Autor's Note: Vielen Dank an Stella, dass sie sich getraut hat mir ihre Félice auszuleihen! Und dass sie meine Lieblingstippfehler ausfindig gemacht hat. Wenn ihr es noch nicht kennt, lest „In dubio pro servo" und „In dubio pro secundo" und „Chez d'Artagnan". Damit wäre auch der Titel dieser Geschichte erklärt. (Kleiner Hinweis noch an die Zwillinge: Das Thema kennt Ihr sicher noch. Jetzt habe ich mich endlich getraut, nach viel Zureden von Stella, aus Stichworten eine Geschichte zu machen. Oh, und weil es mir bekannter Weise Spaß macht, das Buch umzudeuten. -g-)


In dubio pro reo

Henri Bonnet schaute sich im Arbeitszimmer um, als vermute er hinter dem Wandteppich, unter dem Schreibtisch oder zwischen Fenster und Vorhang einen heimlichen Zuhörer. Und je länger diese eingehende Untersuchung des Raums anhielt, umso mehr war sich Monsieur de Tréville sicher, den anderen Mann nicht ausstehen zu können. Aber Bonnet hatte sich einen Ruf als Polizist gemacht, der kein Verbrechen ungeklärt ließ wenn er beauftragt worden war. In diesem Fall lautete seine Anweisung: Findet den Verräter im Hauptquartier der Musketiere, der vertrauliche Informationen an die falschen Leute verkauft.

Die falschen Leute, das bedeutete hier: Seine Eminenz, Kardinal Richelieu. In letzter Zeit hatte der Erste Minister über zu viele Dinge bescheid gewusst, die er eigentlich nicht hätte wissen können und dies ließ nur den Schluss zu, dass sich ein Spion im Hôtel de Tréville befand. Es war niemand aus der Dienerschaft, das hatte der Hauptmann bereits sorgfältig überprüft. Blut war dicker als Wasser, aus der Familie kam auch niemand in Frage. Freunde oder Bekannte konnten nichts über Kompanieinterna wissen. Blieben also nur noch die Musketiere, sowenig dieser Gedanke auch gefallen mochte. Tréville kannte alle seine Untergebenen, es schien ihm unvorstellbar, dass sich einer von ihnen kaufen ließ.

Und eben weil es ihm so ungeheuerlich schien und er es nicht glauben wollte, musste ein Außenstehender nun die Ermittlungen aufnehmen. Der Kommandeur der Stadtwache war ein guter Freund des Hauptmanns der Musketiere und hatte ihm, als er von dessen Befürchtungen erfuhr, seinen besten Mann zur Seite gestellt, den Spion zu entlarven.

Bonnet schien mit dem, was er sah schließlich zufrieden zu sein, obwohl ein Ausdruck ständigen Misstrauens auch weiterhin in seiner Miene verblieb. Er war ein hagerer Mann von etwas über dreißig Jahren, aber seine schmalen Lippen, die buschigen Brauen und seine grauen Augen, in denen sich nicht die geringste Empfindung widerspiegelte, ließen ihn älter aussehen. Zudem zog er ein Bein leicht nach. Vielleicht die Erinnerung an eine alte Wunde. Bonnet hatte durch seine Erfolge nicht nur Freunde gewonnen. Das ließ ihn immerzu wachsam und vorsichtig sein, kalt und analysierend. Es war völlig unmöglich zu sagen, was er denken mochte – dass er jedoch einen überaus scharfen Verstand besaß war nicht anzuzweifeln.

Wäre Bonnet kein Polizist, so hätte er sicher eine glänzende Karriere als Verbrecher gemacht. Wahrscheinlich war es nur pures Glück, ein Münzwurf des Schicksals, dass er auf dieser Seite des Gesetzes stand und Delikte aufgeklärte, statt sie selbst zu begehen. In wie viele Rollen er schon geschlüpft war, um das Vertrauen von zwielichtigen Gestalten zu erhalten, nur um sie dann zu verraten und dem Gericht zu übergeben! Manchmal verschwammen die Grenzen...

Vor wenigen Minuten erst war Bonnet dem Hauptmann vorstellig geworden. Als ein neuer Soldat in den Reihen der Musketiere. Die Uniform wirkte falsch an Bonnet, vielleicht war es auch nur seine Abneigung diesem Menschen gegenüber, die Tréville so denken ließ. Aber so musste es geschehen: Da durch übliche Befragungen und Beobachtungen nichts herauszufinden war, trug der Polizist während seiner Ermittlungen eine neue Verkleidung. Spion sucht Spion.

Eine mehr als sarkastische Bemerkung über die Einrichtung seines Arbeitszimmers lag dem Hauptmann schon auf der Zunge, aber es war Bonnet, dessen Blick jetzt vom Kamin zum Schreibtisch zurückkehrte und der mit rauer Stimme sagte: „Stillschweigen hat oberste Priorität. Es ist nicht nötig, dass noch jemand außer Euch von meinem Auftrag weiß."

Er betonte das „noch", als wäre es ihm schon lästig, dass Tréville eingeweiht war und das machte diesem Bonnet nicht gerade angenehmer. „Das ist mir durchaus bewusst. Aber es scheint hingegen nötig zu sein, Euch an die Kommandostruktur zu erinnern. Euer Auftrag unterstellt Euch mir und Leutnant d'Artagnan."

Bonnet zog leicht die Augenbrauen zusammen, was ihm das Aussehen eines Beutewitternden Wolfes verlieh. „Auch Monsieur d'Artagnan muss in Unkenntnis bleiben."

„Ich vertraue meinem Leutnant absolut, Bonnet."

„Absolutes Vertrauen gibt es nicht." Bonnet überhörte den leicht drohend klingenden Tonfall seines Gegenübers. „Ich kann mich auf Eure Verschwiegenheit und Mitarbeit verlassen, Tréville?"

„Selbst, wenn Ihr nur wie ein Musketier gekleidet seid", gab der Hauptmann gefährlich ruhig zurück und faltete die Hände vor sich auf dem Schreibtisch, „heißt es für die Dauer dieses Auftrages und darüber hinaus mon capitaine oder monsieur le capitaine."

Bonnet wirkte herzlich wenig beeindruckt und dies war entweder ein Beweis für seine Furchtlosigkeit – oder für eine ganz besonderes Dummheit, die nichts mit mathematischem Unverständnis gemein hatte. „Ich gehe also davon aus, dass meine Ermittlungen nicht behindert werden."

„Wenn es keinen Anlass dazu gibt. Ihr habt freie Hand, sofern ich über jeden Eurer Schritte unterrichtet bin."

„Verstanden. Mein Kommandeur wird die Berichte nicht einsehen, solange dieser Fall nicht gelöst ist." Es klang beinahe wie ein Kompromissvorschlag und Tréville wusste nur zu gut, um welche Sache dabei verhandelt wurde. Bonnet sprach es dennoch aus. „Jeder der Musketiere könnte der gesuchte Spion sein. Ebenso Euer Leutnant, gleichgültig, was Ihr von ihm halten mögt."

Es war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Es war geradezu erstaunlich, woher dieser Polizist die Dreistigkeit nahm, an Trévilles Urteilskraft zu zweifeln und es konnte nur ein großes Glück für Bonnet genannt werden, dass ihn der Hauptmann nicht zum Duell forderte, sondern ihn nur zornig anfuhr: „Konzentriert Eure Suche allein auf die Musketiere! Mit dem Leutnant verschwendet Ihr Eure Zeit!"

Genau in diesem Moment, bevor Bonnet etwas erwidern konnte und er dadurch diesen Tag möglicherweise nicht überlebt hätte, klopfte es an der Tür zum Arbeitszimmer. „Herein!" rief Tréville, noch immer aufgebracht, zumal sein Gegenüber ganz den Eindruck machte, sich die Reaktion des Hauptmanns gut gemerkt zu haben und sie für eine spätere Betrachtung beiseite zu legen.

Die Tür öffnete sich und es war der Adjutant, der nur zwei Schritte in den Raum hinein machte, respektvoll den Kopf neigte und dann meinte, Monsieur d'Artagnan melde sich vom Kontrollgang am Louvre zurück.

„Der Leutnant soll vortreten!" befahl Tréville und sah erst dann zu seinem Adjutanten, der eben erst den Dienst angetreten zu haben schien und noch nicht in seinem Kabinett gewesen war, denn er trug noch Handschuhe und den wollenen Mantel, der ihn auf dem Weg zum Hauptquartier vor der Winterkälte geschützt hatte. „Duvoire, führt Monsieur Bonnet hier unterdessen in die Kompanie ein."

Erneut verneigte sich der Adjutant leicht, zum Zeichen, dass er verstanden hatte. Auch das, was Tréville zwischen den Zeilen gesagt hatte. Er wartete, bis Bonnet sich nach einem Moment des Zögerns ebenfalls höflich von seinem Vorgesetzten verabschiedet hatte und zu Duvoire getreten war, dann verließen sie gemeinsam das Arbeitszimmer.

Bonnet entging nicht, wie Duvoire im Vorübergehen jemandem zunickte, der geduldig im Vorzimmer gewartet haben musste. Es konnte sich bei dem jungen Mann nur um den Leutnant der Kompanie handeln. Zumindest trat er auf das Nicken hin in das Arbeitszimmer ein und Bonnet konnte nicht mehr als einen kurzen Blick von dem anderen Offizier erhaschen. Wieder zogen sich seine Augenbrauen zusammen, aber bevor er erste Schlussfolgerungen aus dieser kurzen Begegnung ziehen konnte, führte der Adjutant ihn schon aus dem Vorzimmer zu seinen neuen Kameraden.

D'Artagnan seinerseits hatte den Musketier in Duvoires Begleitung ebenfalls bemerkt und festgestellt, dass ihm dieser Soldat fremd in der Kompanie war. Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, sah er darum fragend zum Hauptmann, der auffällig um Ruhe bemüht zu sein schien. Nun, dass er vorher recht laut geworden war, hatte im Vorzimmer niemand überhört.

Das alleine wäre vielleicht nicht allzu verwunderlich gewesen – wenn es nicht gerade ein neuer Musketier gewesen wäre, den Tréville schon am ersten Tag zurechtweisen musste. Darum verzichtete d'Artagnan auf eine uninteressante Zusammenfassung der Kontrolle der Wachen und fragte geradeheraus: „Ein Neuer?"

„Henri Bonnet, ja", bestätigte Tréville mit verfinsterter Miene. „Versetzt durch Vetternwirtschaft."

„Seine Kameraden werden sich um ihn kümmern." D'Artagnan erlaubte sich ein verstecktes Lächeln. Bonnet würde rasch lernen, wie es in dieser Kompanie zuging. Dafür würden die anderen Musketiere schon sorgen – und es würde sicher keine einfache Lektion für ihn werden, wenn er gleich am ersten Tag den Hauptmann verärgert hatte.

Tréville wirkte in der Tat aufgebracht und als er nun nach einem Stapel von Briefen griff, die er heute Morgen noch nicht hatte lesen können, tat er es auf eine ruppige Weise, als müsse das Papier für den eigentlich Schuldigen herhalten, der eine Abreibung verdient hätte. Seinen Leutnant schien er für den Augenblick beinahe vergessen zu haben und d'Artagnan fragte sich, ob wirklich ein einziger Neuling für eine derart üble Laune verantwortlich sein konnte.

„Ist etwas nicht in Ordnung, mon capitaine?" wagte er darum vorsichtig zu fragen. Als Leutnant mochte es ihm vielleicht zustehen, nach dem Befinden des vorgesetzten Offiziers zu fragen. Eine offene Antwort erhielt er hingegen selten, so auch jetzt.

Beinahe verwundert, dass sich noch immer jemand im Arbeitszimmer befand, sah Tréville von den Briefen auf. Er musterte seinen Untergebenen eine Weile und schien zu überlegen, dann verneinte er. „Es steht alles zum Besten." D'Artagnan allerdings zweifelte wohl daran, doch bevor er erneut fragen konnte, log der Hauptmann: „Die Nacht war lediglich sehr kurz."

Dieses Mal war das Grinsen des Leutnants weit weniger zurückhaltend, als noch zuvor. Er dachte sich offensichtlich seinen Teil dazu und gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. „Welche Befehle liegen für heute vor?" kehrte d'Artagnan schließlich zur Tagesordnung zurück und Tréville war sehr erleichtert darum, abgelenkt zu werden. „Die Üblichen, Leutnant."

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Als d'Artagnan später am Tag das Hauptquartier verließ, hörte er nur am Rande von dem Scherz, den sich die Musketiere mit ihrem neuen Kameraden erlaubt hatten. Dieser Bonnet sollte wohl für eine Wache eingeteilt werden, allerdings hielten es einige der Männer für sehr amüsant, ihn das vorm Kardinalspalais erledigen zu lassen. Man konnte sich vorstellen, was die Gardisten Seiner Eminenz davon hielten.

Nun, Alles in Allem war Bonnet nichts weiter zugestoßen, bis auf eine Verabredung hinterm Karmeliterkloster für den nächsten Morgen. Wenn er überlebte, war er es wert ein Musketier zu sein und keiner würde ihm mehr Vetternwirtschaft vorhalten. So verdiente man sich den Respekt der Kameraden.

D'Artagnan war diese Neuigkeit recht gleichgültig gewesen. Er freute sich auf den Dienstschluss, nicht, weil der Tag so anstrengend gewesen wäre. Aber weil vielleicht ein kleines, parfümiertes Briefchen zu Hause auf ihn warten würde von der liebreizenden Mademoiselle Félice de Lachipie. Ach, warum nur hatte Monsieur Lachipie, ihr Vater, beschlossen, den Winter nicht in Paris, sondern bis zum Sommer auf der Residenz in der Bretagne zu verbringen? Bis dahin würde d'Artagnan seine Geliebte nicht sehen, nur zärtliche Briefe mit ihr austauschen können.

Hoffnungsvoll eilte d'Artagnan also nach Hause – und wurde enttäuscht. Von Félice gab es keinen Brief und der Leutnant ging früh zu Bett.

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Bonnet hatte sich wacker geschlagen und gewonnen. Vom Duell hinter dem Karmeliterkloster kehrte er siegreich zurück und von da an hatte er das Vertrauen seiner Kameraden gewonnen. Wochen vergingen und Bonnet war mal in Begleitung dieses, mal jenes Musketiers zu sehen. Er unterhielt sich gut mit ihnen allen. Echte Freundschaften indes schloss er nicht.

Hätten die Soldaten geahnt, wer Bonnet wirklich war, wäre es ihnen weniger rätselhaft erschienen, warum sich ihr Kamerad so zurückhaltend, ja beinahe nur wie ein außenstehender Beobachter gab. Aber sie hegten keinerlei Verdacht und sagten sich: „So ist er eben."

Bonnet legte auch keinen Wert auf nähere Bekanntschaft mit einigen der Musketiere. Es genügte ihm vollkommen, am allgemeinen Klatsch und Tratsch beteiligt zu sein, Worte abzuwägen, nach Auffälligkeiten zu suchen. Nach und nach sammelte er Beweise für einen Verdacht, den er schon früh gehegt hatte. So entwickelte sich allmählich ein vollständiges Bild und schließlich fügte sich auch das letzte Puzzlestück nahtlos ein. Ja, es gab in der Tat einen Spion.

Tréville würde es nicht gefallen, wen Bonnet überführt hatte. Um auch den Hauptmann zu überzeugen, brauchte es noch einen letzten Beweis und so verfiel der Agent auf eine List...

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D'Artagnan saß gelangweilt im Sessel des Hauptmanns und versuchte, nicht an Félice zu denken. Kein einziger Brief war von ihr gekommen und der Leutnant wusste schon nicht mehr zu sagen, wie viele Erklärungen er sich dafür hatte einfallen lassen. Nur die eine, die wagte er nicht zu denken: Dass Félice ihn nämlich verlassen hätte.

Um sich von genau diesem Gedanken abzulenken hatte d'Artagnan freiwillig die Berichte durchgelesen, sogar ein zweites Mal und anschließend hatte er die Wachwechsel von dieser und nächster Woche zusammengestellt. Tréville war im Louvre und sein Leutnant vertrat ihn so lange im Arbeitszimmer. Allerdings war heute ein geradezu schrecklich ruhiger Tag. Keine Bittsteller, keine Besucher, keine Fragen zum Sold, nicht mal eine kleine Streitigkeit. Was trieben die da draußen alle bloß!

Was Félice wohl gerade tat? Vielleicht kämmte sie vor dem Spiegel ihr weiches Haar, ein verträumtes Lächeln auf den Lippen. Vielleicht jagte sie gerade auf ihre unnachahmliche Art einige Bedienstete durch die Residenz, um eine verschwundene Brosche wieder zu finden. Vielleicht schrieb sie gerade einen Brief an ihn – den irgendein Bote verlor. Ja, so musste es sein! Unmöglich, dass Félice nicht an ihn dachte, so wie er an sie!

D'Artagnan schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, was das Holz nur wenig beeindruckte, dafür aber der Leutnant das Gesicht verziehen ließ und er seine Hand schüttelte, bis sie nicht mehr schmerzhaft kribbelte. Félice, Félice, überall Félice! Er musste aufhören, über sie nachzudenken und sich stattdessen auf seine Pflichten hier konzentrieren. Aber es gab im Augenblick einfach nichts zu tun. Ob er vielleicht nach dem Adjutanten rufen sollte, um eine Weile mit diesem zu reden? Nein, Duvoire hatte sicher andere Dinge zu erledigen, als einen übel gelaunten Leutnant zu unterhalten.

Schwer seufzend lehnte sich d'Artagnan im Sessel zurück und starrte eine Weile einfach nur vor sich hin. Er könnte den Schreibtisch aufräumen... Ja, das könnte er tun und dadurch die etwas eigenwillige Ordnung des Hauptmanns völlig durcheinander bringen. Und eigenwillig war sie. Da lagen nicht nur Schreibutensilien, Papiere und ein Briefbeschwerer. Hinzu kamen noch verschiedene andere Dinge, zum Beispiel ein Buch, ein Ziergegenstand und ein Teller, der vom Frühstück oder irgendeiner anderen Mahlzeit hier stehengelieben sein musste. Und alles zusammen bildete eine Anordnung, der eine gewisse Methode zu Grunde liegen mochte – wenn sie auch sehr versteckt blieb.

D'Artagnan betrachtete dies alles nun, ohne wirklich etwas davon wahrzunehmen. Er hatte schon zu oft hier gesessen, um sich noch zu wundern – und um ehrlich zu sein war er selbst nicht ganz unschuldig an dem Zustand auf dem Schreibtisch. Wenn hier gearbeitet wurde, wurde so Einiges von hier nach dort geschoben und auf den ohnehin schon unübersichtlichen Papierstapeln Neues abgelegt. Da gab es den Stapel für Berichte, den Stapel für unterschriebene Berichte und den Stapel für sonstige Belange innerhalb der Kompanie. In der Regel drei Berge also, die es irgendwie abzutragen galt.

Jetzt lagen dort vier. D'Artagnan hatte jenen zusätzlichen Ablegeplatz zwar gesehen, aber seine Gedanken kreisten zu sehr um Félice, als dass er ihn verwundert hätte. Erst jetzt runzelte er die Stirn, setzte sich auf und zog diese Papiere zu sich heran. Nach einem ersten genaueren Blick erkannte er schließlich, worum es sich dabei handelte: Die Post von heute. Tréville war anscheinend noch nicht zum Lesen gekommen und hatte die Briefe lediglich entgegengenommen, als sein Adjutant sie gesammelt abgab.

Die Versuchung war groß, zu sehen wer dem Hauptmann heute geschrieben hatte. Wenn ein Brief von einem Monsieur de la Fleur darunter wäre, dann konnte sich der Leutnant schon einmal auf einen sehr übel gelaunten Vorgesetzten einstellen, der jenen Herrn nicht ausstehen konnte und trotzdem freundlich auf dessen Schreiben antworten musste. Hofpolitik. Vielleicht fand sich auch, wie es schon einige Male vorgekommen war, ein Brief an d'Artagnan adressiert dabei. Wenn jemand nicht wusste, wo der Leutnant wohnte, war es sinnvoll eine Nachricht an das Hauptquartier zu schicken. Dieser letzte Gedanke war es schließlich, der d'Artagnan tatsächlich etwas genauer den Stapel durchblättern ließ. Vielleicht hatte der unfähige Bote, den Félice beauftragt hatte ihren Brief zu überbringen, sich ebenfalls diese Überlegung zu Nutze gemacht.

Die Briefe waren allesamt noch ungeöffnet und d'Artagnan warf nur jeweils einen Blick auf die Handschrift oder das Siegel des Absenders, ob er etwas Bekanntes darunter entdecken würde. Natürlich würde er auf keinen Fall die Post lesen! Es sei denn, es wäre doch etwas für ihn dabei. Aber je weiter der Leutnant blätterte und dabei auch das ein oder andere Interessante entdeckte, schwand seine Hoffnung, eine zierliche Damenhandschrift lesen zu dürfen, die seinen Namen schrieb.

Nur noch zwei Briefe waren übrig und enttäuscht wollte d'Artagnan sie nach einem flüchtigen Blick schon zurück zu den anderen legen, als er plötzlich stutzte, innehielt und sich seine verfinsterte Miene mit einem Schlage aufhellte. Das war Félices Handschrift! Ganz eindeutig, zumal auch das in den Wachs gedrückte Siegel der Familie de Lachipie zuzuordnen war. Mit klopfenden Herzen vor Glück, endlich eine Nachricht von der Liebsten erhalten zu haben, wollte d'Artagnan das Siegel schon brechen, als ihm gewahr wurde, wessen Name als Empfänger auf dem Papier stand: Tréville.

Sein freudiges Lächeln war wie weggewischt, einer Maske des Unglaubens gewichen und recht blass geworden starrte der junge Mann weiterhin auf den Brief. Aber die Buchstaben wollten sich nicht neu ordnen und schienen ihn geradezu verhöhnen zu wollen, indem sie so klar und deutlich niedergeschrieben standen. Es konnte sich in keinem Fall um einen Irrtum handeln. Félice hatte an den Hauptmann geschrieben. Nicht an ihn.

Es war mehr als ein eifersüchtiger Stich, den d'Artagnan jetzt spürte und was er genau empfand, konnte er nicht sagen, als er den Brief jetzt in die Innentasche seines Wamses steckte. Vielleicht missdeutete er etwas – aber wie konnte er da sicher sein? Dieser Brief gehörte ihm! Wie konnte Félice nur! Und erst Tréville! Was wurde hier gespielt? Wie lange schon? Und warum?

Der Unglauben wich Zorn und wäre nun eine der beiden fraglichen Personen anwesend gewesen, d'Artagnan hätte sich für den Moment völlig vergessen. Aber glücklicherweise war er noch immer allein in dem Arbeitszimmer und blieb es auch für die nächste halbe Stunde, in der er sich irgendwie zu beruhigen versuchte. Sobald der Hauptmann zurück war, würde d'Artagnan von hier verschwinden um den Brief zu lesen. Er wusste nicht zu sagen, was schlimmer war: Die Angst, dass sich seine Befürchtung bestätigen könnte – oder der Gedanke, was danach sein würde.

Er versuchte nicht, sich etwas anderes einzureden, sich vielleicht doch noch Hoffnung zu machen. Zu lange war sie nun schon fort, ohne ihm geschrieben zu haben. Als er Félice nach ihrem ersten – leicht verunglückten - Rendezvous wieder gesehen hatte, da war es im Haus der Familie de Fève geschehen, auf einem Ball, während dem sich so einige Verwicklungen in Liebesdingen ereignet hatten. War d'Artagnan nur zu dumm, wahrscheinlich zu verliebt gewesen, um die Wahrheit zu sehen? Hatte sich Félice darum so gesträubt? Hieß sie ihre Abwesenheit aus Paris sehr willkommen, um d'Artagnan leichter betrügen zu können, ihm schonend beizubringen, was für ein Dummkopf er gewesen war?

Schließlich hielt der Leutnant es nicht mehr aus, nur dazusitzen und abzuwarten. Unruhig wie ein eingesperrter Tiger schritt er im Arbeitszimmer auf und ab, ohne sich indes beruhigen zu können. Ab und an tastete er im Gehen nach dem Brief, ohne ihn jedoch hervorzuholen. Er konnte ihn nicht hier lesen. Er sollte ihn gar nicht öffnen. Er sollte dabei zumindest nicht allein sein, denn irgendwer musste ihn davon abhalten, anschließend etwas sehr Übereiltes zu tun.

Irgendwann war er der unruhigen Wanderung überdrüssig und setzte sich wieder. Dieses Mal aber auf einen Stuhl vor dem Schreibtisch und nicht wieder in den Sessel des Hauptmanns. Er trommelte mit den Fingern einer Hand auf der Tischplatte und ging im Geiste noch einmal alle jene Momente durch, die er mit Félice verbracht hatte. Ach, sie war immer ein wenig widerspenstig gewesen und hatte so manches Rendezvous mit irgendeiner Entschuldigung abgesagt. Ob nur einer ihrer Ausreden je der Wahrheit entsprochen hatte? Oder war sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen? Und wie konnte Tréville so tun, als ob nichts wäre, einen ganz normalen Dienstalltag vorgaukeln? So wenig Courage hätte er dem Hauptmann nicht zugetraut, ihm nicht die Wahrheit ins Gesicht zu sagen.

„Langweilt Ihr Euch, Leutnant?"

D'Artagnan sprang vom Stuhl auf und wirbelte herum. Der Hauptmann war vom Louvre zurück und schloss gerade die Tür hinter sich, ging allerdings nicht sofort zu seinem Sessel, wie er es sonst getan hätte, sondern musterte seinen Untergebenen mit leicht verwundertem Blick. Sofort bemühte sich der Leutnant darum, sich nichts anmerken zu lassen, obgleich es ihm überaus schwer fiel. Bevor Tréville eine Frage stellen konnte, die das ungewöhnliche Auftreten seines Gegenübers erklärt hätte, berichtete d'Artagnan knapp: „Während Eurer Abwesenheit ist nichts vorgefallen. Die Berichte sind durchgesehen, die Wachliste ist vollständig. Es gab keine Besuche. Niemand hat nach Euch gefragt."

Das Letzte sagte der junge Mann in einer ganz eigenartigen Betonung, die Tréville nicht recht zu deuten wusste, aber ihn gleich darauf hinwies, dass doch irgendetwas vorgefallen sein musste. Es schien allerdings nicht mit der Kompanie zusammen zu hängen, sondern d'Artagnan nur persönlich zu betreffen. Und da der Hauptmann nach der Audienz im Louvre selbst nicht bester Laune war – Richelieu hatte im Beisein seiner Majestät wieder zu viele Andeutungen gemacht über Angelegenheiten, die er nicht wissen konnte – ging er nicht weiter darauf ein, sondern trat nun doch um seinen Schreibtisch herum.

Sein erster Blick fiel auf den Stapel seiner Post, den er sich nicht erinnern konnte, dorthin gelegt zu haben. Nun, wahrscheinlich hatte d'Artagnan sie von Duvoire entgegengenommen und achtlos zu den anderen Papieren gelegt. Er würde sich später darum kümmern und zunächst einmal Bonnet befragen, ob seine Ermittlungen irgendwelche Fortschritte aufwiesen. Ein ‚Nein' war nicht länger akzeptabel.

Also nickte Tréville seinem Untergebenen zu, dass dessen zeitweiliges Kommando über die Kompanie nun beendet wäre und er sich entfernen dürfe. Ihm fiel nicht weiter auf, dass d'Artagnan ohne jeden Gruß das Arbeitszimmer verließ, geradezu hinausstürmte und dabei fast den Adjutanten angerempelt hätte, der in diesem Augenblick eintreten wollte.

Kopfschüttelnd sah Duvoire dem Leutnant nach und trat dann ins Arbeitszimmer, um die Befehle des Hauptmanns entgegen zu nehmen.

„Schickt mir sofort Bonnet her!"