Viktor durchstreifte die Nacht. Beherrsche den Durst, lass dich nicht vom Durst beherrschen – wie oft hatte er das gehört. Er dachte nicht daran, diese Worte ernst zu nehmen. Er war ein hochgewachsener Mann, dessen Größe und hochwangigen aristokratische Gesichtszüge aller Blicke auf sich zog, und er wusste das. Seit einigen Minuten schon beobachtete er die junge blonde Frau, die ihr Korsett zu genießen schien. Er übernahm für einige Minuten die Augen eines entgegen kommenden Mannes, was diesem für einen Augenblick Kopfschmerzen verursachte. Sie hatte kein im eigentlichen Sinne schönes Gesicht, doch er erkannte in ihm etwas wieder, was ihm nur allzu vertraut war. Lust. Lust zu herrschen, Lust am Sex. Das Korsett betonte ihre schmalen Hüften, ihre Figur, die ihm das Wasser im Mund zusammen laufen ließ. Im wahrsten Sinne des Wortes. Dann war er hinter ihr. Er ließ ihr Zeit, sich umzudrehen und ihm ins Gesicht zu blicken. Ihre Augen blickten zu ihm auf, schwankend zwischen Schrecken und Hoffnung.
„Darf ich Sie ausführen, Mylady?"
Sie senkte mit einer Züchtigkeit den Blick, der ihm ein Lächeln entlockte, da er nur allzu gut wusste, wie sehr diese ihrer Natur widersprach.
„Ich kenne Euch doch kaum, werter Herr," ihre Stimme war voller Verlockungen.
„Ich bitte darum," sagte er und verbarg sein Lächeln schnell. Er griff in ihren Verstand hinein. Lange musste er sie nicht manipulieren, die Voraussetzungen waren bereits alle da.
„Folgt Ihr mir schon lange?"
Mit derselben Unschuld antwortete er: „Erst seit Trafalgar Square."
Das war die Wahrheit, soweit es den heutigen Abend betraf. Sie musste ja nicht wissen, dass er ihr seit Wochen auf den Fersen war und längst wusste, was sich unter ihrem Korsett verbarg. Wenn alles nach seiner Vorstellung lief, war bald der Zeitpunkt gekommen, sie mit der Wahrheit zu konfrontieren.
„Heute Abend findet ein Ball nicht weit von London statt. Ich bin eingeladen. Möchtet Ihr meine Begleiterin sein?"
Er wollte sie in seinem Haus haben. Anstatt auf seine Frage einzugehen, erkundigte sie sich: „Ihr hört Euch an, als kämt ihr nicht aus England."
„Ich bin nur Gast hier." Manchmal war Ehrlichkeit von Nutzen.
„Das dachte ich mir," erwiderte sie mit einem Lächeln, „Und woher kommt Ihr, wenn ich fragen darf?"
„Aus Rumänien."
Sie sah ihn mit großen Augen an: „Dann habt ihr eine lange Reise hinter euch."
„Eine gebildete Frau, das gefällt mir," entgegnete er charmant.
„Es bedarf keiner besonderen Bildung, sich diese Entfernung vorzustellen," erwiderte sie.
Viktor lächelte. Sie gefiel ihm immer besser.
Er ging nicht weiter darauf ein, sondern forschte nach: „Wie ist Euer Name?"
„Ellen DeWinter."
„Eine DeWinter," stellte er fest.
„Mein Name ist bis nach Rumänien gedrungen?"
„Der Eurer Familie."
„Und wie lautet Eurer?"
„Viktor Graf von Szilagysomlyo."
Sie forschte in ihrem Gedächtnis: „Das sagt mir nichts."
„Zu weit entfernt," schmunzelte er und bohrte noch einmal nach: „Würdet Ihr heute Abend meine Begleiterin sein?"
„Mit Vergnügen, werter Graf," sie hielt ihm ihre Hand hin, und er nahm sie.
Er hielt eine Kutsche an und half ihr hinein.
„Ist Szila...wie? der Name Eurer Burg?"
„Szilagysomlyo. Gesprochen Schilagschomlyo. Die Stadt meines Geschlechts."
Das stimmte im Wesentlichen, abgesehen von der Kleinigkeit, dass die Stadt nicht von seinen Vorgängern, sondern von ihm begründet worden war und er den Boden mit zwei Goldschätzen geweiht hatte, um sich die Bevölkerung gefügig zu machen. Auf sein Geheiß war eine Kette geschmiedet worden, die alle Handwerkerstände der Stadt symbolisierte – und ihm damit die Macht auch über ihre Familien gab.
Schon nach kurzer Zeit – Ellen wunderte sich, dass es so schnell ging – näherten sie sich einem herrschaftlichen Anwesen. Der Wind trug Geigenklänge zu ihnen hinüber. Ellen sah an sich herunter.
„Ich fürchte, ich bin für solch ein Ereignis wohl nicht richtig angezogen."
„Ihr seid immer richtig angezogen," rutschte es ihm heraus. Am liebsten hätte er sich geohrfeigt.
Ellen sah ihn groß an: „Wie kommt Ihr darauf?"
„Ich habe mich falsch ausgedrückt. Ich wollte sagen, dass ich der Überzeugung bin, ihr könnt Euch gar nicht falsch kleiden."
Sie lachte auf: „Ihr schmeichelt mir!"
Ein dunkelhaariger Mann kam ihnen entgegen.
„Kraven," Viktor winkte ihn zu sich: „Darf ich vorstellen? Ellen DeWinter. Mylady DeWinter, Richard Kraven."
Viktor konnte regelrecht hören, wie sie sich fragte, in welcher Beziehung Kraven zu ihm stehen mochte.
„Er soll mein Nachfolger werden," beantwortete er ihren unausgesprochenen Gedanken.
„Könnt Ihr Gedanken lesen?" erkundigte sie sich scherzhaft.
Viktor lächelte vielsagend und entgegnete: „Tische rücken, Gedanken lesen und Tote befragen soll hier groß in Mode sein, wie ich hörte. Habt Ihr auch schon an einer spiritistischen Sitzung teilgenommen?"
„Ich war neugierig."
Er führte sie zur Tanzfläche und kümmerte sich nicht weiter um Kraven. Sie musterte sein Gesicht, jetzt da sie ihm so nahe war. Bei Licht betrachtet war er älter, als sie aufgrund seiner dunklen Stimme angenommen hatte. Er musste um die fünfzig sein. Ihre Körper näherten aneinander immer mehr, und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie seine Körperwärme nicht spüren konnte. Als existiere sie nicht. Wie bei einem Toten. Was für ein absonderlicher Gedanke. Ellen fröstelte und rief sich zur Ordnung. Fürsorglich legte der Graf ihr sein Jackett über und geleitete sie zu einem der Tische. Kaum dass sie saßen, eilte schon jemand mit einer Karaffe herbei und wollte Rotwein einschenken. Viktor ließ ihn bei seinem Glas gewähren, schüttelte aber knapp den Kopf, als der Bedienstete ihr einschütten wollte. Sofort eilte der Mann davon und kam mit sprudelndem Weißwein zurück. Sie wunderte sich über die Schwere und den süßlichen Duft des Weines, den Viktor vor sich hatte.
„Darf ich?" erkundigte sie sich.
Viktor beugte sich zu ihrer Halsneige hinab. Er biss sie leicht in die Haut, ohne ihr weh zu tun. Ein wohliger Schauer durchrieselte sie.
Sie lachte überrascht auf: „Du kommst schnell zur Sache."
Viktor antwortete nicht sofort, doch als er antwortete, blieb ihr jede Reaktion im Halse stecken: „Du wirst meine Königin." Das klang, als habe er bereits entschieden. Sie kam nicht einmal mehr dazu, zu widersprechen, zu fragen, ob sie dabei auch noch ein Wörtchen mitzureden hätte, als sich seine Zähne in ihren Hals gruben, brutal und tief. Schmerz durchflutete sie in Wellen. Ihr Körper bäumte sich auf, und mit dem Schmerz kam die Lust.
Bilder durchströmten ihren Geist. Sie sah in ihn hinein, und ihre Seele floss in seine. Die Bilder gewannen zunehmend an Klarheit.
