Kapitel 1:
Das Verbot der Gefühle
Es war ein sehr warmer Tag in London, nicht heiß, aber angenehm warm. Auch gab es vereinzelte Wolkengruppen, die leise über die Winkelgasse zogen, doch die Strahlen der Sonne konnten immer wieder durchdringen. So ergab es sich schließlich, dass einer der Strahlen eine dreiköpfige Familie traf und wenn man es nicht besser gewusst hätte, hätte man wohl geglaubt, dass die Sonne soeben die Haarpracht der Familienmitglieder in Brand gesetzt hatte. Aber Gott sei Dank war dem nicht so, denn es handelte sich nur um die Familie Weasley, die heute die Winkelgasse besuchte um zum einen, die Sachen für das neue Schuljahr in Hogwarts zu kaufen und zum anderen, den Scherzartikelladen zu besuchen, den die Weasley-Zwillinge Fred und George vor kurzer Zeit eröffnet hatten.
„Schade, dass Dad heute arbeiten muss.", klagte Ginny, „Er behauptet zwar, enttäuscht zu sein, weil Fred und George nun doch nicht im Ministerium arbeiten, aber ich weiß, er ist stolz auf die beiden!"
„Natürlich ist er stolz!" , erwiderte Mrs. Weasley, während sie die Hand auf Ginnys Schulter legte, „Schließlich ist der Laden ein gelungener Erfolg geworden und so ganz nebenbei: Solange meine beiden Söhne in meinem Haus wohnen, fließt auch noch ein wenig Geld in die Familienkasse ein."
„Mum, es tut mir ja leid dich aus deinem Traum vom großen Geld wecken zu müssen, aber ich treffe mich in zehn Minuten mit Harry und Hermine im tropfenden Kessel." Ron, der bisher immer ein wenig außerhalb von seiner Mutter und seiner Schwester gestanden hatte, meldete sich nun so plötzlich zu Wort, dass Mrs. Weasley zusammenzuckte.
„Ron... also du, du kannst dich meinet wegen sofort zum Pup begeben. Wir treffen uns dann in ca. 2 Stunden beim Scherzartikelladen. " Stotterte Mrs. Weasley.
„Danke Mum.", sagte Ron und machte sich auf den Weg.
„Und grüß bitte Harry und Hermine von mir!" Rief ihm seine Mutter noch hinterher, doch das hatte er schon nicht mehr gehört.
Mrs. Wealsey überlegte scharf, warum Ron sich eigentlich nicht in der Gegenwart seiner Mutter und seiner kleinen Schwester sehen lassen wollte. War es ihm vielleicht peinlich? Letzt endlich gab sie sich mit der Antwort zufrieden, dass es wohl am Alter lag.
„Können wir zuerst zu Madam Malkin, Mum?", fragte Ginny, „George hat mir zum Geburtstag einen Gutschein für einen neuen Umhang und ein anderes Teil meiner Wahl geschenkt."
„Ach so? Ich persönlich wollte eigentlich erst zu Flourish Blotts, um mir das neue Werk von Ian Swille zu kaufen: „Glück oder Pech – Was es mit dem zerbrochenem Spiegel auf sich hat!" meinte Mrs. Weasley unsicher und wurde rot.
Ginny grinste sie an. „Ian Swille? Ist das der zweite Gilderoy Lockhard?"
Jetzt wurde Mrs. Weasley noch röter. „So ein Unsinn! Ginny Schatz, lass es uns so machen. Du besorgst dir deine Schulsachen alleine und wir treffen uns in 1 ½ Stunden mit Ron beim Scherzartikelladen von Fred und George. Einverstanden?"
„Einverstanden!"
So trennten sich auch ihre Wege. Ginny lief eine Weile nur so umher. Sie schaute sich an, was in den Schaufenstern ausgestellt war und grüßte hie und da einige bekannte Gesichter wie zum Beispiel Luna, Colin und Neville.
Irgendwann jedoch erreichte sie Madam Malkins Anzüge für alle Gelegenheiten. Sie trat ein und sofort viel ihr auf, dass kaum jemand im Laden war. Hinter der Kasse erblickte sie Madam Malkin.
„Guten Tag!" sagte Ginny „Ich brauche einen neuen Schulumhang- Hogwarts!"
Madam Malkin kam hinter der Theke hervor und las ab, wie groß der Umhang sein musste. Wenige Minuten später bezahlte Ginny ihren Umhang, den sie zusammen mit einem neuen Kleid in einer Tüte verstaut hatte und verließ den Laden.
Sie wollte gerade weitergehen, als ihr ein kleines Mädchen auffiel, das ganz allein an der Wand eines Schreibwarenladens stand. Sie konnte nicht viel älter sein als vier und trotzdem schien sie nicht traurig, obwohl sie ganz alleine war. Vielleicht waren ihre Eltern ja in dem Schreibwarenladen? Doch so ganz konnte Ginny das nicht glauben. Sie entschied sich das kleine Mädchen selbst zu fragen.
Mit zunächst langsamen, jedoch immer schneller werdenden Schritten näherte sich Ginny dem Mädchen. Jetzt, wo sie nur noch ein paar Meter von ihr entfernt war, konnte sie auch ihr Aussehen wahrnehmen. Die Kleine hatte sehr helles perlenfarbiges Haar, das mit roten Schleifen zu zwei Zöpfen gebunden war. Außerdem trug sie ein ebenfalls rotes Kleid mit weißen Rüschen und passenden Schuhen. Mit ihren grauen Augen schaute sie die ganze Zeit geradeaus, ohne auch nur im Geringsten ihr Befinden zu zeigen. Ihr Gesichtsausdruck schien ganz und gar neutral. Sie konnte traurig sein, so traurig, dass sie fast heulen musste, doch sie konnte genauso gut überglücklich sein, so glücklich, dass sie vor Freude in die Luft springen wollte.
Als Ginny bei ihr ankam beugte sie sich so vor, dass sie dem Mädchen direkt in die Augen sehen konnte.
„Bist du ganz allein?" fragte sie fürsorglich.
„Ja." antwortete das Mädchen.
„Wo sind deine Eltern?"
„Ich habe sie verloren."
„Und? Bist du gar nicht traurig?"
Nun dauerte es eine Weile bis sie antwortete.
„Schon, aber ich weine nicht."
„Warum nicht?"
„Ich darf nicht."
Das schockte Ginny. Wie konnten Eltern ihrem Kind verbieten Gefühle zu zeigen?
„Was machst du denn jetzt?"
„Warten, bis sie kommen und mich finden."
Das konnte sie nicht einfach so durchgehen lassen.
Sie streckte ihre Hand aus und sagte: „Nimm meine Hand! Wir suchen deine Eltern, einverstanden?"
Ginny lächelte das Mädchen an, die sich nicht sicher war, ob sie mitgehen sollte oder nicht. Doch da Ginny eine so sympathische Ausstrahlung zeigte, nahm das Mädchen ihre Hand und zusammen erkundeten sie die Winkelgasse.
„Wie heißt du eigentlich?" fragte Ginny das Mädchen nach einiger Zeit.
„Sue. Mein Name ist Sue."
„Ein schöner Name. Ich heiße Ginny!"
„Du hast auch einen schönen Namen!"
„Danke!"
„Sue! Da bist du ja!" Eine Jungenstimme ertönte vor ihnen und sie blickten auf. Ginny konnte es nicht glauben, sie blickte in das Gesicht von Draco Malfoy. Was wollte der denn von der kleinen Sue? Woher kannte er sie überhaupt?
Ginny merkte, dass Sue plötzlich ganz ernst wurde. Mit einer genauso ernsten Stimme sagte sie dann zu Malfoy: „Wo sind Mum und Dad?"
„Bei Gringotts hab keine Angst. Du darfst ruhig weinen." Sprach Malfoy und breitete die Arme aus. Sue ließ arprupt von Ginny los und rannte in seine Richtung.
Dann rief sie: „Mein großer Bruder!" und sprang mit einem Satz in seine Arme. -Bruder? Dachte Ginny verblüfft.- Sue's Augen füllten sich mit Tränen, als Malfoy sie auf den Arm nahm.
„Ich hatte ja solche Angst, wo auf einmal alle weg waren!"
"Ist ja gut. Ich bin ja bei dir!" Nun wischte Malfoy die Tränen aus ihrem Gesicht und setzte sie wieder am Boden ab.
„Lass uns gehen!" sagte er.
„Warte kurz!" bat Sue ihn.
Sie kam auf Ginny zu gelaufen und die nahm sie in den Arm.
„Auf Wiedersehen Sue!"
„Tschüss Ginny!"
Dann ließen die beiden voneinander los.
„Weasley?" meinte Malfoy nur.
„Malfoy." Erwiderte Ginny lustlos.
„Was hast du mit meiner Schwester zu tun, Weasley?"
„Ginny hat mir geholfen dich zu finden.", sagte Sue.
„Ach so?" erkundigte sich Malfoy.
„Ich hatte keine Ahnung, dass ausgerechnet du ihr Bruder bist!" erwiderte Ginny.
Sue sah erschrocken aus: „Heißt das, wenn du gewusst hättest wer meine Familie ist, hättest du mir nicht geholfen sie zu finden?"
Das ließ Ginny zu denken übrig. Ihre Familie und die Familie Malfoy waren schon seit Jahrzehnten verfeindet. Zwar war Sue sehr nett, doch was hätten Lucius und Narzissa Malfoy gesagt, wenn sie plötzlich mit einer Weasley aufgekreuzt wäre? Jetzt stockte ihr der Atem, denn ihr fiel plötzlich etwas ein – würde Draco Malfoy
irgendetwas von dieser Begegnung seinen Eltern erzählen? Wenn ja, würde es nicht gut aussehen für Mr. Weasley, der zusammen mit Malfoys Vater im Ministerium für Zauberei arbeitete. Ginny hatte Sues Frage schon wieder völlig vergessen und weil sie nicht antwortete dachte Sue, die Antwort wäre „Nein, ich hätte dir nicht geholfen!" Die Kleine sah einerseits traurig aus, anderseits jedoch auch ziemlich wütend. Sie entfernte sich im Rückwärtsschritt von Ginny, die nicht wusste was auf einmal mit ihr los war. Erst als Sue zusammen mit ihrem Bruder verschwand, fiel Ginny wieder die Frage ein, die sie vergessen hatte, zu beantworten und es tat ihr leid.
Sie hoffte, Sue eines schönen Tages wieder zu sehen, um sich bei ihr entschuldigen zu können...
Tagsüber hatte sie die Begegnung mit Malfoy und seiner Schwester schon fast wieder vergessen, wegen der ganzen Aufregung im Scherzartikelladen, die Fred und George ihrer Mutter zu Ehren veranstaltet haben, doch jetzt, wo Ginny in ihrem Bett lag, die Decke bis zum Hals gezogen, ging ihr die Geschichte noch ein paar mal durch den Kopf.
Erst hatte sich Ginny gewundert, dass die kleine Sue nicht weinen durfte, doch nun, wo sie ihre Abstammung kannte, dachte sie, sie hätte es wissen müssen. Aber was Ginny bis jetzt immer noch nicht verstand war, warum Sue in Gegenwart ihres Bruders nicht so verschlossen war, was ihre Gefühle anging. Als ob sie wusste, dass ihr Bruder ganz anders war, als ihre Eltern. Auch Draco Malfoy, erinnerte sie sich, zeigte nie Gefühle. Ob er auch Angst vor der Reaktion seiner Eltern hatte? Ach Quatsch! Er ist von Natur aus so kühl und unfreundlich! Und trotzdem: Ginny
musste sich gestehen, seine Anwesenheit heute nicht so unmöglich gefunden zu haben. Eher machte er heute einen sehr sympathischen Eindruck. Auch wenn es nur daran lag, dass seine kleine Schwester dabei war.
