Alkoholiker

Das Leben in der Unterschicht

In der Ruhe liegt die Kraft.

Schwarzes Licht drang an seine Augen. Schwarzes Licht, welches drohte ihn zu verschlucken. Ihn zu zwingen, für den Rest der Ewigkeit in der verdammten Dunkelheit zu verbringen, fernab von allem Menschlichen oder Tierischen zu leben.
Angst kroch in seine schwarze Seele, die nur Leid, Verbitterung und Hass kannte. Für Liebe war kein Platz. Diese wurde ihm als Kind gnadenlos heraus geprügelt.
Erschrocken fuhr Tobias Snape aus dem Schlaf. Kalter Angstschweiß rann über seine Stirn, sein ganzer Körper bebte. Er verlangte nach Alkohol. Das Getränk des Himmels und der Hölle. Das Getränk, welches ihn lachen ließ und gleichzeitig leiden.

Ja, er war wie sein Vater geworden. Pascal Snape und er. Und sein verfluchtes Kind würde auch so werden. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, das sah man deutlich genug an ihm. Und auch an Severus merkte man es. Gut, der Kleine war noch sehr jung, ein Jahr alt, aber dennoch. Tobias sah es in den Augen des Kleinkindes. Diese Augen ... sie zeigten ihm seine zerstörte Seele. Severus wusste, wie schlecht es Tobias selbst als Kind ging und der Kleine lachte ihn deswegen aus, da war Tobias sich sicher.

Leicht schwankend erhob er sich. Wieder einmal hatte er auf dem alten Sofa geschlafen. Nun, wenigstens war der Weg zur Küche nicht weit. Ein paar Schritte durch das unordentliche Wohnzimmer und schon stand er in der Küche. Blut vom Vortag klebte noch an der weißen Wand. Der Boden war klebrig und bei jedem Schritt auf den Kühlschrank zu, hörte Tobias das leichte reißende Geräusch unter seinen Socken.
Auch am Boden waren vereinzelte Blutspritzer. Tobias hatte keine Ahnung mehr, was geschehen war, doch er konnte sich schon denken, wie die Szenerie abgelaufen war. Ein Streit mit Eileen und schon traf die Faust seine Frau mitten ins Gesicht.

Doch auch das war jetzt egal. Sein Kopf dröhnte, ihm war schlecht. Zeit, den Kater mit seiner eigenen Medizin zu betäuben. Er öffnete den Kühlschrank und angelte zwei Flaschen Schnaps heraus.
Bepackt mit seinem Frühstück schlich er zurück zu seinem Sofa, ließ sich drauf sinken (es quietschte leise unter seinem Gewicht) und trank mit vollen Zügen den puren Schnaps bis auf die Hälfte leer. Sein Hals brannte, wie immer, doch genoss er dieses Gefühl. Er spürte wie sein Körper sich entspannte und das Zittern nach und nach aufhörte. So war es gut. Sein Leben war wieder friedlich, jedenfalls noch einige Momente.
Kaum hatte sich Tobias an der Friedlichkeit der Wohnung erfreut, da schrie auch schon wieder dieses Mistvieh. „Mach, dass es aufhört, verdammt!"
„Ich mach ja schon", blaffte eine hysterische Stimme. Fußgetrampel, lautere Schreie seines Kindes. Na wunderbar. Jetzt brachte die Frau doch tatsächlich das Balg mit herunter.

„Er hat Hunger, Tobias. Jetzt sitzt nicht nur dumm da, sondern mach ein Fläschchen. Milchpulver liegt da irgendwo herum! Und bring noch etwas Babybrei mit", Eileen Snape war eine junge Mutter. Mit 18 wurde sie schwanger, mit 19 bekam sie Severus und nun war sie 20 und war mit Kind und Haushalt sichtlich überfordert.
Schwarze lange Haare, die betörend ihre breiten Hüften umspielten, glänzten matt im Schein der Glühbirne. Ihre Augen waren blau wie das Meer und ihre Brüste waren, dank Severus, nach der Schwangerschaft deutlich gewachsen und immer noch prall. Ja, eigentlich könnte man sagen, sie war eine schöne Frau... Doch ihre Augenringe und ihr blaues Auge, die schiefe Nase (an der Tobias wohl schuld war) und die vielen halb verheilten Wunden an Armen und Beinen ließen sie hässlich erscheinen.
Doch das Schlimmste war ihre Kleidung. Sie passte nicht zusammen, war schmutzig und viel zu groß. Eileen war nicht dick, sie war genau richtig, doch seit der Schwangerschaft fühlte sie sich unwohl und so versteckte sie ihren Körper vor ihrem Mann.

„Mensch", schnaubte Tobias genervt, erhob sich jedoch, die Schnapsflasche in der Hand. Der Kleine wollte immer noch nicht aufhören zu heulen.
Tobias schnappte sich eine der Flaschen und spülte sie mit heißem Wasser aus. Die Milch, die mittlerweile nicht mehr flüssig sondern fest war, ließ sich nur schwer aus dem Fläschchen spülen. Auch der Aufsatz wurde schnell ausgespült. Die anderen Flaschen, die Sauberen, waren oben in ihrem Schlafzimmer und Tobias hatte einfach keine Lust, hoch zu gehen und sie zu holen.
„Hier liegt kein Pulver."
„Dann schau in den Schrank über dem Ofen", keifte Eileen genervt zurück, das schreiende Bündel noch im Arm.

Und tatsächlich stand das weiße Pulver über dem Ofen, bereit gemacht zu werden. Zwei gehäufte Teelöffel hinein, heißes Wasser drüber, gut schütteln und es konnte weiter gehen. Der Babybrei war irgendwie weg, doch Gott sei dank stand im Kühlschrank noch eine Schale Apfelmus. Das würde es auch tun. Das Schreien wurde immer lauter.
Genervt nahm Tobias noch einen Schluck des durchsichtigen Getränks... und dann kam ihm die Idee. Langsam schraubte es das Fläschchen seines Sohnes auf...

Seine Frau schien immer noch mit dem Kind beschäftigt zu sein. Er schüttete ein wenig aus der Flasche in die Spüle, beäugte dann noch einmal den Schnaps und kippte dann einen großzügigen Schluck hinein.
Was ihn beruhigte, konnte dem Kind auch nicht schaden. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte er das Milch-Schnaps-Gemisch zu, griff wieder seine Pulle Schnaps und ging mit ihr zurück ins Wohnzimmer.
Das Kind schrie immer noch nach Nahrung, doch als Severus die Flasche in Mund geschoben bekam und er glücklich begann zu nuckeln, wurde er ruhig. Ruhig wie ein braves Lamm.

Severus war ein schlaues Kind. Er bemerkte, dass die Milch heute anders schmeckte. Doch er trank brav, bekam er doch selten Milch und Nahrung. Auch den Apfelmus schlang er mithilfe seiner Mutter herunter. Ab und zu bekam er sogar eine Banane und manchmal Birnen. Benebelt durch den Alkohol schlief er schnell wieder ein, eingekuschelt in den warmen Armen seiner Mutter. Viel zu selten war ein Nachmittag so harmonisch verlaufen.

Es vergingen knappe zwei Jahre und die Zeit der Harmonie war nun vollkommen der Aggressivität und dem Hass gewichen.
Severus war nun zwei und in einigen Tagen sollte er endlich drei Jahre alt werden und damit in den Kindergarten kommen.
Severus konnte für sein Alter noch erstaunlich wenige Sachen vollbringen. Zwar fielen ihm noch das Laufen und das Sprechen schwer, doch konnte er dafür denken wie kein zweites Kind in seinem Alter.
Severus spürte mit seiner wenigen Lebenserfahrung, was es bedeutete, ein Kind aus der Unterschicht zu sein. Vieles wurde ihm verwehrt, was andere Kinder als selbstverständlich ansahen.

Angefangen bei der Nahrung. Severus war unterernährt, genau wie seine Mutter, die das Essen allerdings auskotzte. Sein Vater versoff alles und so ernährte sich Severus von Apfelmus, Milchpulver, Apfelsaft und Toilettenpapier, was er ab und zu in seinen Mund stopfte und schluckte.

Auch an Liebe mangelte es in diesem Haus. Severus hatte nie welche zuspüren bekommen. Weder sein Vater, noch seine Mutter umarmte ihn. Lief er mit unsicheren Schritten auf sie zu, breiteten sich keine schützenden Arme vor ihm aus, um ihn zu empfangen. Ihn zu loben, wie gut er schon laufen konnte und ihn zu küssen.
Nie durfte Severus in den Armen seiner Mutter liegen und sich an sie schmiegen, wie ein Kind an seine Mutter...

Auch der Arzt meinte, dass Severus für sein Alter wenig konnte. Er hatte seinen Eltern sogar vorgeworfen, ihn zu misshandeln. Aus diesem simplen Grund hatten sie den Arzt gewechselt. Noch nie hatte Eileen ihren Sohn geschlagen. Gut, sie hatte ihn vielleicht einige Male geschüttelt oder ihn ignoriert, wenn er schrie, doch noch nie hatte sie ihn geschlagen. Und auch Tobias hatte Severus nur einmal eine Ohrfeige gegeben. Und diese hatte er bekommen, als er ihm das Bier aus der Hand getreten hatte. Natürlich versehentlich und dennoch hatte er die Ohrfeige, laut Tobias, verdient.

Heute war jedoch ein Tag, an dem alles schlimmer werden sollte. Severus stand in seinem Gitterbettchen und jaulte.
Er wollte raus aus seinem Gefängnis. Draußen schneite es, doch er konnte die Flocken, die so schön an seinem Fenster vorbeitanzten, nicht berühren. Er konnte sich nicht mehr erinnern, ob sie kalt oder warm waren.
Doch sie sahen so wunderschön aus. „Mamaaa, Papa, Mama, Papa. Raaaus. Severus raaaus", hysterisch kreischte Severus.
Wo waren seine Mama und sein Papa? Sie waren nicht hier. Sie mussten doch seine Rufe hören. Oder schrie er nicht laut genug?
In der Hand hielt er seinen Teddy „Schlampe". Sein Vater nannte seine Mama auch immer so...

„Mama", und endlich hörte Severus schwere Schritte die Treppen hoch kommen. Sein Vater, wutentbrannt, in der Hand eine Flasche Feigling. „Was schreist du hier so rum, du kleiner Bastard, hm?".
Ohne die lauter werdenden Schreie seines Sohnes zu beachten, riss Tobias ihm den Teddybären aus der Hand. Wütend, wie er in diesem Moment nur sein konnte, riss er den Kopf des armen Teddys von seinem Körper und schmiss diesen in Severus' Bett.
Den Körper ließ er achtlos auf den Boden plumpsen.
Severus starrte sein einziges Kuscheltier fassungslos an. Er brauchte einige Sekunden, ehe er begriff, was eben geschehen war. Mit großen, verheulten Augen sah er in die schwarzen Perlen, die als Augen dienten.

Laute Schreie drangen aus Severus' Kehle. Keine Tränen rannen mehr über seine Wangen, nein. Dies war zu schrecklich, um zu weinen. Aus dem Kopf drang Watte wie Blut aus dem Bären und für Severus war es, als wäre ein Freund gestorben.

Tobias keuchte vor Wut, bespuckte sein Kind, doch dieses weinte und weinte, wollte sich gar nicht wieder beruhigen.
„Halt deine scheiß Fresse, du Idiot. Das ist nur ein scheiß Stofftier", doch er heulte weiter.
Und irgendwann war auch Tobias' knappe Geduld zu Ende. Mit einer Brutalität, wie sie so oft in ihm herrschte, schlug er das Kind auf die Schädeldecke.
Severus schwieg und auch Tobias war mucksmäuschenstill geworden. Wieso weinte er nicht mehr? Tobias drückte seinen Sohn in eine liegende Position und deckte ihn zu. Er wehrte sich nicht mehr, blieb einfach nur liegen und schluchzte leise vor sich hin, während er den Kopf an seinen Körper presste.