„Los komm schon Ginny, ich hab Hunger, und wenn du dich nicht sofort beeilst, bekommen wir nichts mehr vom Essen ab."
Lachend zog mich Hermine mit sich. Widerwillig folgte ich ihr.
Ich konnte mich nicht schon wieder damit entschuldigen, dass ich was vergessen hatte... Das wurde langsam auffällig.
Sie schloss ihre Hand um mein Handgelenk und zog mich energisch mit die Treppe runter. Ich stolperte mehr als das ich lief.
„Hey Mine, jetzt mach mal ganz ruhig. Ginny kommt gar nicht hinterher."
Ron lief schnell an uns vorbei und hielt Hermine sanft an den Schultern fest. Sie seufzte laut und lies mich los.
„Danke", sagte ich müde und rieb mir mein Handgelenk. „"Alles ok?" Harry war hinter mich getreten und hatte mir eine Hand auf die Schulter gelegt.
„Du bist in letzter Zeit so abwesend und naja...", meinte er und nahm seine Hand wieder weg. „Komm wir gehen erstmal was essen. Die Prüfungszeit macht dir wohl ganz schön Stress mh?"
Mitleidig sah er mich an und lief langsam mit mir Richtung Große Halle. Ron und Hermine waren bereits schnell los gelaufen.
„Was meinst du?", fragte ich erschrocken. Er hatte doch nicht etwa...
„Naja, das zehrt doch ganz schön an deinen Kräften. Deine Schulter ist ganz knochig... Du musst mehr essen." Er lächelte mich an.
„Ja", sagte ich und lächelte verkrampft zurück.
Wie oft hatte ich das schon gehört? Aber es war mir egal...
Sobald wir die Halle betraten, bereute ich es sofort wieder.
Der fettige, schwere Geruch des Essens schlug mir entgegen. Ich konnte nicht einmal identifizieren was es genau war, aber es war auch so schon eklig genug.
Ich unterdrückte den Brechreiz, und lies mich langsam auf die Bank gleiten. Schnell setzte ich eine ausdruckslose Maske auf, bevor jemand meinen angewiderten Ausdruck sehen konnte.
„Hier probier das mal." Ron hielt mir schmatzend einen großen Löffel Schokomousse hin.
„Nein." Schnell schaute ich auf meinen Teller. Ich atmete tief ein, wodurch mir automatisch noch schlechter wurde. Ich verstand nicht wie Ron das tun konnte. Einfach so zu essen. Er musste sich doch so... so... so häßlich vorkommen. Und so voll.
Ich nahm mir ein paar Tomaten und ein bißchen Kartoffelbrei. Während ich in die erste Tomate biss, sah ich die anderen an. Alle sahen so perfekt aus. Und so zufrieden. Obwohl sie alle genüsslich aßen.
Angewidert wandte ich mich ab.
Ich nahm einen Löffel Kartoffelbrei. Die warme, matschige Masse schob sich zäh in meinem Mund herum. Ich schluckte hart.
Schon nach diesem einen Löffel fühlte ich mich aufgebläht. Mein Magen war voll bis oben hin, zumindest fühlte es sich so an.
Ich kannte das Gefühl bereits. Mein Körper war mir unwohl geworden.
Schnell stand ich auf, und murmelte eine Entschuldigung. Dann raste ich zum Klo der maulenden Myrte.
Ich stieß die Tür auf und schlitterte über die glatten Fliesen. Stolpernd riss ich eine Toilettentür auf und lies mich auf die Knie fallen.
Ich klappte den Deckel hoch und übergab mich laut in die Toilette.
Das wenige Essen kam mir fast unverdaut wieder hoch.
Erschöpft strich ich mir die Haare aus dem Gesicht.
Noch immer fühlte ich mich so überfüllt. Ich hielt dieses Gefühl nicht aus.
Ich steckte mir den Finger in den Hals und würgte. Als ich mich dann übergab kam nur noch bittere Galle.
Stöhnend lies ich mich gegen die kalten Fliesen an der Wand sinken.
Ich tat das nicht gern, aber es musste sein. Sonst fühlte ich mich schlecht.
Mein Körper war zu dick. Ich war häßlich.
Deswegen beachtete mich auch niemand. Alle Aufmerksamkeit lag auf dem goldenen Trio.
Eigentlich müsste ich stolz sein so einen berühmten Bruder zu haben. Aber das war ich nicht... Ich hasste es abgrundtief in seinem Schatten zu stehen. Niemand bemerkte mich oder interessierte sich für mich.
Wieso auch? Bei mir in der Familie waren Ron und Harry die Helden, um die sich immer alle sorgten. In der Schule war es zusätzlich noch Hermine.
Hermine... Früher hatte ich sie gemocht. Natürlich tat ich das auch heute noch aber inzwischen war sie eher ein unerreichbares Vorbild geworden. Sie war eigentlich perfekt.
Schlau, wunderschön, beliebt, dünn. Perfekt. Und das wollte ich auch sein... perfekt.
Der einzige Weg den es dazu gab, war hiermit weiter zumachen. Und ich durfte nicht mehr so viel essen...
Entschlossen versuchte ich aufzustehen, aber ich schwankte. Noch einmal streifte ich mir die Haare aus dem Gesicht, und spülte.
Normalerweise war Myrte hier, aber es war mir recht. Ich hatte nicht oft meine Ruhe, aber wenn dann genoss ich sie...
Schnell ging ich aus der Kabine und stellte mich vor ein Waschbecken. Im Spiegel sah ich ein bleiches, müdes Mädchen. Sie hatte tiefe Augenringe und ihre Haut war straff über die Wangenknochen gespannt.
Ihr Schlüsselbein stand hervor und sie wirkte sehr zerbrechlich.
Nein, das war ich nicht. Das war ein dünnes Mädchen. Ich war nicht so. Ihr Leben war bestimmt perfekt, meines war es nicht.
Ich überlegte, wann das alles angefangen hatte...
Harry hatte damals mit mir Schluss gemacht. Er hatte gesagt, dass wir nicht mehr zusammen passten, aber ich hatte gewusst, dass das ein Lüge war.
Er hatte mich nie so angesehen, wie die dünnen Mädchen. Wie die perfekten.
Seufzend griff ich in meine Tasche und holte meine Zahnbürste heraus.
Ich hielt sie unter den Wasserhahn und schrubbte mir die Zähne.
Inzwischen war das für mich alltäglich. Essen, Kotzen, herrichten, zurückgehen.
Seufzend wusch ich die Zahnbürste ab und steckte sie zurück. Meine langen, kraftlosen Haare band ich mir zu einem Zopf. Ich über schminkte die Augenringe und griff dann noch zu meinem Rouge.
Sobald ich fertig war, ging ich langsam raus.
Gedankenverloren ging ich in den Gemeinschaftsraum.
„Hey Ginny, da bist du ja wieder... Wo warst du denn?" Hermine sah mich fragend an.
„Ach... Ich musste nur noch mal zur McGonagall."
Sie lächelte mich an und ich lächelte zurück.
Meine Gedanken schweiften zu heute Abend.
Nach dem Abendessen würde... ich wollte gar nicht daran denken.
Aber so war es nun mal.
Tag für Tag.
Bis ich vielleicht irgendwann einmal das sein würde was ich sein wollte...
Perfekt.
