1. Kapitel

Ich hatte mir dieses Leben nicht freiwillig ausgesucht. Hätte ich auch nur die geringste Chance mein Leben zu ändern, so würde ich sie mit beiden Händen fest umklammern. Ich würde so lange an ihr festhalten, bis sich mein Leben in eine andere Richtung wenden würde. Aber diese Chance gab es momentan nicht. Genau das war auch der Grund weshalb ich diesen Weg eingeschlagen war. Ich war nicht stolz darauf, hatte Angst vor dem, was mir bevorstand. Dennoch müsste ich dadurch. Das einzige, was mich dazu veranlasste es zu tun, war der Funken Hoffnung in meinem tiefsten Inneren. Die Hoffnung, dass eines Tages meine Chance kommen würde.

„Du hast was gut bei mir. Wirklich. Ich bin dir so dankbar.", murmelte ich leise und seufzte. Selbst ein Lächeln bekam ich nicht mehr so ganz zustande. Das gegenüber meiner besten Freundin sollte schon wirklich etwas bedeuten.

„Mach dir keinen Kopf, Bella. Ich mach das doch gerne.", erwiderte sie wiederum lächelnd und drückte mir einen kleinen Kuss auf die Wange. „Mason und ich werden eine Menge Spaß im Tierpark haben. Nicht wahr, Mason?", fragte sie.

Überrascht drehte ich mich um. Und da stand er, mein kleiner Spatz. In der einen Hand hielt er stolz seinen Rucksack, unter den anderen Arm geklemmt hatte er seinen Teddy. Er war wohl der süßeste Junge, den man sich als Sohn wünschen konnte. Mason sah zu Alice auf und nickte lächelnd. „Rawr.", machte er und kicherte leise. Schon war meine Stimmung aufgehellt und Alice und ich lachten.

„Komm her, du Tiger.", schmunzelte ich und ging in die Knie. Meine Hand streckte ich nach seinem Rucksack aus.

„Ich bin ein Löwe!", protestierte Mason trotzig. Das brachte Alice hinter uns schon wieder zum Lachen. Trotzdem kam er auf mich zu und reichte mir seinen heißgeliebten Cars-Rucksack.

„Oh, entschuldige bitte der Herr." Ich versuchte ernst zu bleiben, allerdings lauerte das Grinsen bereits in meinen Mundwinkeln. „Linker Arm.", forderte ich. Er streckte den rechten aus. „Wie merken wir uns wo links ist?", fragte ich ihn mit hochgezogenen Augenbrauen.

Er brauchte ein bisschen bis er mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand ein L geformt hatte. „Llllllinks.", verkündete er grinsend. Als er seinen Fehler merkte, wurden seine Augen und sein Mund groß und schon versteckte er seinen offenen Mund erschrocken mit seinen Händen. „Ups.", kicherte er dann und schon streckte er seinen linken Arm aus.

Ich setzte ihm seinen Rucksack auf – linker Arm, einmal drehen, rechter Arm – und zog ihn sanft an mich heran um ihm einen Kuss auf's Haar zu drücken. „Perfekt.", grinste ich. „Jetzt bist du fertig für den Ausflug mit Tante Alice." Ich stupste seine Nase und schon wieder kicherte er leise. Er war einfach wirklich das perfekte Kind. So unglaublich fröhlich, so viel am lachen. Er war mein ein und alles. „Bussi!", forderte ich und formte mit meinen Lippen einen perfekten Kussmund. Ich brauchte gar nicht lange warten, da spürte ich zwei kleine Hände an meinen Schultern und bekam einen schönen Schmatzer. „Habt ganz viel Spaß. Und sei schön brav, ja?"

Mason nickte übertrieben doll mit dem Kopf und grinste dabei. „Ja."

„Na komm, Mason. Wir wollen doch nicht, dass die Löwen schon schlafen wenn wir da sind.", schaltete sich jetzt auch Alice ein. Sie wusste ganz genau, dass ich es hasste mich von Mason trennen zu müssen, wie schwer es mir fiel loszulassen. Wie gut, dass es ihm nicht anders zu gehen schien. Trotzdem nickte Mason wieder brav, ging zu Alice und nahm ihre Hand, die sie nach ihm ausgetreckt hatte. „Bis heute Abend, Bella."

„Tschüß, Mammi.", murmelte Mason mit diesem traurigen Unterton, den ich so sehr hasste.

„Bis nachher, Großer.", lächelte ich sanft und dann waren sie weg.

Weshalb es mir heute besonders schwerfiel Mason gehen zu lassen? Weil ich den Grund dafür so sehr hasste. Es war der erste Tag meines neuen Jobs. Und dieser Job würde meine persönliche Hölle würden, das wusste ich. Keine Ahnung wie ich mit den moralischen Aspekten zurechtkommen sollte. Es war ein Zwiespalt in mir. Einerseits brauchte ich den Job, den letzten hatte ich verloren, ich hatte bei Alice zeitweise leben müssen. Andererseits war er das Erniedrigendste, was ich jemals getan hatte. Schon jetzt wäre ich gern durch die Stadt gelaufen um mich bei so vielen Menschen im Voraus zu entschuldigen. Das Gewissen bereitete mir bereits jetzt Probleme. Wie sollte ich das bitte schaffen? Ich musste, ich musste es einfach schaffen.

Nachdem ich die Tür geschlossen hatte, ging ich die kleine Treppe hoch um nach oben zu gelangen. Ich schloss die Tür von Mason's Zimmer, anschließend ging ich direkt ins Bad. Das Beste an dem Job war wohl, dass es egal war wie ich aussah. Nun ja, relativ. Sicherlich wollte mich mein Chef nicht stinkend dort haben. Also gönnte ich mir zunächst eine Dusche, auch wenn sie nicht wirklich lang war. Meine Haare rubbelte ich anschließend halbwegs trocken oder zumindest so trocken, dass sie nicht mehr tropften. Sobald ich dann auch noch meine Zähne geputzt hatte, verschlug es mich in mein Zimmer. Ich schlüpfte in Unterwäsche, eine Jeans und ein weißes V-Neck T-Shirt. Ich dachte auch eine Sekunde lang daran eine Sonnenbrille mitzunehmen – natürlich um mich zu verstecken – für den Job war das allerdings nicht sonderlich geeignet. Kurz begutachtete ich mich im Spiegel und war der Meinung, dass es schon genügen würde. Noch erwartete man eh nichts von mir, das wusste ich. Ich war neu in der Branche, ich wusste noch nicht wie die Dinge liefen, was ich zu beachten hatte, welche Kontaktewichtig waren. Vor allem die Kontakte fehlten mir wohl.

Ich atmete noch einmal tief durch, griff nach meiner Handtasche und ging wieder nach unten um die Küche vom Frühstück aufzuräumen. Leider schlug das aber auch nicht mehr Zeit tot, als dass ich es mir erhofft hatte. Also ging ich noch einmal in den Wohnbereich um dort Mason's Spielzeuge zu verstauen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass ich wohl – wenn ich mich jetzt auf den Weg machen würde – ein paar Minuten zu früh ankommen würde. Aber das war gut, richtig? Zu früh am ersten Tag war nicht schlecht. Zu früh sein in diesem Job war doch generell keine Eigenschaft, oder? Nein, sicher nicht. Das könnte sich bestimmt als Vorteil erweisen.

Ich machte mich verrückt. Ich machte mich mehr als verrückt. Mein Herz schlug wild in meiner Brust, meine Hände zitterten leicht und dennoch versuchte ich mir einzureden, dass es mir gut ging. Wem machte ich bitte etwas vor?

„Du schaffst das.", redete ich mir selbst Mut zu als ich meine Tasche griff und schließlich die Wohnung verließ.

Der Weg zur Agentur war nicht wirklich weit. Das Gebäude war ideal mit der U-Bahn zu erreichen, es war nur ein Block von der nächsten Station entfernt, vielleicht fünf Minuten Fußweg. Wieso ich das so genau wusste? Weil ich gerade mitzählte. Ich tat solche Dinge wenn ich nervös war. Minuten und Sekunden zählen, versuchen mir die Haltestellennamen einzuprägen, mir die Läden zu merken, die auf dem Weg lagen.

Doch das alles zögerte trotzdem nicht heraus, was mir bevorstand. Denn letztendlich trat ich in das mehrstöckige Gebäude ein. Es war.. Standard für diese Stadt, würde ich behaupten. In Los Angeles gab es Luxus, das stand außer Frage, aber der Großteil der Innenstadt bestand eben aus solchen Gebäuden. Der Anstrich bröckelte von den Wänden, das Treppengeländer rostete bereits, die meisten Türen konnten mit bloß einem Tritt geöffnet werden. Ich verstand selber nicht weshalb sich die Agentur in so einem Gebäude befand, allerdings gab es viele Firmen, die sich Wohnungen umbauten und sie so günstig nutzten. Es gab nicht viele feste Mitarbeiter, auch ich würde keiner sein. Mein Gehalt hing von meiner Arbeit ab. Für den Einstieg würde ich ein festes Gehalt beziehen, nach bereits zwei Wochen jedoch müsste ich Erfolge erzielen. Kein Verkauf, kein Geld. Man hatte mir gesagt, dass dies gute Bedingungen für eine solche Agentur waren.

Mein Kopf legte sich in den Nacken damit ich diese wunderschönen Buchstaben über der Tür lesen konnte. Volturi Press. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch. Doch plötzlich ging vor mir die Tür auf, ein Mann stürmte heraus, stieß mich beinahe um und rannte die Treppen runter. „Los, los, los! Sonst sind sie weg!", schrie ihm jemand aus der umfunktionierten Wohnung hinterher. Kurz darauf erschien ein Mann an der Tür. Er wirkte jung, hatte schwarzes, glattes, schulterlanges Haar. Sein Blick war kühl, emotionslos und er war mir von Anfang an unsympathisch. Besonders als er mich anlächelte. Es wirkte falsch, machte mir Angst. Dennoch erwiderte ich das Lächeln. Er war es.

„Sie müssen Isabella sein.", hauchte er in einer Gänsehaut auslösenden Stimme.

„Bella.", verbesserte ich ihn und hätte mich dafür direkt schlagen können. Dennoch streckte er seine Hand aus und ich schüttelte sie. Er war kühl, seine Haut fast durchsichtig, erschreckend hell für L.A.. Aber was redete ich da? Ich hatte selber eine ungesund helle Haut.

„Nun gut, Bella. Mein Name ist Aro. Bitte, komm rein." Seine schmale Hand deutete in die Wohnung und hätte ich meinen Instinkten vertraut, wäre ich gerannt. Doch ich tat es nicht. Ich lächelte tapfer weiter und betrat die Wohnung.

Sie war spärlich eingerichtet, ungewöhnlich geschnitten. Es gab einen Vorraum, an dem Empfang saß eine blonde Dame, die sich sofort erhob und mich grüßte. Heidi war ihr Name. Ein kleiner Flur führte in einen größeren Raum, von welchem noch eine Tür in ein anderes Zimmer führte. Der offene Raum bestand auf drei Schreibtischen aus dunklem, massivem Holz. Hinter ihnen saßen zwei Männer und eine Frau, allesamt hatten ihren Blick auf einen Computerbildschirm gerichtet. Nicht nur ein Bildschirm. Vor ihnen standen zwei fast riesige Apple-Bildschirme. Ich versuchte meine Verwirrung zu unterdrücken, immerhin sah die Agentur von außen beinahe heruntergekommen aus. Aro führte mich durch den Raum direkt zu dem anliegenden Zimmer – sein Büro.

„Setzen Sie sich, Bella." Die Art, wie mein Name von seinen Lippen rollte, widerte mich an. Und doch setzte ich mich. „Heute ist Ihr erster Tag bei uns. Wie fühlen Sie sich?", fragte Aro und faltete seine Hände auf dem Schreibtisch.

„Gut." Ich versuchte zumindest stark zu wirken. „Ich bin zuversichtlich und bereit mein Bestes zu geben."

„Sehr schön.", unterbrach mich Aro. Es interessierte ihn kein Stück wie es mir ging, so viel stand fest. „Sie haben Glück. Erst gestern haben wir einen unserer Fotografen verloren. Ich möchte, dass Sie ihn ersetzen. Seine Hauptaufgabe war es, einen der wichtigsten Männer dieses Landes abzulichten. Er ist ein CEO, er wird von vielen Bodyguards umschwärmt sein. Es ist eine harte Aufgabe, Sie müssen sich gegen viele Männer und auch Frauen durchsetzen, die diesen Beruf schon seit Jahren ausüben. Denken Sie, dass Sie der Aufgabe gewachsen sind?" Seine Miene war ernst, er hatte nichts übrig für Zweifel und Unsicherheit.

„Ich habe gelernt zu kämpfen.", versicherte ich ihm.

„Exzellent.", lachte er plötzlich auf und klatschte erfreut in die Hände. „Mir gefällt ihr Enthusiasmus. Kommen Sie. Heute werden Sie von einem weiteren Fotografen der Agentur begleitet. Auch er ist für Mr. Cullen zuständig. Er wird Sie in den nächsten Tagen begleiten." Aro erhob sich von seinem Stuhl, ich tat es ihm gleich und schon führte er mich zurück in den Arbeitsbereich. In dem befand sich dann plötzlich eine vierte Person.

Der Mann sah viel zu jung aus. Vielleicht in meinem Alter. Er hatte blondes, welliges – wenn nicht sogar lockiges – Haar, einen ernsten, distanzierten Gesichtsausdruck. Und dennoch wirkte er sympathisch. Automatisch schossen Fragen durch meinen Kopf: Wieso hatte er diesen Job gewählt? Wieso ging er nicht auf's College? Wieso das alles? Aber es ging mich nichts an. Ich hatte selber meine Last zu tragen. Ich verstand, dass es manchmal keinen anderen Ausweg gab.

„Bella, das ist Jasper, einer unserer besten Fotografen. Jasper, das ist Bella."

Ein kleines, charmantes Lächeln umspielte Jasper's Lippen als er mir die Hand reichte. Ich versuchte es zu erwidern, scheiterte wohl aber kläglich an dem 'charmant' und dennoch schüttelte ich seine Hand.

„Gut, jetzt wo alles geklärt ist: Husch, husch. Mr. Cullen wartet nicht auf Sie."

Es blieb keine Zeit zum Vorstellen, Smalltalk oder sonstiges. Jasper griff seine Kamera vom Schreibtisch, meine hatte ich in der Handtasche und dann ging er voraus – geradewegs aus der Wohnung, das Treppenhaus runter und auf die Straße. Direkt vor dem Gebäude stand ein schwarzer Audi A3, den Jasper zielstrebig ansteuerte. Er öffnete für mich die Beifahrertür, ich stieg dankend ein und wenige Sekunden darauf saß Jasper neben mir.

„Bist du bereit?", fragte Jasper und sah mich von der Seite mit einem kleinen Schmunzeln an.

„So bereit, wie ich es jemals sein werde.", murmelte ich und fischte aus meiner Handtasche die Spiegelreflex.

„Gut.", grinste er, startete den Motor und sauste davon.