Prolog

„Und es geschah, als Arathorn und Gilraen erst ein Jahr verheiratet waren, dass Arador in den Katfelsen nördlich von Bruchtal von Bergtrollen überwältigt und erschlagen wurde; und Arathorn wurde Stammesführer der Dûnedain. Im nächsten Jahr gebar Gilraen ihm einen Sohn, und er wurde Aragorn genannt. Aber Aragorn war erst zwei Jahre alt, als Arathorn mit Elronds Söhnen gegen die Orks ausritt und durch einen Orkpfeil getötet wurde, der ihm das Auge durchbohrte; und so erwies es sich, dass er für einen seines Geschlechts wirklich kurz gelebt hatte, denn er war erst sechzig, als er fiel.

Da wurde Aragorn, der jetzt Isildurs Erbe war, mit seiner Mutter in Elronds Haus gebracht, um dort zu leben; und Elrond vertrat Vaterstelle an ihm und gewann ihn lieb wie einen eigenen Sohn. Doch wurde er Estel genannt, dass heißt Hoffnung , und sein wirklicher Name und Stammbaum wurde auf Elronds Geheiß geheim gehalten; denn die Weisen wussten damals, dass der Feind danach trachtete, Isildurs Erben zu entdecken, wenn es auf Erden einen gab."

( Auszug aus den Anhängen Band 3 von J.R.R. Tolkien )

1.Kapitel: Estel

Der See lag still und ruhig vor den Evendin – Bergen und spiegelte diese ebenso wider, wie den sternenklaren Himmel. Der Mond tauchte die Landschaft in ein Spiel aus silbernem Licht und Schatten und nur in dem ringförmigen Kreis des Lagerfeuers überwog das Prasseln der Flammen die Geräusche der Nacht. Elrohir und Elladan vernahmen dennoch jeden der Nachtklänge so, als wären es die einzigen, die im verlorenen Reich von Arnor zu hören waren. Nichts entging den scharfen Sinnen der Elben und sie warfen sich hin und wieder einen Blick zu, um sich stumm miteinander zu verständigen. Dem jungen Mensch an ihrer Seite entging zwar das ein oder andere Geräusch des umliegenden Landes, doch auch seine Sinne waren mit den Jahren unter den Elben so geschult, dass auch er eine bestehende Gefahr sofort wahrgenommen hätte. In dieser Nacht lag jedoch der Friede des Landes um sie herum und ihre Pferde grasten friedlich in der Nähe des Lagers, schnaubten zufrieden und schüttelten ab und an ihre Mähnen, um eine aufdringliche Fliege zu verscheuchen.

Wieder wechselten die Elbenbrüder einen Blick miteinander, bevor Elladan sich wieder seiner Betrachtung des Menschen zuwandte. In den letzten Monaten hatte Estel sich wahrlich verändert, stellte er ohne jegliche Verblüffung fest und betrachtete das ernste, schöne Gesicht, dessen graue Augen tief in Gedanken auf die Flammen gerichtet waren. Das lange, braune Haar fiel auf die inzwischen breiter gewordenen Schultern und auch wenn die Arme jetzt ruhig auf den angewinkelten Knien des jungen Mannes ruhten, so war sich Elladan sicher, dass Estel bei dem kleinsten, verräterischen Geräusch geschwind wie sie selbst, mit gezogenem Schwert auf den kraftvollen Beinen stehen würde. Elrond würde sehr zufrieden sein, wenn sie Bruchtal erreichten und er seinen Ziehsohn nach fast zwei Jahren wieder sehen würde und anstelle des neunzehnjährigen Jungen einem Mann ins Angesicht blicken würde. Und was würde Gilraen sagen? Wenn sie sehen würde, wie groß die Ähnlichkeit war, die ihr Herz sicher noch schwerer werden ließ und ihren Augen eine noch tiefere Traurigkeit verleihen würde.

Elladan graute vor diesem Augenblick mehr, als er sich eingestand, denn so wie Elrond Vaterstelle an Estel angenommen hatte, so war Gilraen für ihn und Elrohir eine enge vertraute geworden; eine Freundin. Es schmerzte ihn sehr, die Trauer um den Mann und die Sorge um den Sohn in ihrem Gesicht wieder zu finden.

Elladan riss sich von diesen freudlosen Gedanken los, weil Estel jetzt zu ihm herüber sah und der Elb fürchtete, seine Gefühle könnten ihm nur zu deutlich im Gesicht geschrieben stehen. Aber als sich ihre Blicke trafen, verlor er gänzlich die Kontrolle über seine Empfindungen. Elladan lief ein Schauer über den Rücken, weil er wieder einmal glaubte, in Arathorns Augen zu sehen und nicht in die dessen Sohnes. Bei den Valar! Die Ähnlichkeit zu seinem Vater nahm mit jedem Tag an Intensität zu, auch wenn Estel ebenso viele Gemeinsamkeiten mit seiner Mutter aufwies, so überwogen doch die Merkmale von Isildurs Nachfahren.

Für einen Moment tauchten entsetzliche Bilder vor Elladans innerem Auge auf und er sah ein lebloses, schmerzverzerrtes Gesicht, in dessen Auge ein Orkpfeil steckte. Grauen erfasste ihn, doch plötzlich veränderte sich das Gesicht und nahm besorgte Züge an. Estel beugte sich zu ihm herab, eine Hand auf seiner Schulter. „Fühlst du dich nicht wohl, Elladan?"

Elladan hob rasch abwehrend die Hand. „Nein, es ist nichts! Danke Estel." Einen Moment konnte er Zweifel, aber auch ehrliche Sorge im Gesicht des Menschen sehen. Estel schien hin und her gerissen zwischen diesen beiden Gefühlen, aber er wußte wohl auch, dass Elladan keine weitere Erklärung abgeben würde. So gut kannte er ihn inzwischen.

Estel wandte sich zu Elrohir um und zog die Schultern hoch, überließ Elladan seinem Schweigen und begab sich zu seinem Lager. Elrohir beobachtete ihn, als er sich darauf ausstreckte und die Decke um sich zog. Wartete, bis die Atemzüge einen steten, tiefen Rhythmus angenommen hatten und begab sich dann an Elladans Seite.

„Gib das nächste Mal besser Acht! Irgendwann beginnt Estel misstrauisch zu werden und gibt sich nicht mehr mit so einer Abfuhr zufrieden! Auch wenn er es sich nicht anmerken lassen will, so bin ich überzeugt, dass er irgendetwas ahnt! Er ist still und in sich gekehrt in der letzten Zeit…"

Elladan nickte. „Ich wünschte, ich könnte meine Gefühle so gut verbergen wie du Bruder, aber …, ", seine Stimme brach und er räusperte sich. „…ich kann ihn nicht mehr ansehen, ohne an diese letzte Schlacht zu denken und seinen Vater vor mir zu sehen!"

Elrohir seufzte. „Es ist für dich schwerer als für mich! Du warst es, der an Arathorns Seite war, als er starb. Du warst es, der ihm den Ring vom kalten Finger gezogen hat und ihn Ada übergeben hat. Aber es ist Elronds Aufgabe, den rechten Zeitpunkt zu wählen, um Estel die Wahrheit mitzuteilen. Und er sollte es nicht durch einen Zufall erfahren, oder durch eine Unachtsamkeit."

Elladan nickte, aber er hoffte, dass dieser Zeitpunkt bald kommen würde, denn er hasste es, Estel anlügen zu müsse und ihm etwas vor zu machen. Der Elb wusste um das feine Gespür des Menschen und dies war nicht das erste Mal gewesen, dass Estel ihn in seinen Grübeleien ertappt hatte. Elrohir hatte Recht! Estel würde nicht weiterhin so leicht aufgeben, sondern darauf beharren zu erfahren, was mit seinem Ziehbruder nicht stimmte.

Früh am Morgen brachen sie auf, nachdem sie ihre Sachen zusammengepackt und sich gestärkt hatten. Elladan schickte Estel herunter zum Fluss ihre Wasserbeutel auffüllen und beseitigte in seiner Abwesenheit die kaum erkennbaren Spuren, die der Mensch im Gegensatz zu den Elben hinterlassen hatte.

Sie wandten sich nach Osten um dem Flusslauf zu folgen, der sie später nach Süden führen würde, zum alten Wald, doch sie wollten sich vorher wieder nach Osten wenden und nach Bree reiten. Dem nächsten Ziel auf ihrer Heimreise nach Bruchtal.

Bruchtal! Estel würde froh sein, nach der gefahrvollen Zeit ihrer Wanderung endlich wieder an diesem Ort seiner Heimat zu verweilen und wieder zur Ruhe zu kommen.

Alle Drei schwiegen auf ihrem Ritt, lauschten auf das Sprudeln des Flusses und waren froh über die leichte Brise, die ihnen in der Sonne etwas Linderung verschaffte. Sie legten bis zum späten Nachmittag keine Rast ein, dass Licht verblasste langsam und die Schatten, der vereinzelt am Ufer stehenden Bäume, wurden länger. Nur ihre Kronen waren noch in strahlenden Sonnenschein getaucht. Immer noch fegte eine leichte Brise über das Land und kräuselte das Wasser an diesem ruhigen Abschnitt des Flusses.

Während Elladan und Elrohir das Nachtlager aufschlugen, führte Estel seine Stute zum Fluss herunter und ließ sie das kühle Nass trinken, wobei sein Blick über die Landschaft schweifte. Mit halb geschlossenen Augen beobachtete er einige Vögel, die ihre Kreise am Himmel zogen. Er seufzte zufrieden. Dies war für ihn die schönste Zeit des Tages, wenn die letzten Strahlen der Sonne alles in weiches Licht tauchte und die Tiere noch ein letztes Mal umherzogen, bevor sie sich in ihre Höhlen und Nester begaben, die Schatten sich nach oben weiteten und sich allmählich die Dunkelheit über alles legte. Es war, als hielte alles den Atem an, bis der nächste Morgen graute und das Leben wieder erwachte.

Zufrieden kehrte er zu den Zwillingen zurück, sattelte sein Pferd ab und schickte sich an, dass Lagerfeuer zu entzünden. Es wurde jetzt immer schneller dunkel und bald wäre das Feuer ihre einzige Lichtquelle, denn am Himmel zogen Wolken auf, die den Mond bald vollständig verdeckten. Estel starrte ins Feuer und musste wieder daran denken, wie seltsam sich die Zwillinge verhielten, seit sie sich auf der Heimreise befanden. Sonst waren sie alle immer von solcher Vorfreude erfüllt, wenn sie an ihre Ankunft dort dachten und sie hatten stets zur Eile gedrängt um rasch wieder in Bruchtal zu sein, doch diesmal ließen sie sich ungewöhnlich viel Zeit. Dass sie bereits jetzt schon ihr Lager aufschlugen, anstatt noch etwas weiter zu reiten, zeigte dies wieder deutlich.

Ein brennender Zweig zersprang knisternd und versprühte kleine Funken, die herabsanken und noch verloschen, bevor sie den Boden berührten, doch Estel sah nichts von all dem.

‚Was mochte sie in Bruchtal erwarten, dass die Zwillinge ihr Eintreffen dort hinauszögerten?'

Er dachte noch darüber nach, als Elrohir ihn sacht anstieß und ihm grinsend einen Becher reichte.

„Was starrst du so ins Feuer? Versuchst du in den Flammen etwas zu finden?"

Ein Blick in dessen Richtung genügte, um Estel zu zeigen, dass Elrohir ihn nur zu gerne versuchte aufzuziehen. Er erwiderte nichts, sondern sah ihn nur über den Rand des Bechers hinweg an. Er wusste aus Erfahrung, dass er nur mit Schweigen wieder seine Ruhe bekam.

Elladan reichte schließlich jedem einen der Lembas und sie speisten in stillem Einvernehmen.

Nach dem Essen begannen sie, ihre Reiserute für den nächsten Tag durchzusprechen und Estel legte sein Schwert und den Bogen ab, zog seinen Dolch und begann, an einem Zweig zu schnitzen, einfach nur, um seine Hände zu beschäftigen. Doch es dauerte nicht lange, da Fluchte er unterdrückt und begann, sich an seinem Daumengelenk zu lutschen.

Elladan lachte. „Lass es lieber, bevor du dir noch bei dieser überflüssigen Beschäftigung mehr als nur einen Schnitt holst! Es gibt genug Elben in Bruchtal, die dir neue Pfeile schnitzen können, ohne dabei dein Blut zu vergießen!" Elrohir stimmte in sein Lachen ein und auch Estel konnte nicht umhin, als über seine eigene Ungeschicktheit zu lächeln.

Doch das Lachen verstarb abrupt als alle drei ein Knacken vernahmen und Estel spürte eine Gänsehaut über seinen Rücken heraufkriechen. Gleichzeitig waren sie auf den Beinen und ließen ihre Blicke über das hohe Flussgras schweifen, dass sich bis zu dessen Lauf erstreckte und versuchten in den dahinter liegenden Schatten etwas aus zu machen, als auch schon fünf Orks hinter den rückwärtigen Bäumen hervorkamen. Sie stürzten sich jedoch nicht auf sie, sondern auf die Pferde und trieben sie vor sich her, weg vom Lager. Zwei von ihnen schossen Pfeile in ihre Richtung ab, was Elladan und Elrohir nicht davon abhielt, sofort die Verfolgung aufzunehmen, um ihre Tiere zu retten.

Estel, der nur mit seinem Dolch bewaffnet war, hatte auf der anderen Seite des Feuers gesessen und einigen Abstand zu den Elben gehabt. Sie verschwanden schon zwischen den Bäumen, als er gerade erst die Hälfte der Lichtung hinter sich gelassen hatte, doch weiter kam er nicht. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte auf die Stelle des Unterholzes, von wo aus er das Aufblitzen der Augen gesehen hatte. Ein tiefes Grollen erklang und im nächsten Moment sah er seine Befürchtung bestätigt, denn aus der Dunkelheit löste sich der massige Körper eines Warges.

Langsam, sein Opfer immer im Auge, kam der riesige Wolf auf Estel zu. Taxierte ihn genau und folgte jeder seiner Bewegungen. Estel machte vorsichtig einen Schritt nach dem anderen rückwärts auf das Lager zu, denn er wollte seine Waffen erreichen. Wenn er überhaupt eine Chance haben wollte gegen diese Bestie zu gewinnen, dann benötigte er sein Schwert. Nur mit dem Dolch konnte er sich nicht ausreichend verteidigen, dass war ihm nur zu bewusst. Um mit dem Dolch einen gezielten Treffer zu landen, müsste er den Wolf so nah an sich herankommen lassen, dass dieser ihm seine Krallen in den Körper rammen könnte und dann wäre der Kampf auch schon entschieden.

Er bemühte sich, keine hastige Bewegung auszuführen, als er langsam, fast unmerklich zurückwich und dabei seinen eigenen Herzschlag zu beruhigen. Dies war nicht seine erste Begegnung mit einer solchen Bestie, doch bisher hatte er immer sein Schwert in der Hand gehalten und war nicht alleine gewesen. Nun jedoch waren weder Elladan oder Elrohir an seiner Seite und seine einzige wirkliche Waffe war selbst kürzer, als jede der gefährlichen Krallen seines Gegners. Nüchtern betrachtet hätte er jedem anderen in seiner Lage keine Chancen in diesem ungleichen Kampf gegeben!

Wieder machte Estel einen Schritt zurück, doch der Warg schien seine Absicht zu ahnen, denn er setzte augenblicklich zum Sprung an. Eine solche Schnelligkeit hätte er dem massigen Tier nicht zugetraut, doch die kräftigen Läufe des Warges ließen ihn die letzte Distanz in einem Wimpernschlag überwinden. Instinktiv ließ Estel sich fallen, spürte das Gewicht, das ihn mit voller Wucht traf und ihm die Luft aus den Lungen presste. Er ignorierte seinen schmerzenden Rücken, handelte ohne nachzudenken und schlang seinen Arm um den Hals der Bestie. Sein Gesicht presste er unter das Maul, damit er so den scharfen Reißzähnen entkam und klammerte sich so gut es ging fest. Seine Arme schmerzten vor Anstrengung, waren in das dichte Fell gegraben und er wagte erst nur vorsichtig einen Versuch, einen Arm zu lösen. Als er trotzdem den Halt wahren konnte, erfasste er seinen ganzen Mut der Verzweiflung und begann, sich gegen die Bestie zu erwehren.

Der Wolf, der seinerseits wohl mit einer leichteren Beute gerechnet hatte, versuchte sich seiner Last zu befreien, indem er sich schüttelte, drehte und den Kopf hin und her warf. Das ein und andere Mal drohte der Mensch dabei den Halt zu verlieren und musste erneut das lange, zottige Fell fassen. Trotzdem hieb und stieß er um sich, versuchte, einen erfolgreichen Treffer mit seinem Dolch zu erzielen und zerrte mit aller Gewalt am Hals des Warges, um ihn zu Fall zu bringen.

Der Warg jedoch machte einen Satz, schlug seinerseits mit der Tatze um sich, verlor dabei das Gleichgewicht und begrub sein Opfer unter sich, kam dann wieder auf die Füße und schlug augenblicklich mit seinen Krallen nach Estel, der sich nicht länger hatten halten können.

Viele schmerzhafte Schläge prasselten auf ihn nieder und entlockten seiner Kehle einen schmerzerfüllten Schrei, doch Estel rollte sich trotzdem weiter herum, packte erneut nach dem Hals des Warges und klammerte sich wieder verbissen daran fest. Er wußte instinktiv, dass er verloren sein würde, wenn der Warg ihn abschüttelte, denn dann würde nichts zwischen ihnen liegen, das ihm Schutz bot.

Sein Körper fühlte sich von den Schlägen taub an und er brauchte einen Augenblick, bis es ihm gelang, wieder klar zu denken, doch dann versuchte er wieder, den Warg aus dem Gleichgewicht zu bringen. Diesmal hatte er jedoch weniger Erfolg mit seinem Vorhaben. Er wollte gerade seine Taktik ändern, als sich der Warg ganz gezielt zur Seite warf, auf den Rücken rollte und mit den Hinterpfoten versuchte, seinen Gegner abzustreifen. Seine Vordertatzen schlugen dabei zusätzlich zu und klatschten auf Estels Rücken und Seiten.

Mit den Hintertatzen streifte er dabei Estels Hand und sein Dolch wurde ihm dabei aus den inzwischen kraftlosen Fingern gerissen. Damit verlor er auch die einzige Möglichkeit, sich gegen die Bestie zu verteidigen und diese Erkenntnis hätte ihn beinahe dazu verleitet, sich in sein Schicksal zu ergeben. Doch dann hörte er über das Knurren des Tieres hinweg eine vertraute Stimme, die jetzt zwar von Entsetzen erfüllt war, aber dennoch nie schöner in den Ohren des Menschen geklungen hatte.

„Estel!" Elladans Ruf hallte über die Lichtung und Elrohir folgte seinem Bruder, der auch schon auf den riesigen Warg zueilte. Elrohir erhaschte einen Blick auf die Bestie und sah zu seinem Entsetzen Estels vor Anstrengung verzerrtes Gesicht, und er vernahm ein leises, gedämpftes Stöhnen.

Elladan war bei den Kämpfenden angelangt, hob noch im Lauf den Schaft seines Langschwertes und ließ es auf den Kopf des Wolfes niedersausen. Ein schauerliches Gurgeln erklang und viel zu langsam, so schien es den Elben, sackte der Warg in sich zusammen und begrub Estel unter seinem Gewicht.

Blutgeruch tränkte die Luft und mischte sich mit dem Gestank, der von dem dreckigen Fell ausging. Elladan und Elrohir standen wenige Augenblicke lang wie erstarrt, doch dann packten sie den massigen Körper und wälzten ihn zur Seite. Dabei zeigten die wenigen Blicke die sie miteinander tauschten deutlich, welche Schreckensbilder ihnen dabei vor Augen kamen, denn im Gegensatz zu den fürchterlichen Kampfgeräuschen war die Lichtung nun von einer unheimlichen Stille erfüllt.

Endlich bewegte sich der reglose Rumpf des Tieres und mit einer letzten Kraftanstrengung rollten die Zwillinge ihn von ihrem Ziehbruder.

Estels Gesicht war ein bleicher Fleck in der mondlosen Nacht, sein Körper hingegen wurde von der Dunkelheit verschluckt. Den Grund dafür fanden Elladan und Elrohir heraus, als sie tastend ihre Hände über ihn gleiten ließen. Seine Kleidung war blutdurchtränkt und klebte an seiner Haut.

„Estel! Estel!" Elrohir rüttelte ihn sanft an der Schulter und wieder erklang ein leises Stöhnen, die Augenlieder des Menschen begannen zu flattern und schließlich schlug er die Augen auf.

„Bei den Valar!", entfuhr es Elladan. „Geht es dir gut?"

„Nein!", kam es heiser und kurz angebunden, wobei Estel versuchte sich aufzurichten. Dies Anstrengung misslang dem Menschen und er brach wieder leise keuchend auf dem Boden zusammen, wobei er die Lider fest zusammenpresste, so als wolle er die Welt um ihn herum ausschließen. „Ihr habt euch … verdammt viel Zeit gelassen."

Er öffnete wieder die Augen, rollte sich unter Schmerzen herum und richtete sich langsam auf Hände und Knie auf. Seine Beine wollten sein Gewicht nicht tragen und der Boden unter seinen Füßen schien plötzlich ein Eigenleben zu besitzen und sich wie im Sturm zu heben und zu senken.

Elrohir ergriff seine Schultern und stützte ihn, als er schwankte und Elladan musterte ihn besorgt.

„Wo bist du verletzt? Du hast überall Blut!"

Estel richtete einen vorwurfsvollen Blick auf seinen Ziehbruder. „Wenn das alles mein Blut wäre, wäre ich tot! Das ich es nicht bin, ist nicht euer verdienst! Wo habt ihr so lange gesteckt?"

Elrohir lachte. „Es scheint dir schon wieder besser zu gehen – wenn du so schimpfen kannst!", aber Elladan hörte die Erleichterung in seiner Stimme.

Sie führten ihren Bruder zum Lagerplatz, drückten ihn sacht aber bestimmt auf dessen Lager nieder und sogleich begann Elladan ihn abzutasten. Er ließ seine Hände forschend und mit sanftem Druck über Estels Brustkorb wandern, doch zu seiner Erleichterung fand er keine unheilvollen Vertiefungen oder von Knochen durchstoßene Haut. Estel schrie kurz auf, als Elladan seine Schulter berührte und zuckte zurück.

„Hast du hier Schmerzen?"

„Ja." Stieß dieser durch die zusammengebissenen Zähne aus und begann im nächsten Moment zu zittern. Elrohir griff nach der Decke, die auf seinem Nachtstatt lag und breitete sie um dessen Schultern.

„Wo hast du noch Schmerzen?" ließ Elladan nicht locker. Eine seiner Augenbrauen flog in die Höhe, als er Estels Unterarm und Handgelenk inspizierte und zog ihm danach das Hemd mit einem schmatzenden Geräusch von der Brust. Dann streifte er entschieden die Decke samt Hemd wieder von Estels Oberkörper.

„Er hat mich am Rücken erwischt, aber es ist nicht weiter schlimm…." Versuchte der Mensch einen letzten Versuch sich der Fürsorge des Elben zu entziehen, wurde aber rau unterbrochen.

„Das lass mal mich beurteilen." Estels Hemd hing in Fetzen, verkrustet von Dreck und Blut, doch diesmal war es sein Blut. Elladan zog die zerrissenen Teile vollends von seinem Rücken und legte ihn frei. Vier lange Krallenspuren zogen sich von dessen Schulter bis zu seinem Hosenbund. Tiefe, hässliche Furchen, die zu oberflächlichen Schrammen ausliefen.

Elladan zog scharf die Luft ein und Estel versuchte einen Blick auf seinen eigenen Rücken zu erhaschen, doch seine Haut spannte sich qualvoll und er gab den Versuch auf. „Ist es schlimm?", fragte er matt.

„Ich muss die Wunden auswaschen.", kam die knappe Antwort, bei der Estel alleine bei dem Gedanken an die bevorstehenden Schmerzen schwarz vor Augen wurde.

Elrohir warf ihm einen mitfühlenden Blick zu, machte sich aber dann daran, das Feuer wieder neu anzufachen und begab sich zum Fluss, um frisches Wasser zu holen. Estel stützte den Kopf in seine Hände und versuchte sich von den Schmerzen abzulenken.

„Habt ihr die Pferde retten können? Argalos – ist er in Ordnung?"

Elladan unterbrach seine Tätigkeit die Satteltaschen zu durchsuchen und entgegnete: „Sie sind in Sicherheit! Die Orks haben sie nicht einfangen können und nachdem wir diese stinkenden Kreaturen erledigt hatten, haben wir sie am Fluss zurück gelassen, damit sie sich von dem Schrecken erholen können." Der Elb konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er dem Menschen einen flüchtigen Blick schenkte. Selbst in einer solchen Situation vermochte Estel es noch, ihn zu erstaunen. In seinem langen Leben hatte Elladan schon viele Menschen kennen gelernt, aber keiner von ihnen hätte auch nur einen Gedanken an die Pferde verschwendet, wäre er jetzt an Estels Stelle gewesen.

Elrohir kam zurück, hing den Topf mit Wasser über die Flammen und suchte nach seinem Wasserbeutel. Er reichte ihn Estel und forderte ihn auf zu trinken. Als dieser den Beutel öffnete, stieg ihm ein starker Weingeruch unter die Nase und erleichtert, mit einem dankbaren Nicken, nahm er einen tiefen Schluck und spürte sogleich die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete.

Inzwischen hatte Elladan einige Kräuter in das kochende Wasser geworfen, die einen scharfen Geruch verströmten und Estel nahm entschieden noch einen Zug aus dem Beutel.

Elladan sah ihn an. Er war sehr bleich und zitterte immer noch, seine Züge traten im roten Schein des Feuers hervor, doch er hielt sich so gerade, wie es seine Verletzungen eben zuließen.

Elladan beendete seine Vorbereitungen und ergriff einige Tücher, bevor er hinter Estel trat und sich ans Werk machte. Bereits bei der ersten leichten Berührung verkrampfte sich Estel und konnte auch ein gequältes Stöhnen nicht unterdrücken. Er schloss kurz die Augen und ein leichter Schweißfilm glänzte auf dessen Gesicht.

Elrohir hockte sich vor ihn und musterte den Menschen mitfühlend. Er wußte selber nur zu gut, dass Elladans Kräutermischung sehr gut helfen würde, aber leider auch wie Feuer in den offenen Wunden brannte. Diese Qualen waren nötig, um eine Entzündung zu vermeiden, aber es kostete auch unglaublich viel Kraft.

Estels Wangenknochen zuckten und selbst im rotglühenden Schein des Feuers konnte sein Ziehbruder erkennen, dass er unnatürlich blass war. Elrohir wollte gerade beistehend die Hand des Menschen ergreifen, als ein lang gezogenes Stöhnen dessen Lippen verließ und Estel nach vorn sackte.

Sofort fing Elrohir den Sturz ab und lehnte sich dessen Schultern gegen seinen Brustkorb, damit Elladan seine Arbeit fortsetzen konnte. Über den Rücken des bewusstlosen Menschen hinweg, warfen sich die Zwillinge einen stummen Blick zu.

Das Lager war in friedliche Stille getaucht, die nur von dem Knistern des Feuers erfüllt wurde. Dessen Wärme erfüllte Estels Gesicht und glühte rötlich hinter seinen geschlossenen Lidern, als er langsam wieder erwachte. Er mußte gegen die Lichtquelle anblinzeln, doch als sich seine Augen an die Umgebung angepasst hatten, machte er klar Elladans Schatten aus. Der Elb saß auf der anderen Seite der Flammen am Rande des Lichtkegels und beruhigt schloss Estel noch einmal die Augen. Sicher war auch Elrohir ganz in der Nähe.

Er lag auf der Seite, den Kopf auf die Satteltaschen gebettet, die angenehm nach Leder rochen. Vorsichtig tasteten seine Finger seine Brust entlang, wo er den weichen Stoff eines Hemdes fühlte, aber darunter auch den straffen Verband aus Leinen.

Probehalber bewegte er die Schultern und nicht nur sein Rücken protestierte dagegen! Jeder seiner Muskeln schmerzte von den Anstrengungen des Kampfes mit dem Warg, dennoch erfüllte Estel ein Gefühl der Erleichterung. Es hätte schlimmer kommen können! Der zerkratzte Rücken würde rasch heilen und morgen würde er sich sicher schon nicht mehr so zerschlagen fühlen.

Seine rechte Hand war bis zum Ellenbogen ebenfalls bandagiert und es würde sicherlich einige Zeit vergehen, bis er sein Schwert wieder sicher würde halten können. Ein Gedanke, der ihn nicht gerade sonderlich erfreute.

Obwohl er gerne sofort wieder eingeschlafen wäre, weil er so unendlich müde war, öffnete er dennoch abermals die Augen. Er wußte, dass die Zwillinge sich sicher Sorgen um ihn machten und darauf warteten, dass er aus der Bewusstlosigkeit erwachte.

Tatsächlich war Elladan gleich bei ihm, als er versuchte sich aufzurichten.

„Elrohir! Komm und schau, wer wieder bei uns ist!"

Estel vernahm die leichten Schritte des Zwillings hinter sich, gefolgt von einer sachten Berührung an der Schulter, die ihm augenblicklich Trost spendete.

„Wie fühlst du dich, kleiner Bruder?"

Estel schnaubte nur, zu mehr war er angesichts seines protestierenden Körpers auch gar nicht fähig, aber der Elb gab sich damit zufrieden.

„Nichts anderes hatte ich erwartet.", entgegnete Elladan mit einem Lächeln. „Hier. Trink."

Estel zog argwöhnisch die Augenbrauen hoch, als der dampfende Becher in sein Sichtfeld geschoben wurde, der einen bitteren Geruch verströmte.

Sofort übermannte ihn eine Welle der Übelkeit und er musste hart schlucken, um sie nieder zu kämpfen. „Ich werde das nicht trinken, Elladan!", murrte er entschieden.

„Estel! Benimm dich nicht wie ein kleines Kind! Dein Körper braucht es, glaube mir. Danach wirst du dich besser fühlen."

„Bis mir dieser fürchterliche Trank unter die Nase gehalten wurde, ging es mir hervorragend!"

„Ach ja? Dann setzt dich hin und lass mich nach deinen Verbänden sehen!"

Misstrauisch blickte Estel zu dem älteren Zwilling auf. Das dieser so rasch nachgab passte gar nicht zu ihm und der Mensch war sich sicher, dass er damit irgendetwas bezweckte. Doch die Alternative war ebenfalls nicht sonderlich verlockend und so stemmte er sich von seinem Lager.

Augenblicklich explodierte der Schmerz auf seinem Rücken, schnürte seinen Brustkorb zusammen und erschwerte ihm das Atmen.

Vor seinen Augen wurde die Landschaft in grauen Nebel gehüllt, begann sich schwindelerregend zu drehen und mit einem Stöhnen sank er zurück auf seine Decken und presste die Augen zusammen.

„Es geht dir also gut, ja?" Der Sarkasmus seines Bruders, dem Estel sonst in der gleichen Art und Weise begegnete, entlockte ihm diesmal nur ein schwaches Schnauben. Er leistete keinen Widerstand, als er die stützende Hand in seinem Nacken spürte die ihn leicht anhob.

Ich hätte doch weiter schlafen sollen, dachte Estel unwillig, ließ sich aber dennoch das Gefäß an die Lippen pressen und nahm einen kleinen Schluck. Er verzog das Gesicht.

Elladan zeigte kein Erbarmen. Geduldig flößte er seinem Bruder Schluck für Schluck des Gebräus ein und brauchte ihn anschließend nicht lange dazu zu überreden, sich wieder hinzulegen und zu schlafen. Im Gegenteil. Estel hatte sich noch nicht ganz wieder auf das Lager zurück gleiten lassen, da übermannte ihn auch schon wieder die Erschöpfung und die Dunkelheit hüllte ihn ein. Er hieß den Schlaf willkommen.