Disclaimer: Alle Rechte gehören Victor Hugo und Gaston Leroux.

Diese Geschichte habe ich mit der Einwilligung der Autorin Caelia di Mekioübersetzt. Das Original könnt ihr hier unter "The Lost Souls of Paris" finden.


1. Ein bisschen Regen

3. September 1831

Éponine Thénardier zitterte und fluchte. Es war eiskalt für September, besonders mit diesem Wolkenbruch. Ein Blitz zuckte über den Himmel und sie schrie und duckte sich schutzsuchend unter die Brücke. Sie versuchte die kleine Melodie zu pfeifen, an die sich erinnerte, dass Cosette sie vor Jahren gesungen hatte. Nach einer Minute gab sie den Versuch auf und lehnte sich gegen einen der Körbe, der dort zurückgelassen wurde. Und dann begann der Korb zu wimmern. Éponine drehte sich um und entfernte den Korbdeckel. Ein fest eingewickeltes Baby lag darin, sein winziges Gesicht von einer Leinenmaske verdeckt. „Oh, du armes Ding", flüsterte sie und streckte ihre Hand nach der Maske aus. Das Baby wimmerte, so als würde es ihr davon abraten.

Baise!", rief eine bekannte männliche Stimme. Éponine steckte ihren Kopf unter der Brücke hervor und sah Enjolras, diesen Anführerjungen vom Cafe Musain, der versuchte sein blondes Haar vor den Regentropfen zu schützen.

„Hey! Enjolras! Hier her!", rief sie. Der Revolutionär drehte sich verwirrt zu ihr um. „Wenn du aus dem Regen heraus willst, komm schon!" Nach einer Weile kletterte er zu ihr, um sie zu erkennen und zog seinen Mantel aus.

„Ich habe dich schon einmal gesehen." Das war keine Frage.

„Äh ja… Ich bin Éponine Thénardier. Ich bin mit… Marius Pontmercy… befreundet."

„Ah ja. Das kleine Straßenmädchen." Sie zog eine Grimasse. „Es tut mir Leid. Ich wollte dich nicht kränken, Mam'selle."

„Es ist okay."

„Woher kommt das Baby?", fragte er. Sein Ton machte klar, dass er versuchte höflich zu sein, doch die Bedeutung der Worte ließ sie erröten.

„Es ist nicht… Ich meine, ich… nun ja… Ich, ähm, ich habe es gefunden."

„Oh, ich verstehe." Seine goldenen Augenbrauen zogen sich für einen Moment zusammen. „Nimm das Baby aus dem Korb."

„Warum?"

„Tu es einfach."

„Ähm, okay?" Behutsam hob sie das kleine Bündel auf ihre Arme. Enjolras nahm den Korb und holte nach einem Moment einen gefalteten Brief heraus.

„Es ist ein ‚er'. Nach dem hier ist sein Name Erik und wir sollten ihn besser in einen Fluss werfen."

„Ihn in einen Fluss werfen? Wozu?", kreischte Éponine besorgt. „Er ist doch nur ein Baby!"

„Nimm seine Maske ab", sagte Enjolras grimmig. „Im Brief steht, dass du, wenn du nicht verstehst, warum er besser tot ist, du wahrscheinlich noch nicht sein Gesicht gesehen hast."

„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist."

„Éponine, ich sage doch nicht, dass wir ihn töten. Ich will doch einfach nur die Motive von dem, wer auch immer ihn zurückgelassen hat verstehen. Tu es bitte."

„Ähm… okay." Éponine nahm vorsichtig die weiße Maske weg, die das Kind bedeckte. Sie war aus gutem Material, was bedeutete, dass die Familie des Babys reich war. Also warum sollten sie ihn weggeben… „OH!"

Sie hatte noch nie so etwas, wie das Gesicht des Babys gesehen. Ein geschwollenes Paar verdrehter, roter Lippen gegen knochenweiße Haut. Die Haut bei seiner Nase war zerfallen und verkniffen, eine gesprenkelte Narbe lief seine rechte Wange herunter. Teile seines Schädels sahen aus, als wären sie fast weg gebrannt und sie konnte sehen…

„Ist das sein Gehirn?", fragte Enjolras und lehnte sich vor, um das, was faszinierend aussah, besser sehen zu können.

„Ich denke das ist es…", antwortete Éponine schockiert. „Das arme Ding… Verstoßen, nur weil er anders aussieht…"

„Du hast eine sehr interessante Ansicht davon."

„Ich habe einfach… Ich sehe Teile von mir in ihm…"

„Wie kommt das?"

„Nicht so wichtig."

„Nein, erzähl es mir. Solange, wie wir auf das Ende des Sturms warten, können wir auch reden."

„Du redest. Ich will nicht."

„Na gut." Und dann redete er. Er erzählte ihr von Marianne, seiner kleines Schwester und dem Grund, warum er so wild für die Republik kämpfte. Er erzählte von den Träumen, die er hatte, die Visionen der blonden Frau, die die Trikolore trug und, dass er sich sicher war, dass sie der Geist Frankreichs war, der ihn drängte. „Sie ist, wie nichts, was ich je gesehen habe."

„Und das ist sicher der Grund, warum du immer noch eine Jungfrau bist?", scherzte Éponine. Er schlug verärgert nach ihrem Kopf. „Was ist? Das ist was Grantaire sagt!"

„Grantaire nennt mich auch Orestes von Zeit zu Zeit, aber ich bezweifle sehr stark, dass ich meine Mutter und ihren Liebhaber als Rache für meinen Vater in naher Zukunft töten werde. Noch werde ich ihn an meine Schwester verheiraten. Kurz, glaube nicht alles, was Grantaire dir sagt. Die meiste Zeit über kann er noch nicht einmal seine eigene Hand von seiner Flasche unterscheiden."

„Ist das eine Überraschung? Sie sind sich doch immer sehr nah", erklärte sie und er lachte. Es war ein warmer, sonniger Laut, der es unmöglich machte, nicht zu lächeln. „Du solltest öfter Lachen."

„Wie bitte?"

„Du siehst schön aus, wenn du lachst. Manche Leute wären wahrscheinlich nicht mehr so ängstlich, wenn du dich so, wie jetzt verhalten würdest."

„Nett zu sein kann warten, bis ich mir sicher bin, was wichtiger ist."

„Und was ist das?"

„Freiheit, Éponine. All diese Höflichkeit in der Welt bedeutet gar nichts, wenn uns die grundlegenden menschlichen Rechte verweigert werden."

„Ich werde nie frei sein", sagte sie eingeschnappt. „Ich bin zu arm, mein Vater wird mich ganz sicher verkaufen. Du kannst so etwas nicht aufhalten, Enjolras."

„Ich verschließe meine Augen nicht komplett vor dem Elend der armen, Éponine", sagte er kühl. Beide blieben für eine Minute still, bis der kleine Erik zu weinen begann. „Was sollen wir tun?" Éponine riss ein Stück von ihrem Hemdkleid ab und hielt es in den Regen heraus, bis es voll gesogen war.

„Steck es in seinen Mund", befahl sie und gab es ihm in die Hände.

„Was?"

„Tu es einfach."

„Ich komme mir, wie ein Idiot vor", maulte er, während er nachgab und ihr gehorchte. Als Erik am Fetzten saugte kicherte Éponine. „Ich wusste es! Ich sehe, wie ein Trottel aus!"

„Nein! Nein, ihr zwei sehr echt süß zusammen aus…", schweifte sie ab und errötete ein wenig. „Fast wie eine Familie." Enjolras bemerkte die Sehnsucht in ihrer Stimme.

„Was ist das Problem?"

„Nichts."

„Du lügst mich an."

Sie seufzte, nahm ihre Mütze ab und versuchte ihr verknotetes, nasses Durcheinander zu glätten. „Seit ich ein kleines Mädchen war, habe ich mich gefühlt, als hätte ich keine richtige Familie mehr. Ich bin Eifersüchtig, wirklich. Ich kann einfach… nicht anders, als mich um ihn zu kümmern." Die Räder in Enjolras Kopf begannen sich zu drehen. Wenn sie sich von ihren Eltern losreißen wollte, wenn sie es so machen wollte, wie er dachte, brauchte sie Geld. Und selbst, wenn er den kleinen Erik als sein Mündel mitnehmen würde, würde es niemanden geben, der sich um ihn kümmern würde, es sein denn… „Enjolras, warum siehst du mich so an?"

„Ich sehe dich so, weil ich eine Idee habe."

„Was für eine Idee?"

„Éponine… Wie würdest du es finden eine Gouvernante zu sein?"

„Haben Gouvernanten nicht eine Ausbildung?"

„Nur für ältere Kinder. Wenn Erik älter wird… Hoffentlich werde ich dann in der Lage sein, ihm zu helfen."

„Ich verstehe immer noch nicht, worauf du hinaus willst."

„Worauf ich hinaus will ist, dass ich während ich mit Les Amis im Café Musain beschäftigt bin, du auf Erik aufpassen könntest. Und ich wäre im Austausch dazu bereit, dir Unterricht zu geben und für euch beide zu zahlen." Er sah ihr Gesicht vorsichtig an und wartete auf ihre Reaktion. Als erstes leuchteten ihre Augen erwartungsvoll auf und sie begann zu lächeln. Doch dann verschwand ihr Lächeln und sie biss sich auf die Lippe.

„Ich kann nicht."

„Warum nicht?"

„Mein Vater", antwortete sie, während sie auf ihre schmutzigen Fingernägel sah. „Er würde nicht wollen, dass ich meine ganze Zeit dafür verwende, um ihm zu helfen. Und ich will das nicht riskieren."

„Und du kannst nicht entkommen?" Das war dumm von ihm. Natürlich konnte sie das nicht. Es gab nur drei Wege, wie eine Frau jemals von ihrem Vater freikommen konnte. Einer davon war es einem Kloster beizutreten und irgendwie hatte er das Gefühl, dass Éponine das nicht einmal als letzten Ausweg tun würde. Der Zweite war es sich als eine Kurtisane zurückzuziehen, doch wenn sie das noch nicht getan hatte, war das ein weiterer Weg, den sie nicht gut fand. Der Dritte war es, jemanden zu heiraten und ihm stattdessen untertan zu sein. Und irgendwie dachte er, dass sie nicht darein passen würde. „Nicht so wichtig." Éponine funkelte ihn an und murmelte etwas sehr leise, dann wechselte sie das Thema.

„Der Regen hat aufgehört."

„Willst du nicht vielleicht doch noch mein Angebot überdenken?", fragte er und drückte ihr zehn Francs in die Hand. Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.

„All das?"

„Betrachte es als einen Ansporn, wenn du dich dazu entscheidest mir zu helfen. Ansonsten ist es ein Geschenk."

„Ich will deine Almosen nicht."

„Es sind keine Almosen."

„Was ist es dann?"

Er lächelte ein wenig schief. „Ich denke du könntest es Bestechung nennen. Ich werden ihn für heute Nacht mit nach Hause nehmen. Und ich werde auf deine Antwort bis nach dem morgigen Treffen warten. Du weißt, wann das stattfindet, nehme ich an?" Ihre hellroten Wangen verrieten sie, trotz des Schmutzes. „Ich sehe das als ein ja an. Bis dann, Éponine." Ohne ein weiteres Wort, nahm er Erik in seine Arme und lief in Richtung seiner Wohnung davon.