand auf.
„Ist okay, jetzt kommt mal runter. Ist doch echt egal, wem die Schüssel gehört. Wir müssen jetzt zum Soundcheck."
Vor dem Bus warteten bereits zwei Security- Männer, die die Vier in die Mitte nahmen und zur Halle begleiteten. Am Zaun, der den Parkplatz von dem Rasen vor der Halle trennte, tummelten sich ein paar Dutzend Fans. Sobald sie die Jungs entdeckten, fingen sie an zu kreischen und fuchtelten wild mit den Händen in ihre Richtung. Bill winkte ihnen kurz zu, bevor sie den Backstage- Bereich betraten.
Der Soundcheck verlief reibungslos und bald fanden sie sich in der Garderobe wieder, wo jeder seinem Warm Up nachging. Bill summte Tonleitern, Tom und Georg spielten die Songs mit Gitarre und Bass. Gustav war der Einzige, der nicht spielte. Er trug Kopfhörer und machte Sportübungen.
Schließlich war es soweit, bis zum Showbeginn blieben noch fünf Minuten. Bill konnte die Fans schreien hören, obwohl sie sich zwei Stockwerke über ihm befanden. Die Stimmung war eindeutig gut, eine wichtige Voraussetzung für eine gelungene Show. Die Nervosität erfüllte inzwischen jede Zelle seines Körpers und drohte, ihn zu lähmen. Dann ertönte über Lautsprecher die Ansage.
„Showtime for Tokio Hotel."
Bills Herzschlag verzehnfachte sich, als er mit den anderen die Stufen hinaufstieg. Im Erdgeschoss trennten sie sich; er würde per Aufzug auf die Bühne herausfahren, während die anderen schon da waren.
Direkt unter der Bühne war der Geräuschpegel noch extremer, doch es machte Bill nichts aus. Er liebte es, wenn die Fans schrien, er wollte, dass sie Spaß hatten und es auch zeigten. Die ersten Töne von Übers Ende der Welt erklangen und der Aufzug setzte sich in Bewegung. Grelles Scheinwerferlicht blendete ihn. Bill hörte auf zu denken. Jetzt gab es nur noch diese Bühne, die Fans und seine Band.
