Oh, schöne Rowena Ravenclaw oder Was es wirklich mit der Feindschaft zwischen Gryffindor und Slytherin auf sich hat

-1- Tugenden

Zögernd schob sich die helle Morgensonne über die grünen Hügel und verwandelte den großen See, an dessen Ufer vier Personen standen, in ein Meer aus Diamanten.
Langsam tasteten die Strahlen sich über das weiche Gras, bis sie schließlich an massive Steinstufen stießen, sich aber auch davon nicht aufhalten ließen. Stück für Stück kletterten sie die grobe Mauer entlang, nur um sich hin und wieder beeindruckend in einem der vielen Fenster zu spiegeln.

Vor ein paar Monaten noch gab es an diesem Ort weder Fenster noch Stufen, nur eine bis auf die Grundmauern abgebrannte Ruine, die ein weiteres Opfer der vielen Muggelkriege darstellte.

Für Muggel hatte sich der Anblick jedoch nicht geändert. Würde sich ein nichtmagischer Mensch in diesen entlegenen Teil Schottlands verirren, so würde er nichts weiter als diese Ruine zu Gesicht bekommen, denn dieser Ort gehörte nun zur magischen Welt.
Wo früher einmal eine massive Burg stand, thronte nun ein wahres Schloss, mit unzähligen Türmen und Zinnen. Von Innen war dieses Schloss noch leer und kalt, doch in nicht allzu ferner Zeit, würden in seinen Sälen junge Hexen und Magier leben und lernen.
Es gab nicht viele Zauberschulen, bis jetzt zwei, und die vier Menschen am Ufer des Sees hatten die dritte erschaffen.

Voller Stolz sahen sie zu ihrem Werk auf, noch nicht ahnend was für eine große Rolle es in der Zukunft spielen würde.
Nein, im Moment dachten Godric Gryffindor, Helga Hufflepuff, Salazar Slytherin und Rowena Ravenclaw gerade so weit, wie sie das Schloss von Innen einrichten könnten. Und mit dieser Aufgabe waren die mächtigsten Magier ihrer Zeit auch vollkommen ausgelastet, wenn nicht gar überfordert.

„Es ist wunderbar." Rowena lächelte mit der Sonne um die Wette. „Unglaublich, dass wir es in so kurzer Zeit geschafft haben."

Helga Hufflepuff, eine sehr gute Freundin von Rowena, nickte lächelnd. „In ein paar Monaten werden wir fertig sein. Aber es gibt noch so schrecklich viel zu tun."

„Wir werden viele Schlafsäle brauchen, am besten wir bringen sie in den Türmen unter, dort ist am meisten Platz."

„Aber Rowena, dann sind die Schüler doch auf vier Türme verstreut. Ich finde, wir sollten sie dicht beieinander unterbringen."

Die beiden Frauen begannen, leise darüber zu diskutieren, doch die neben ihnen stehenden Männer verzogen keine Miene. Sie hingen vollkommen anderen Gedanken nach.
Der junge Mann links von Rowena trug den Namen Godric Gryffindor und im ganzen Land war er für seinen Mut, der dem eines Löwen gleichen sollte, bekannt.
Im Moment weilten seine Gedanken bei der wohl mutigsten und gefährlichsten Sache, die er kannte: Bei der Liebe.

Ohne den Kopf zu wenden, wusste er, was er sehen würde. Die jungen Sonnenstrahlen würden sich in Rowenas Haar brechen und es zum glänzen bringen. Sie trug zu Recht den Namen „Ravenclaw", denn ihre Haare waren so schwarz, wie das Gefieder eines Raben.

Nur allzu gern würde Godric durch eben jenes Haar streichen, sein Gesicht darin vergraben und dabei mit den Fingerspitzen die blasse Haut über den Wangenknochen der jungen Frau nachzeichnen.
Er hatte sein Herz verloren, als er sie das erste Mal gesehen hatte. Zuerst hatte ihn ihre Schönheit verzaubert, dann ihre einfühlsame Art und zum Schluss ihre unglaubliche Intelligenz.
Godric seufzte leise. Mochte sie ihn? Sie war freundlich zu ihm, wie auch zu Salazar, den sie genauso lange kannte, aber mochtesie ihn? Erwiderte sie vielleicht sogar seine Gefühle und versuchte sie hinter der Maske der Freundlichkeit und Höflichkeit zu verstecken?
Wie sollte er eine bedeutende Zauberschule bauen, wenn er sich selbst nicht besser als ein 16- jähriger Junge verhielt?
Er wollte Klarheit, aber nicht jetzt. Ein Streit mit Rowena könnte den Zusammenhalt der Gemeinschaft gefährden und dies durfte nicht geschehen, ehe das Schloss fertig gestellt war. Dies war ihr obersten Ziel!

Vor einem Jahr hatten die vier sich bei einer Zaubererversammlung kennen gelernt und waren nach langen Gesprächen zu dem Schluss gekommen, dass der Nachwuchs nicht genug gefördert wurde.
Schließlich war einem von ihnen- Godric wusste nicht mehr, wer es gewesen war- die Idee gekommen, selbst eine Schule zu bauen.
Der Vorschlag wurde angenommen, doch Rowena hatte weiter in die Zukunft gedacht, als die anderen.

Ihr war der Gedanke gekommen, dass sie- wie es bei schnellen Entschlüssen nun mal ist- irgendwann die Begeisterung verlieren und ein unfertiges Schloss zurücklassen würden.
Durch ein Ritual banden sie sich schließlich aneinander und an das Schloss. Sie würden erst wieder getrennte Wege gehen können, sobald die Schule vollkommen fertig gestellt war.

Ein Streit mit Rowena würde den ganzen Bau ungemein in die Länge ziehen und wenn Godric ehrlich war, wäre er froh seine Zeit bald wieder ohne die manchmal etwas zu naive Helga und vor allem ohne diesen unheimlichen Salazar Slytherin zu verbringen.
Die beiden Männer mochten sich von Anfang an nicht, hatten aber gewisse Parallelen in ihrem Charakter festgestellt: Ehrgeiz, Stolz und ein außergewöhnliches Talent in Sachen Magie. Bei aller Abneigung war ihnen klar gewesen, dass sie zusammen alles schaffen könnten, wenn sie nur mit und nicht gegeneinander arbeiten würden.
Nun standen sie hier und betrachteten die ersten Früchte ihrer Zusammenarbeit.

„Was meint Ihr, Godric?"

Die von ihm geliebte Stimme riss den braunhaarigen Mann aus seinen Gedanken. „Wie bitte, Rowena, verzeiht, ich war in Gedanken."

„Salazar hat den Vorschlag gemacht, die zukünftigen Schüler nach ihren Fähigkeiten in Häuser einzuteilen, die nach uns benannt werden. So würden wir als Gründer nie in Vergessenheit geraten und die Schüler könnten sich mit einem von uns identifizieren. Wir wären dann sozusagen ihre Vorbilder." Das Strahlen in Rowenas Augen zeigte deutlich, dass sie diesen Vorschlag wunderbar fand.

„Nun, eine gute Idee. So könnte den Schülern ein Gefühl von Zusammengehörigkeit vermittelt werden."

„Wunderbar, dass Ihr der gleichen Meinung seid wie wir. Dann ist es wohl beschlossen." Um Salazars Mundwinkel spielte ein zufriedenes Lächeln, das Godric als alles andere als sympathisch bezeichnet hätte.

„Und welches sollen die bezeichnenden Eigenschaften sein?" Helga hakte sich bei Godric unter und sein Herz schlug etwas schneller, als Rowena ihre rechte Hand auf seinen anderen Arm legte. Zu seinem Leidwesen befand sich ihre Linke auf Slytherins Arm, wodurch diese Geste eine rein freundschaftliche Note erhielt.
Gemütlich schlenderten die vier so um den See und grübelten über ihre wichtigsten Eigenschaften.

„Nun Godric, ich finde euer Haus sollte im Zeichen der Tapferkeit und des Mutes stehen. Und ich bin sicher, jeder, der von Euch gehört hat, wird mir in dieser Hinsicht zustimmen."
Bei Rowenas Worten pochte das Herz des jungen Mannes heftig und er wurde ein paar Zentimeter größer.

„Ich danke Euch, Rowena." Er sah sie mit einem Lächeln an, dass wohl jede Frau zum schmelzen gebracht hätte… nur nicht Rowena, die seinen Blick ruhig erwiderte.
„Und lasst mich gleich Festhalten, dass die Tugend Eures Hauses wohl die Schönheit sein muss. Das wird mir jeder bestätigen, der Euch gesehen hat."

„Also", die leise, aber schneidende Stimme von Salazar erklang von Rowenas anderer Seite, „ich würde eher für Intelligenz plädieren."

„Vielen Dank, Salazar." Rowena schenkte dem älteren Mann ein ernst gemeintes Lächeln. „Es ehrt mich, so etwas aus Eurem Munde zu hören."

Godric verstand die Welt nicht mehr! Welche Frau wollte denn nicht gesagt bekommen, sie wäre wunderschön? Nun, anscheinend diese hier, aber dann musste sie doch nicht gleich Slytherin um den Hals fallen!
Seit vielen Jahren spürte Godric wieder den Groll der Eifersucht in sich aufsteigen.
Nur wusste er nicht warum. Salazar war mindestens fünfzehn Jahre älter als er und Rowena, er musste wohl Ende dreißig sein, und sah zudem nicht einmal gut aus … zumindest in Godrics Augen. Und außerdem, Slytherin mit menschlichen Gefühlen wie Liebe in Verbindung zu bringen war absolut lächerlich.
Dieser Mann war kalt wie Eis, das hatte Godric mehr als einmal feststellen müssen. Er war nicht der Hauch einer Konkurrenz.

„Und Helga wird Treue und Kameradschaft symbolisieren. Es gibt keine bessere Freundin als sie!"

Helga Hufflepuff sah lächelnd an Godric vorbei zu Rowena, bevor sie sich an Salazar wandte: „Und Ihr? Welche Eigenschaften würdet Ihr Euch selbst zuschreiben?"

„Oh, da wüsste ich welche! Wie wäre es mit List und Tücke?" Die Worte waren heraus, ehe Godric sich beherrschen konnte. Beschämt senkte er den Blick. „Verzeiht, ich…"

„Warum sollte man die Wahrheit verzeihen?" Salazar zog spöttisch einen Mundwinkel nach oben. „Schüler, die in mein Haus wollen, müssen in der Lage sein List und Tücke miteinander zu verbinden. Richtig angewandt und gepaart mit Intelligenz können diese Eigenschaften einen weiter bringen als glorreiche Tapferkeit!"

Helga spürte die unterschwellige Spannung und versuchte zu schlichten: „Wenn wir das jetzt geklärt hätten, können wir ja ins Schloss gehen und uns der Einrichtung widmen. Die Schlafräume könnten ja in den Farben unserer Wappen eingerichtet werden."
Bestimmend zog sie Godric mit sich, der wiederum erwartete, dass auch Rowena und Salazar sich dem Tempo anpassen würden.

Zuerst sah es auch danach aus, aber als Rowena ihre Schritte beschleunigen wollte, verstärkte Salazar den Griff um ihren Arm und bedeutete ihr so, dass er keinesfalls vorhatte sich zu beeilen.
Für eine kurzen Moment schien Rowena zu zögern und sah zu Helga und Godric, die bereits zwei Schritte Vorsprung hatten, dann aber verlangsamte sie ihr Tempo wieder und schlenderte mit Salazar zurück zum Schloss, während Godric nichts anderes tun konnte, als ihm alle verbotenen Flüche auf einmal auf den Hals zu wünschen.