Zwei Kinder saßen auf einer Decke im Gras, umgeben von bunten Wiesenblumen. Nicht weit von ihnen entfernt, auf der zweiten Decke saß ein Paar und ließ sich eine Tasse Tee aus der Thermoskanne schmecken. Sie schwatzten und lachten, warfen immer wieder fürsorgliche Blicke auf die Kinder.

Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte wie vermutlich alle anderen Spaziergänger geglaubt, eine nette kleine Familie beim wöchentlichen Sonntagsausflug zu sehen. Nur, Severus wusste es besser. Er sah die verächtlichen Blicke, die den schmächtigeren Jungen trafen. Sah die Abscheu in den Augen des Mannes, wenn er seine Stimme hörte. Erkannte den Wutanfall Duleys, als er sich noch aufbaute.

Im Gedanken zählte er rückwärts: ›Fünf, vier, drei, ...‹

»Du Missgeburt!«

›Verschätzt.‹

Wie Rakten schossen Petunia und Vernon Dursley in die Höhe. Viel schneller, als Severus es diesem Mann zugetraut hätte. Vernon riss Harry das Gebäck aus der Hand und reichte es seinem ohnehin schon überfütterten Sohn. Das Heulen, das zuvor noch über der ganzen Wiese gelegen hatte, verebbte noch schneller, als die beiden Erwachsenen zuvor aufgesprungen waren.

»Ich ... wollte nur eins«, murmelte Harry, den Blick auf die Decke gerichtet. Im Vergleich mit seinem Onkel wirkte er wie ein kleiner Spatz. Die hilflose Beute unter den Augen einer Harpie.

»Wer«, schnaubte die Harpie, »hat dir erlaubt, etwas zu essen zu nehmen?«

Zwei Spaziergänger blieben kopfschüttelnd stehen und sofort änderte sich Dursleys Körpersprache ebenso wie seine Stimme: »Du armer Kleiner. Du weißt doch, dass du dir den Magen verdorben hast, wir wollen doch nicht, dass es dir wieder schlechter geht, hm?«

Petunia garnierte die Ausführungen ihres Mannes mit einem einnehmenden Lächeln und sanftem Tätscheln von Harrys Haaren. Der Junge glaubte wohl selbst nicht, wie ihm geschah. Er wagte nicht einmal, zu blinzeln.

Das Ehepaar ging ohne einen weiteren kritischen Blick weiter.

Der Dursleys packten ihre Decken, ihren Picknickkorb und die Kinder und beendeten den Ausflug.

In dem schwachen Lichtstrahl, der durch das winzige Gewölbefenster fiel, tanzte jahrzehntealter Staub zum Fest seiner Befreiung. Severus hustete, sah sich um und beseitigte mit dem Zauberstab die Spinnweben, die sich durch den Raum zogen. Vorsichtig trat er an das Bücherregal, in dem kreuz und quer alle möglichen Bücher lagen. Bedeckt mit dickem Staub, totem Ungeziefer und undefinierbarer, klebrigtrockener Flüssigkeit. »Gut, dass ich in den Ferien nichts Besseres zu tun habe.« Er seufzte und krempelte die Ärmel nach hinten. Was hatte er auch anderes erwartet? Seit ewigen Zeiten hatte sich niemand die Mühe gemacht, die alte Bibliothek auch nur zu öffnen, geschweige denn, sich um die verschollen Schätze zu kümmern, die hier schlummern mochten.

»Nimm ein Zitronenbonbon, das hilft gegen den Staub.«

Severus fuhr herum. Er wusste, dass die Stimme Albus gehörte, doch sein Körper schaffte es nicht, den Schrecken zu verbergen, den ihm sein alter Lehrer eingejagt hatte. »Warum in Merlins Namen bereitet es dir solche Freude, dich anzuschleichen?«

Der Direktor lachte in seinen Bart. »Weil es immer wieder funktioniert.« Er schob ihm die kleine Bonbondose weiter unter die Nase, bis Severus nachgab und sich eines nahm.

»Ich muss vorsichtig sein. Einige dieser Bücher erwecken den Eindruck, als lägen sie seit tausend Jahren hier.« Beinah liebevoll fuhr er mit der Hand über einen ledernen Buchrücken.

»Durchaus möglich. Mein Vorgänger hegte die Hoffnung, einige Originalschriften Gryffindors hier zu finden.«

»Umso unverständlicher, dass so lange niemand ernsthaft danach gesucht hat.«

»Wir haben unruhige Zeiten hinter uns. Es gab Wichtigeres.«

Severus nickte, mit den Gedanken weit weg.

»Ich hörte, du warst gestern nicht im Schloss.«

Seine Gedanken kehrten zurück in den kleinen Raum, in dem es kaum genug Luft zum Atmen gab. Wo der Staub sich in seine Lungen legte und die Verantwortung des vergangenen Wissens es sich auf seinen Schultern bequem machte. »Sie haben einen Ausflug gemacht.« Es brauchte keine Erklärung, wer sie waren.

»Das ist doch schön.«

»Schön?« Severus schüttelte verächtlich den Kopf. »Glaub mir Albus. Von allen Adjektiven dieser Welt trifft es ›schön‹ am allerwenigsten.«

»Es ist seine Familie.«

»Rein biologisch gesehen lässt sich das wohl nicht bestreiten. Petunia ...« Er atmete tief durch und drehte sich zu Albus um. »Sie hasste Lily. Und sie hasst Harry. Ich weiß nicht, ob das das beste Umfeld für ein Kind ist, um behütet aufzuwachsen.« Er hatte zumindest in seiner Jugend erfahren, wie es sich anfühlte, geliebt und aufgefangen zu werden. Egal, wie groß die Fehler waren, die man machte.

»Es tut mir leid, das sagen zu müssen, Severus, aber das ist erst einmal zweitrangig. Ich halte es für das Beste.«

»Womit die Diskussion erledigt ist, ich weiß.« Severus presste die Lippen zusammen und wollte sich schon wieder den Büchern zuwenden, als er innehielt und Albus` Blick suchte. »Du bist aber nicht hergekommen, um mir das zu sagen, oder?«

»Nein.« Albus hustete. »Dafür hätte ich mir einen günstigeren Zeitpunkt gewählt. Nein, wir müssen reden.«

»Und worüber?«

»Hab die Güte, mir nach oben zu folgen. Hier scheint mir nicht der richtige Ort dafür zu sein.«

Severus fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht. Dieses Mal hatte er wirklich das Gefühl gehabt, Zeit zu haben für dieses lang gehegte Vorhaben. »Na schön. Wenn es denn sein muss.«

»Es muss Severus, es muss.«

Fawkes saß auf seiner Schulter und hackte so lange nach dem Keks in seiner Hand, bis Severus aufgab und dem Phönix das Gebäckstück überließ. Zufrieden mit seiner Beute gab das Tier ihn frei und kehrte zu seinem angestammten Platz zurück. Beinah glaubte Severus, ein triumphierendes Funkeln in seinen Augen zu sehen. Er räusperte sich, nahm die Teetasse und trank einen Schluck von dem, was seltsam nach Melone schmeckte. »Wo hast du den denn her?«

»Oh, das ist eine neue Mischung. Poppy hat sie mir aus der Winkelgasse mitgebracht. Ist einmal etwas anderes, meinst du nicht?«

»Das kann man ohne Übertreibung sagen.« Und ganz sicher war es nichts, das er noch einmal haben musste. »Du hast mich aber nicht hochgeholt, um mich deine neue Teeerrungenschaft probieren zu lassen?«

»Nein.« Das amüsierte Funkeln verschwand aus Albus Augen und machte trübem Ernst Platz. »Hast du heute schon die Zeitung gelesen?«

»Welche denn?« Severus sah mit hochgezogenen Augenbrauen zu dem Zeitungsberg, der sich auf Albus` Schreibtisch türmte.

Der Direktor reichte ihm die Seite einer Muggelzeitung. Ein nicht gerade spektakulärer Artikel mit der Überschrift: »Bankdirektor erleidet plötzlichen Herztod.«

»Sollte ich den Mann kennen?« Severus wusste mit dieser Information und dem Bild eines unscheinbaren Mannes neben dem Artikel nichts anzufangen.

»Nein. Hier.« Weitere Seiten. Weitere Berichte ähnlichen Inhalts.

In Severus Magen begann sich ein mulmiges Gefühl auszubreiten. Am Ende hatte er sechsundzwanzig Todesnachrichten aus ganz Großbritannien in der Hand. Gesammelt über einen Zeitraum von zwei Monaten.

»Keiner von ihnen war krank. Alle starben ganz plötzlich. Hier geht es weiter.«

Der Tagesprophet verkündete als Randnotiz das Verschwinden eines Zauberers mit dem ironischen Hinweis, dass es Gerüchte um eine Ehestreitigkeit gab. Einen Tag später vermeldete der Glitterer, dass das Verschwinden die neue Form der Scheidung sei. Die Zahl der Vermisstenfälle sei zumindest in den letzten Wochen stark angestiegen. Das erste Mal stieß Severus hier auf einen bekannten Namen. »Ephrahim Dickson?«

»Ehemaliger Auror und muggelstämmig. Wie - das haben meine Nachforschungen ergeben - alle anderen Vermissten ebenfalls.«

»Das muss nichts bedeuten.« Er wollte, dass es nichts bedeutete. Obgleich er wusste, dass sie es hier vermutlich nicht mit einem seltsamen Zufall zu tun hatten. Das Schicksal fragte nicht, welches Blut in den Adern eines Menschen floss. »Du glaubst, es stecken Todesser dahinter.«

»Der Gedanke ist mir durchaus gekommen, ja.«

Severus seufzte schwer. Seine Sorgen um Harrys Umfeld schien mit einem mal so klein, dass er nicht mehr verstand, wie sie ihn den ganzen Tag hatte beschäftigen können. »Und was erwartest du jetzt von mir?«

»Wir sollten herausfinden, ob die Todesser tatsächlich etwas damit zu tun haben. Findest du nicht?«

Er nickte erneut. »Glaubst du ...?«

»Dass Voldemort zurückgekommen ist?« Albus fuhr sich langsam durch seinen Bart. In seinen Augen spiegelten sich dieselben Fragen, die Severus beschäftigten. »Ich bin mir nicht sicher. Falls es sich bei diesen Ereignissen nicht tatsächlich um eine außerordentliche Ansammlung von Zufällen handelt, haben wir es mit demselben Vorgehen zu tun, das wir schon einmal erlebt haben.«

»Du hast nie daran geglaubt, dass er tot ist.«

»Nein. Aber ich hätte auch nie erwartet, dass er sich so schnell erholt.«

Severus drehte seinen Arm um. Das Dunkle Mal auf seinem linken Unterarm zeigte keinerlei Veränderung. »Vielleicht hat er das auch nicht.«

»Vielleicht haben mich auch nur die Spinnereien des Alters heimgesucht. Hoffen wir es.« Eine wackelige Hoffnung, wie der Ernst in Albus` Blick noch einmal unterstrich. »Bring in Erfahrung, was du kannst. Dann sehen wir vielleicht klarer.«

Severus sah alles andere als klar, als er auf dem Grunstück apparierte, das Malfoy Manor umgab. Dichter Nebel lag über den grünen, akkurat geschnittenen Wiesen. Der Kies auf dem Gehweg glitzerte vom Tau des frühen Morgens. Das trübe Wetter passte zu seiner Stimmung. Sollte Voldemort tatsächlich zurückgekommen sein, standen ihnen allen harte Zeiten bevor. Vielleicht schlimmere, als zur Zeit seiner letzten Herrschaft. Vor allem ihm. Doch diesen Gedanken schob er weit von sich. Er durfte sich jetzt nicht verrückt machen lassen durch bloße Spekulationen.

Auf sein Klopfen öffnete ein Hauself. Er verbeugte sich so tief, dass seine Ohren beinah den Boden berührten. »Melde mich deinem Herrn«, trug Severus ihm beim Eintreten auf und wartete in der großen Eingangshalle des Hauses. Es war geschmackvoll eingerichtet und trug dabei in jedem Winkel Narzissas Handschrift.

»Severus?«

Er drehte sich langsam um. »Narzissa. Entschuldige den Überfall. Eigentlich wollte ich zu deinem Mann.«

Ihre Augen leuchteten. Sie sah beinah glücklich aus.

Ein Umstand, der ihm einen unangemessenen Stich versetzte. Sie verdiente es, glücklich zu sein. Nur hätte seiner Meinung nach nicht unbedingt Lucius der Gründ dafür sein müssen.

»Er ist nicht hier.« Sie trat näher auf ihn zu, blieb dann aber in gut zwei Metern Entfernung stehen. Als wolle sie einen Sicherheitsabstand zu ihm wahren. »Kann ich dir helfen?«

Er zögerte. Kämpfe mit dem Wunsch, ihr Sorgen zu ersparen und der Möglichkeit, über sie etwas zu erfahren, das Lucius ihm womöglich nicht so ohne weiteres sagen würde. Der Kampf ging unentschieden aus. So nahm er den Mittelweg: »Weißt du, wo er ist?«

»Nein.« Sie verengte die Augen. »Severus ... ist etwas? Du kommst doch nicht ohne Grund.«

Severus räusperte sich leise. »Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, ich ...«

Lucius ersparte ihm weitere Erklärungen, in dem er ins Haus kam. »Was willst du hier?«

»Dir auch einen guten Tag, Lucius.«

Der Hausherr warf seinen Mantel über den wartenden Hauselfen, trat neben seine Frau und legte besitzergreifend seine Hand auf ihre Hüfte. »Ich habe dich was gefragt.«

»Ich ziehe es vor, das unter vier Augen zu besprechen.« Er suchte Narzissas Blick, der seinem bewusst auswich. Wie konnte er es ihr verdenken? Wo doch er es gewesen war, der ihre Ehe an den Rande des Abgrunds gebracht hatte, ohne ihr ein Netz bieten zu können, das zumindest sie hätte auffangen können.

Lucius hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Eine Geste, die einstudiert und falsch wirkte. »Es wird nicht lange dauern, meine Liebe.« Er löste sich von ihr und sah zu Severus. »In meinem Büro.«

Er bat ihn nicht, sich zu setzen. Entweder rechnete er nicht mit einer langen Unterredung, oder er genoss es, Severus stehen zu lassen, während er selbst gemütlich auf seinem Sessel saß.

Wie auch immer, Severus störte sich nicht daran.

»Und? Was willst du von mir?«

»Hast du in letzter Zeit Zeitungen gelesen?«

Lucius reagierte ähnlich verwundert, wie er gestern Abend bei Albus. »Gibt es einen besonderen Grund für deine Frage?«

»Nun, es gehen seltsame Dinge vor sich. Muggel sterben, Muggelgeborene verschwinden.«

»Es soll ab und an vorkommen, dass Menschen sterben oder verschwinden. Was hat das mit mir zu tun?«

Keine einzige Regung auf Lucius Miene ließ sich Severus entgehen. Doch fand er keine, die darauf hingedeutet hätte, dass er sich entdeckt fühlte. Was nichts bedeuten musste. Lucius war ein Meister der Täuschung. Anders wäre es ihm nie gelungen, über Jahre hinweg ein doppeltes Spiel zu spielen und zwei Seiten von sich zu überzeugen. Ja, er beherrschte dieses Spiel beinah so gut wie Severus.

»Das wüsste ich gerne von dir. Es gehen Gerüchte um, dass wir dahinter stecken.«

»Wir?« Lucius lächelte. »Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst.«

Mit wenigen Schritten durchquerte Severus den Raum, stützte die Hände auf Lucius Schreibtsich und schenkte dabei den Papieren keine Beachtung, die zu Boden fielen. »Das weißt du ganz genau«, erklärte er ruhig. »Und ich würde es schätzen, zu wissen, ob der Befehl von oben kommt oder es sich um unkoordinierte Alleingänge handelt. Der Dunkle Lord kann sehr verstimmt auf so etwas reagieren.«

»Kann es sein, Severus, dass einer deiner Tränke daneben gegangen ist? Du scheinst mir unter Wahnvorstellungen zu leiden.«

Severus verengte die Augen, richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Hast du eine andere Erklärung für diese Vorgänge?«

»Nein und wenn, wäre ich dir kein Rechenschaft schuldig. Jetzt verlasse mein Haus und wage es nicht noch einmal, es ohne Einladung von mir zu betreten.«

Es gab nichts mehr zu sagen, so ging Severus. Mit dem beschwerenden Wissen im Gepäck, dass Lucius tatsächlich keine Erklärung für die Toten der die verschwundenen Muggelgeborenen hatte.