Selene zog an den Zitzen der Kuh. Sie kniete auf einem schmalen Schemel. Das Rückgrat tat ihr weh. Sie versuchte sich abzulenken, indem sie beobachtete, wie die Milch in einen kleinen Holzeimer floss. Irgendetwas machte das Vieh unruhig. Es stampfte auf, die Hunde – seit einigen Tagen angeleint, um sie im Zaum zu halten – jaulten auf. Ein Klumpen bildete sich in ihrem Magen.

Irgend etwas war dort draußen. Ihre Mutter holte die Nichten zurück ins Haus. Selene unterdrückte die aufsteigende Nervosität, so gut es ging. Mehrfach hatte sie Gespräche ihrer Eltern mit angehört, wie sie sich Gedanken machten, was dort draußen umgehen konnte. Manche sprachen von dem Geist eines Gesetzlosen, der angeblich dort draußen spuken sollte. Selene glaubte nicht an Gespenstergeschichten.

„Selene!" Die Stimme ihrer Mutter. Erleichtert erhob sie sich. Auf dem Weg vom Stall zum Haus meinte sie, aus den Augenwinkeln etwas gesehen zu haben. Sie drehte den Kopf, doch da war nichts. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und sie fröstelte.

„Selene, kümmere dich um die Milch," die Stimme ihrer Mutter klang streng, doch Selene sah die Besorgnis in ihren Augen. „Mutter, irgendwas macht die Tiere unruhig." „Ich weiß," ihre Mutter senkte die Stimme zu einem Flüstern, „Das ganze Dorf ist schon in Aufruhr. Doch zeige den Kleinen deine Angst nicht." „Selbstverständlich, Mutter." Ihre Mutter packte sie am Arm: „Geh nicht wieder raus, hörst du?" Ihr Vater putzte seine Waffen, ein einfaches Schwert, das ihn als freien Mann auswies, und ein Messer, das groß genug war, um als Kurzschwert durchzugehen.

Selene stellte sich an den Tisch und begann rhythmisch Milch zu stampfen. Bald würden sie wieder Butter und Käse haben.

Ihre Geschwister und Nichten durften nicht mehr im Freien spielen. Zwar wussten sie aus den Erfahrungen der letzten Tage, dass tagsüber alles ruhig blieb, aber man konnte ja nie wissen.

Sie verbrachten den Tag in bedrücktem Schweigen, das Mittagsgebet viel seit einigen Tagen inniger aus als sonst.

Als die Dunkelheit anbrach, lauschten alle nur noch nach draußen. Doch dort rührte sich nichts. Selene legte sich schlafen, doch es fiel ihr nicht leicht zu entspannen.

Mit einem Mal zerriss ein schrilles Wiehern die Luft, kurz darauf begannen die Kühe panisch zu schreien. Einen Herzschlag lang waren sie wie erstarrt. Dann packte ihr Vater das Schwert und stürmte nach draußen. Ihre Mutter schloß die Tür hinter ihm, so schnell es ging. Angst spiegelte sich in ihren großen Augen.

Die Kleinen begannen zu weinen. Selene stand auf, um nach ihnen zu sehen. Aus dem Zimmer schlug ihr der Geruch von Blut entgegen, noch ehe sie die Tür aufgestoßen hatte. Das Fenster klirrte. Sie stieß die Tür auf – und erstarrte in Fassungslosigkeit. Ihre Nichten und Geschwister, die zusammen in einem Zimmer geschlafen hatten, waren tot, zerfetzt.

Sie stürmte in den großen Wohnraum, Tränen in den Augen, hustend von dem Gestank. „Mutter!" Auf dem Boden lag ein dunkles Bündel – tot. „Mutter!" Selene sah sich panisch um. Wo war ihr Vater?

Dann wurde sie sich der Stille im Stall bewusst. Wahrscheinlich war ihr Vater dort und hatte die Tiere beruhigt. Wie sollte sie ihm nur sagen, was geschehen war?

Der Hund lag im Hof, kaum noch als das zu erkennen, was er gewesen war. „Vater!" Keine Antwort. Mühsam unterdrückte Selene die aufsteigende Übelkeit. Im Stall, zwischen den Überresten der Kühe, lag ihr Vater, den Arm abgerissen, das Schwert noch in der Hand.

Selene sank auf die Knie, von Weinkrämpfen geschüttelt. Sie spürte die Kälte der Nachtluft nicht. Dann taumelte sie ins Freie und übergab sich.

Warum lebte sie, während ihre Familie tot war?

Was hatte ihre Familie und die Tiere zerrissen?

Sie kannte kein Tier, das zu so etwas fähig wäre. Und weshalb waren sie überhaupt angegriffen worden? Ihre Familie waren einfache Bauern gewesen, die in Frieden mit den Nachbarn gelebt hatten.