Schattennacht
Die junge Frau erschauderte. Durch das Dickicht der dunklen Nadelbäume des finsteren Waldes, die im düsteren Zwielicht des sterbenden Tages, schattengleichen Riesen gleich, deren einzige Existenzberechtigung in der Vertreibung von Eindringlingen zu liegen schien, um das Wohlergehen ihrer Heimat zu sichern, die altehrwürdige Position jahrtausendealter Wächter übernahmen, kroch eine undurchdringliche Nebelwolke aus den Schatten der Äste hervor und an den meterbreiten Stämmen vorbei, die den engen Pfad an manchen Stellen unüberwindbar erschienen ließen, auf sie zu. Zögernd nahm sie einen kleinen Schritt der weißen Wand entgegen, dem gewundenen Schlangenpfad, dessen Spuren in der gefrorenen Erde beinahe unsichtbar waren, folgend, und bugsierte ihren ungesund unterernährten Körper durch den schmalen Spalt zweier Stämme eines riesigen Baumes, der ihren Weg versperrte.
Wie wilde Harpyien schlugen die tief hängenden Äste nach ihrem schmutzig weißen Kleid, hielten es mit eisernen Fingern gefangen und rissen es auseinander, bis sich die junge Frau, deren seidenweiße Haut mit zahllosen Schnittwunden und Kratzern überzogen war, aus den Fängen, die sie jedoch so lange aufzuhalten vermocht hatten, dass sie die erdrückende Nebelwand vollständig eingeschlossen hatte und ihren ängstlich suchenden Augen den Weg, den sie bereits zuvor wegen des wenigen Lichtes, das nur schwächlich durch die hohen Baumkronen gedrungen war, kaum ausmachen hatte können, verdeckten, befreien konnte.
Einen winzigen Augenblick schlossen sich ihre hasselnussbraunen Augen, während sich ihre schmalen, rubinroten Lippen für ein kurzes Stoßgebet öffneten, um sich selbst Kraft zu spenden, ihrem ihr hart gegen ihre Brust schlagendem Herzen, das sich trotz der schweren Last, die auf ihm lag, schneller bewegte denn je, und ihrer unregelmäßig schnellen Atmung Beruhigung vorzuspielen; doch weder das eine noch das andere vermochte sie zu bewirken, da sich ihre Angst schon zu weit in ihr Herz, das ihre Atmung bestimmte, gefressen hatte und nun seinen Schlag bestimmte, die Angst vor dem, was sie wusste, würde geschehen müssen.
Während sie ihre Augen wieder aufschlug, der Nebel sein weißes Gesicht intensivierte und die umliegenden Bäume in finstere Schemen verwandelte, die, hämisch grinsende Grimassen tragend, auf sie herabstarrten und mit eisernen Fingern nach ihr griffen, dass sie ängstlich zurückwich, mit den blanken, kalten Füßen in den breiten Wurzeln, die allenthalben den hartgefrorenen Erdboden durchbrochen hatten, um, wie es schien, ihre wunden Gelenke zu fesseln, hängen blieb und schließlich unsanft zu Boden fiel, hörte sie den unheilbringenden Ruf der tagaktiven Botin der Nacht, der sich zugleich in einen schrillen Schrei ohrenbetäubender Frequenz verwandelte und plötzlich einer menschlichen Stimme von unnatürlicher Schönheit glich, die vom fernen Nichts des Nebels zu klingen schien.
„Was willst du hier?"
Als sie die Laute vernahm, schien die Zeit für die junge Frau still zu stehen, denn die Stimme drang sanft in ihr bebendes Herz, erleuchtete ihr Wesen mit neuer Zuversicht, vertrieb die Furcht und vertrieb die schattenhaften Schemen der Bäume, deren hasserfüllten Grimassen nicht länger bedrohlich wirkten, den Nebel, der nicht länger undurchdringbar wirkte, den düsteren Wald, der nunmehr einen vergangenen Freund glich; doch während der letzte Widerhall der Worte in den Weiten des Waldes verhallte, zog sich auch ihre gewonnene Zuversicht aus ihrem Herzen und vervielfachte die Last auf ihrer Seele, da der Mut, in dem sie für wenige herrliche, unbeschwerte, in Sonnenschein getränkte Momente, in denen sie Trost gefunden hatte, eingetaucht war, mit der Stimme ein schwellendes Feuer erloschen war und nun die einsame Glut sich am Leben erhielt, die zwar ein neues Inferno entfachen konnte, die jedoch kein Holz des Anstoßes besaß. Das Verblassen dieser zutraulichen Stimme hatte bewirkt, was weder die weiße Nebelwand noch der düstere Wald hatte erreichen können: die junge Frau, erdrückt von ihrer Hoffnungslosigkeit, blieb inmitten der Bäume stehen und bewegte sich keinen Schritt mehr. Der Wald hatte schließlich seinen schwarzen Zauber gewirkt.
Wie ein kleiner, klarer, doch reißender und unaufhaltsamer Bergstrom aus dem Felsen seiner Quelle, quollen die Furcht vor dem Kommenden, die Unerfüllbarkeit ihrer Aufgabe und die Last ihres Herzens unwiderruflich und unaufhaltsam hervor, brach als flüssige Diamanten aus ihren hasselnussbraunen Augen hervor, die von ihren Wimpern perlten, ihre von der bitterlichen Kälte blutroten Wangen hinab liefen und von ihrer Nasenspitze tropften, ihre rubinroten Lippen benetzten und schließlich, eine salzige Spur hinterlassend, aus den gefroren Boden schlugen, wo sie in hunderte kleinerer Diamanten zerplatzten, die sich in einem einzelnen Strahl der untergehenden Sonne, der sich seinen einsamen Weg durch die höchsten Äste des Waldes gebahnt hatte, um den düsteren Pfad zu erleuchten, bläulich spiegelten.
„Keine Angst", versuchte sie die männliche Stimme zu beruhigen, und klang dabei in ihrer Sanftheit beinahe menschlich, sodass die junge Frau neue Zuversicht schöpfte. „Ich werde dir nichts tun. Ich bin nur neugierig, wer es wagt, so tief in meinen Wald vorzudringen. Sag, was du hier verloren hast, und ich werde dich entweder passieren lassen, oder dich aber sicheren Fußes in dein Dorf zurück begleiten."
Das Herz der jungen Frau, das während der Abwesenheit der Stimme, die ihr seltsam vertraut erschien und ihr die Angst vor dem düsteren Wald nahm, in ihrem Hals geschlagen war, wich langsam zurück auf seinen rechten Platz und ihrer Tränen versiegten, als ob die Felsenquelle der Furcht durch die scheinbare Anwesenheit einer zweiten Person geschlossen worden wäre. Sie versuchte, dem Mann zu antworten, ja, sie verspürte sogar den Drang, ihm zu antworten, nur um seine Stimme ein weiteres Mal zu vernehmen, doch als sie ihren Mund öffnete, der nur mehr ein Werkzeug ihres vor unverständlicher Aufregung flatterndes Herzens war, entwich ihrem Mund nur ein lautloses Flüstern, das eine kleine Wolke ihres Atmens in die Luft zauberte. Einen Moment zögerte die junge Frau, als sie das Wölkchen betrachtete, das, vom Sonnenstrahl erleuchtet, hoch in die Luft stieg, sich dort mit dem Nebel vereinte und schließlich in seine unsichtbare Existenz entschwebte.
„Ich, ich komme, um, um meine, unsere Schuld mit dem, mit dem Zauberer zu begleichen", murmelte die junge Frau in das weiße Nichts hinein, während sie erstaunt und erschreckt zugleich die Augen aufriss, als ein zweiter, dritter und vierter Sonnenstrahl, einer unsichtbaren, unscheinbaren Fügung gleich, wie von Zauberhand durch die Nebelwand brachen, sich zum ersten und schönsten Strahl gesellten und mit ihm den gewunden Pfad von Neuem erleuchteten. Vorsichtig, doch von Neugier getrieben, ging sie den Weg entlang, durchbrach den Nebel wie zuvor die Sonnenstrahlen und wurde magisch vom Anblick, der auf der anderen Seite des Nebelwand auf sie wartete, angezogen.
Wie ein kleines Bächlein, das einen wunderschönen, in den sterbenden Strahlen der untergehenden Sonne bezaubernd rötlich schimmernden, tausendfachen Tod starb, wenn es in den sich aus ihm speisenden See floss, so mündete der Pfad, gesäumt von ihn beschützenden, laublosen Eichen zu beiden Seiten, an das Ufer eines im Licht der Abendsonne rot glänzender See, dessen Oberfläche, auf der kleine Wellen schlugen, trotz der winterlichen Kälte noch nicht zugefroren war; nur wenige Meter vom wenig betretenen Weg entfernt, doch direkt an den Gestaden des Sees, thronte erhaben ein kleines, wenngleich mächtiges Steinhaus mit einem ebengleich steinernen Schornstein, aus dem weißer Rauch quoll, und kleinen Fenstern, die in den allerletzten Strahlen der hinter den Baumkronen des fernen Ufers verschwindenden Sonne hell erstrahlten.
Während sich die junge Frau der schweren Holztüre des bezaubernd gelegenen Hauses näherte, vergaß sie vor Verwunderung und Erstaunen ihre Furcht und klopfte schließlich ohne Zögern sanft an das Eichenholz, das, als ob es auf die Berührung ihrer schlanken Finger gewartet hätte, für sie nach innen aufschlug und ihr den Blick in das Innere des Hauses darbot: beide Seiten der Steinwände, die zu einem einfachen, doch mehr als ausreichend Wärme gegen die winterliche Kälte spendenden, steinernen Kamin, in dem knisternde Holzscheite in einem lodernden Feuer beinahe rauchlos verbrannten, führten, wurden von zahlreichen, hölzernen Regalen, auf denen obskure Gegenstände, von verschlungenen Wurzelknoten bis hin zu beschriebenen Behältern voller Flüssigkeiten, die sie, da sie nicht lesen konnte, nicht zu identifizieren vermochte, geziert. Zwei weitere, offenstehende Holztüren führten von diesem Hauptraum in eine Küche, wie sie aufgrund des steinernen Feuerplatzes vermutete, und einen Schlafraum, dessen großes Fenster, von dem der Bewohner des Hauses den gesamten See überblicken konnte, das gemütliche Strohbett mit Licht flutete.
„Wenn du einen Zauberer sprechen willst, kann ich dir nicht helfen", ertönte dieselbe raue, tiefe Stimme, die der jungen Frau bereits in den Tiefen des düsteren Waldes die Angst vor dem Bevorstehenden genommen hatte, und riss sie aus ihrer Betrachtung des komfortablen Hauses. „Wenn du allerdings mit mir sprechen willst, dann komm herein und schließe die Türe hinter dir; es wird langsam kalt."
Erst jetzt bemerkte die junge Frau den einfachen, hölzernen Tisch in der Mitte des Wohnraumes, an dem ein junger Mann mit rabenschwarzem Haar auf einem ebenso einfachen Holzstuhl saß, seinen Gast, ohne auch nur ein einziges Mal seinen konzentrierten Blick von der Schriftrolle, deren ähnliche die raue Oberfläche verdeckten, zu nehmen, zu sich winkend. Da die junge Frau ihm aber weder antwortete noch seiner Einladung folgte, sondern lediglich stumm auf der Türschwelle verharrte, blickte der schwarzhaarige Mann von seiner Beschäftigung auf und betrachtete die Frau erstaunt.
Weder die offensichtliche Vernachlässigung durch ihre Familie, die sie wohl aufgrund der Armut des Dorfes, in dem sie lebte, oder des Winters erlitten haben musste, und ihre daraus resultierende Unterernährung noch ihr zerrissenes, schmutzig weißes, von dünnen Trägern gehaltenes, schulterfreies Kleid, das ihre seidenweiße Haut an vielen Stellen nur unzureichend und ihre Knie nur knapp verdeckte, noch ihre von Schnittwunden verunstalteten Unterarme noch ihr schmutziges Gesicht und ihre verschmutzten, kinnlangen, blauschwarzen Haare vermochten, die unvergleichbare Eleganz und verborgene Schönheit der jungen Frau zu mindern, deren hasselnussbraunen Augen unruhig auf seinen azurblauen Augen und ihr einen unnatürlichen Glanz verliehen. Sein unter einem wärmenden roten Hemd verborgenes Herz schlug schneller, als sie ihre Augen schüchtern niederschlug.
Auch die junge Frau betrachtete den Zauberer einige Momente interessiert, bevor sie ihren Blick auf den hölzernen Boden senkte. Seine mittellangen, schwarzen Haare, sein markantes Gesicht, das von kurzen Bartstoppeln bedeckt war, seine harten, doch bezaubernd blauen Augen, seine sich unter dem dicken Hemd abzeichnenden Muskeln, seine raue, tiefe Stimme, all das gab dem Bewohner des Hauses trotz seines jungen Alters eine unverwechselbar männliche Art, die sie, da es in ihrem Dorf keinen annähernd ihrem Alter entsprechenden Mann gab, für den sie sich interessierte, magisch anzog.
„Du musst frieren, du hast ja kaum etwas an! Komm rein, hier ist es warm", bot er ihr freundlich an.
„Danke, Herr, aber mir ist nicht kalt", flüsterte die junge Frau mit zitternder Stimme, während sie sich ihre Hände rieb und kleine Atemwölkchen aus ihrem Mund an die Kalte Luft drangen, nicht bemerkend, dass sich die Augen des Mannes für wenige Sekunden verdunkelten, bevor er resignierend aufstand, zu ihr trat, ihre kalten Hände in seine nahm und die zögernde Frau kopfschüttelnd und mit sanfter Gewalt zu einem Stuhl nahe des Feuers bugsierte, auf dem sie sich schließlich niederließ, nachdem er die Türe geschlossen hatte.
„Welche Geschichte ist es dieses Mal?", fragte er traurig, zog seinen eigenen Stuhl zu ihrem und setzte sich darauf. „Wirst du verzaubert, sobald du meine Türschwelle überquerst oder verwandle ich mich in einen Wolf und zerreiße dich, wenn du zu lange in meinem Haus verweilst?"
„Beides, Herr", murmelte die junge Frau lautlos und versuchte die Tränen, die sich in ihren Wimpern sammelten, hinfort zu blinzeln, als sie vom plötzlichen, tonlosen, bellenden Lachen des Mannes neben ihr erschreckt wurde, das nach wenigen Sekunden wieder erstarb.
„Ich bin nicht dein Herr, also nenne mich nicht so", lächelte er ihr zu und streckte seine Hände dem warmen Feuer entgegen, in das er so intensiv starrte, dass er die Anwesenheit der jungen Frau beinahe vergessen zu haben schien. „Ich bin Ranma, Ranma Saotome, und wer bist du?"
Die junge Frau versuchte, ihm zu antworten, doch gelang es ihr nicht; sie hatte alles in diesem Haus erwartet, das Grauen persönlich war ihr von ihren Eltern und Freunden geschildert worden, ja, sie hatte sogar erwartet, hier sterben zu müssen, und all das hätte das Folgende einfach gemacht, doch der junge Mann war freundlich zu ihr, behandelte sie wie eine gleichrangige Person. Langsam perlten die Tränen ihre Wangen hinab, kitzelten ihre samtene Haut und fielen wie weiße Schneeflocken, die der Winter mit sich bringen würde, auf den hölzernen Boden. Bevor sie wusste, was sie tat, fiel sie in die Arme des Zauberers und weinte an seiner Schulter, weinte die Angst aus ihrem Herzen, weinte um ihr Schicksal, weinte, weil es ihr neue Kraft gab, während der junge Mann sie stumm hielt, weinte sich die Wut von ihrer Seele, die Wut auf sich selbst, die Wut auf die Freundlichkeit ihres Gastgebers, die Wut auf ihre Eltern, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
„Alles in Ordnung mit dir?", fragte Ranma vorsichtig, als er sie an seiner Schulter schluchzen, aber nicht mehr weinen spürte.
„Ja, Herr", murmelte sie und blickte kurz zu ihm auf, bevor sie von ihm unterbrochen wurde.
„Ranma!", meinte er streng und lächelte ihr sanft zu.
„Ranma", wiederholte sie mit einem zittrigen Lächeln, das ihre Züge erhellte und sie noch schöner aussehen ließ. „Es, es tut mir Leid, ich, ich wollte nicht, ich meine, ich habe erwartet, aber, ich weiß nicht."
„Ganz ruhig, sonst verstehe ich nichts", sagte der junge Mann und erinnerte sie damit daran, dass er nicht wusste, wer sie war oder warum sie überhaupt zu ihm gekommen war. „Warum fängst du nicht damit an, mir zu sagen, wer du bist und warum du hier bist? Dann kann ich vielleicht verstehen, was du meinst!"
„Ich bin Akane Tendo", erzählte die junge Frau nach einigen Momenten der Ruhe, in denen sie ihre Tränen getrocknet, sich aus seinen Armen befreit und ihre Atmung beruhigt hatte. „Ich bin hier, um eine Schuld zu begleichen, die meine Eltern vor einem Jahr bei dir aufgenommen haben."
Ohne ihr mit einem Wort zu antworten, stand der schwarzhaarige Mann von seinem Stuhl auf, ging auf eines seiner Regale zu, blieb vor ihm stehen, seinem Gast den Rücken zudrehend, und nahm eine alte Schriftrolle von ihm, bevor er ihr schweigend bedeutete, einen Moment innezuhalten, damit er die Schriftzeichen in Ruhe studieren konnte. Schließlich drehte er sich wieder zu ihr um, nahm die Schriftrolle mit zu seinem Stuhl und setzte sich ihr wieder gegenüber.
„Tendo?", fragte er mit einem Seitenblick auf die Schriftrolle. „Ich habe auf Bitten deiner Eltern eure Ernte vor einem wütenden Eber gerettet, nicht wahr? Ist das schon ein Jahr her? Die Zeit vergeht schnell."
„Ja", antwortete sie ihm mit einem gequälten Lächeln. „Und ich bin nun hier, um die Schuld zu begleichen. Die Ernte dieses Jahr war schlecht, und wir sind arm. Wir können dich nicht bezahlen, also bin ich hier, weil mich meine Eltern geschickt haben."
„Genug!", herrschte er sie an, warf die Schriftrolle zur Überraschung der jungen Frau in das Feuer und blickte ihr streng in die Augen. „Die Schuld ist beglichen. Geh jetzt zu deinen Eltern und sag ihnen das."
„Aber wie?", fragte die erstaunte Frau zögerlich, stand aber dennoch, seinem Wunsch folgend, auf. „Ich habe doch gar nichts gemacht!"
„Du hast heute mehr gemacht als man von dir erwarten darf", antwortete er ihr sanft, während er sie nachdenklich zur Türe geleitete. „Nicht viele wagen es, durch meinen Wald zu wandern, nicht viele wagen es, in mein Haus zu treten und mit mir zu sprechen, nicht viele würden auf Geheiß ihrer Eltern ihre Unschuld opfern. Ich belohne Mut, und du hast heute mehr Mut gezeigt als viele Menschen in ihrem gesamten Leben aufbringen. Die Schuld ist beglichen, geh!"
Als der junge Mann die schwere Holztüre, die den Blick auf den ihr freundlich gesinnten Wald, der ihr jedoch im Dunkel der Nacht, die während ihres Gespräches hereingebrochen war, einen Schauder über ihren spärlich bedeckten Rücken laufen ließ, mit einem lässigen Schlenker seines linken Handgelenkes aufstieß, um seinen Gast hinauszubegleiten, bemerkte er, wie die junge Frau einen kleinen Augenblick zögerte, bevor sie über die Türschwelle trat, und sich schließlich noch einmal zu ihm umdrehte. Lächelnd schloss er seine azurblauen Augen und bedeutete ihr mit seiner erhobenen linken Hand, noch nicht zu gehen, sondern auf ihn zu warten. Mit schnellen Schritten verschwand er in seinem Haus, bevor er mit einem schlichten, weißen Umhang zurückkehrte.
„Hier, nimm den", meinte er und legte ihr den wärmenden Umhang vorsichtig über die Schulter. „Und hab keine Angst vor dem Wald. Alle Tiere, die in ihm leben, sind meine Freunde, sie werden sich dir nicht einmal zeigen."
„Ich bin, ich, du, ich kann das nicht annehmen", flüsterte die junge Frau und griff nach dem Umhang, um ihn seinem Besitzer zurückzugeben, als sie seine starke Hand auf ihrer Schulter spürte; unbemerkt von der jungen Frau schlich sich in diesem Moment neben dem wundervollen Gefühl der Erleichterung, das sich in ihrem Herzen ausgebreitet hatte und die große Last, die es getragen hatte, Stück für Stück wie einen großen Stein, der von einem hervorragenden Steinmetz perfekt bearbeitet wird, zerschlug, und der unaussprechlichen Dankbarkeit für seine Taten, ein ihr unbekanntes Kribbeln in ihren Bauch, das ihre Lippen zu einem verlegenen Lächeln verleitete und ihre Wangen mit einem zarten Rot anhauchte.
„Keine Widerrede", mahnte er sie heiter und lächelte ihr ebenso zu. „Es ist bitterkalt und du hast noch ein ganzes Stück zu laufen. Versprich mir nur, dass du ihn nicht verlierst, denn er gehört meiner Mutter."
„Ja", nickte Akane dankbar, schlang sich den Umhang fest um ihren schlanken Körper, um sich vor der winterlichen Kälte zu schützen und fügte nach einer kurzen Pause verlegen an: „Im Dorf werden die schrecklichsten Geschichten über dich erzählt. Du wirst als Monster dargestellt, und dabei bist du so normal und sogar freundlicher als alle anderen! Ich werde es allen erzählen!"
„Tue das nicht", glaubte sie seine wunderschöne Stimme traurig über das Knarren der langsam zwischen sich und ihn fallenden Holztüre flüstern zu hören, die seine Züge, bevor sie diese gänzlich vor ihren Blicken versteckte, in tiefe Schatten warf. „Du würdest dich damit nur selbst ausstoßen, denn sie würden dir keinen Glauben schenken."
Nachdem die Türe in das Schloss gefallen war, drehte sich der schwarzhaarige Mann hastig um und versuchte, seine unregelmäßige Atmung zu beruhigen, da die längst akzeptierte Bitterkeit über den Ausschluss aus dem Dorf plötzlich von Neuem Einzug in sein Herz zu bekommen suchte, um dort dunkle Schatten zu werfen, wie sie an den Wänden seines Steinhauses im flackernden Licht des Feuers tanzten, die sich von seinem Hass nährten; doch nicht seine eiserne Selbstkontrolle verbannte die Bitterkeit aus seinem Herzen, sondern das Bild, das er vor seinem inneren Auge sah, als er seine Augen schloss, um seine Konzentration zu festigen: das schüchterne Lächeln der jungen Frau, deren Wangen im Feuerlicht so rötlich schimmerten wie ihre rubinroten Lippen.
Wie ein phantastisches Biest aus seinem tausendjährigen Schlaf, erwachte ein verwirrendes, ihm unbekanntes Gefühl der Zuneigung und des Vertrauens in seiner Brust, und suchte ihn in seinen Träumen heim, die allesamt das seidenweiße Gesicht einer verlegenen, jungen Frau annahmen, bis er inmitten der Nacht schweißgebadet und ruckartig aus seinem Schlaf erwachte, das Bettlaken fest umschlungen haltend, und sich sehnlich den Morgen herbeiwünschte, um dem Reich der Träume für kurze Zeit entgehen zu können, bevor er sich seinem Wunsch und seiner Furcht stellen musste.
„Warum habe ich sie nur gehen lassen?", murmelte er verschlafen in die Dunkelheit seines Hauses hinein, ohne eine Antwort auf seine Frage zu erwarten, doch aus den Tiefen seines Seins drang Woge um Woge der Erkenntnis, nach der er nie hatte suchen müssen, da sie sich bereits in ihm befunden hatte, wie die hoch aufschlagenden, schäumenden Wellen eines unruhigen Meeres, das ein fern von den sicheren Ufern wütender Sturm aufgewirbelt hatte, der jedoch auch das Ufer nicht unberührt lassen würde. „Weil sie nicht wegen mir hier gewesen ist."
Spät am nächsten Tag erwachte der junge Mann aus seinen unruhigen Träumen und versuchte, sich mit den üblichen Aufgaben des Tages von ihren Bedeutungen abzulenken, doch spielte er stets mit dem Gedanken, im Dorf seine Vorräte aufzustocken, ein Gedanke, der ihn wieder zum Nachdenken brachte. Als sich die Wogen seines Herzens schließlich geglättet hatten und er das Mittagessen vorbereitete, spürte er mit Entsetzen ein mächtiges Feuer, das durch seinen Wald schritt, dort aber kein einziges Blatt verbrannte; erst nach wenigen Momenten erkannte er, dass das Feuer nichts als die Projektion seines Herzens auf die junge Frau war, die sich auf dem Weg zu ihm befand, und obgleich es vor Aufregung jubelte, zwang sich der schwarzhaarige Mann, bei der Feuerstelle zu warten.
„Komm herein", bat er freundlich und ließ die Türe mit einem Schlenker seines rechten Handgelenks aufgehen, als die junge Frau ihre Hand traurig und erschöpft zu einem Klopfen erhoben hatte. „Was führt dich wieder hierher?"
Ohne über die Öffnung der Türe erstaunt zu sein und ohne zu zögern, übertrat die junge Frau die Türschwelle des Hauses des Zauberers, nahm den wärmenden, grauen Reiseumhang, den sie von ihm geliehen hatte, von ihren schwachen Schultern, die nun nur noch von einem schmutzigen, braunen Hemd bedeckt waren, das ihr bis zu den Knien reichte und ihren von Löchern durchfressenen, ebengleich braunen Rock zu Teilen verbarg, legte ihn über den am knisternden Feuer stehenden Stuhl und blickte ihn mit ihren hasselnussbraunen Augen traurig an. Dann, einem unsichtbaren Zeichen folgend, brach mit einem Mal der Damm in ihrem Herzen, der das Wasser des Acheron gespeichert hatte, und ließ ihre Worte aus ihrem Mund sprudeln.
„Die ganze Nacht habe ich versucht, die Bewohner des Dorfes davon zu überzeugen, dass du ein guter Mensch bist", erzählte sie aufgeregt, während Ranma sich still dem Eintopf widmete, der über dem offenen Feuer zu kochen begann. „Ich habe ihnen erzählt, was du für mich getan hast, aber sie wollten mir nicht zuhören! Ich habe an jede Türe geklopft, doch niemand wollte mir Gehör schenken! Sie meinten, ich wäre von dir verzaubert worden und meine Familie ist so weit gegangen, mich wieder hierhin zu schicken, um dich zu bitten, den Zauber von mir zu nehmen! Sie wollen mich einfach nicht verstehen! Sag, hörst du eigentlich zu?"
„Natürlich, Akane", lächelte er ihr gequält zu, doch schwieg weiter, bis er einen Teil des dampfenden Eintopfes in zwei weiße Schüsseln gefüllt hatte, die er schließlich auf den kleinen Tisch der Küche stellte, bevor er zwei Löffel neben die Schüsseln legte, und der jungen Frau bedeutete, zu ihm zu kommen. „Danke, Akane. Ich weiß es zu schätzen, dass du dich für mich eingesetzt hast, aber ich habe dir bereits gesagt, dass es keinen Nutzen hat. Der Glaube der Dorfbewohner ist stärker als dein Wort. Aber du bist nicht nur gekommen, um mir das zu berichten, nicht wahr? Warum erzählst du mir nicht, warum du noch hier bist, während wir essen?"
„Essen?", fragte Akane neugierig, als sie die Küche betreten hatte und ihr der würzige Geruch des Eintopfes entgegenschlug.
„Ja, essen", wiederholte der schwarzhaarige Mann lächelnd und deutete auf einen der beiden Stühle, während er selbst auf dem gegenüberliegenden Stuhl Platz nahm. „Ich glaube, eine gute Speise würde dir gut tun; du hast selbst gesagt, die Ernte war schlecht und wenn ich mich Recht erinnere, müssen deine Eltern noch zwei weitere Kinder ernähren."
Die junge Frau nickte dankbar und wartete geduldig, wie es der Brauch verlangte, bis der Gastgeber den ersten Bissen seines Eintopfes probiert hatte, um sicherzugehen, dass er keine giftigen wilden Kräuter enthielt, bevor sie sich die herzhafte Mahlzeit schmecken ließ. Schweigend, ihren eigenen Gedanken nachhängend, aßen die beiden jungen Erwachsenen ihre Speisen, und setzten das unterbrochene Gespräch erst nach einem Nachschlag, den Akane höflich ablehnte, während ihr Magen hungrig knurrte, sodass Ranma lauthals zu lachen begann.
„So, warum bist du nun wirklich hier?", fragte er mit verschränkten Armen, nachdem sie die Mahlzeit beendet hatten und er das Geschirr neben dem Feuerplatz abgelegt hatte, auf dem der restliche Eintopf nun langsam abkühlte. „Sicherlich wolltest du mir nicht nur erzählen, dass mir die Menschen im Dorf keinen Glauben schenken."
„Nein", schüttelte die junge Frau ihren hübschen Kopf. „Ich wollte dir deinen Umhang zurückbringen und mich dafür bedanken, dass du ihn mir geliehen hast."
„Und?", hakte der junge Mann beharrlich nach, während Akane den Kopf verlegen senkte.
„Und", hauchte sie nervös, unsicher, ob sie mit ihrer nächsten Frage nicht zu weit ging. „Und ich wollte fragen, ob, nun ja, du hast gemeint, dass du kein Zauberer bist, aber wie hast du dann die Türe aufgemacht oder gewusst, dass ich komme oder mir diese Frage im Wald gestellt? Wie kannst du das machen, wenn du kein Zauberer bist?"
„Hm, eine schwierige Frage. Bist du sicher, dass du eine Antwort möchtest?", fragte der schwarzhaarige Mann nachdenklich, während er tief ausatmete und seinen konzentrierten Blick auf die zögerlich nickende, doch schweigende, junge Frau legte, ohne sie wirklich anzusehen. „Nun gut, wie soll ich deine Frage beantworten? Jedes Lebewesen, egal ob Mensch, Tier oder Pflanze, hat eine Aura, die es umgibt. Die meisten Menschen sind sich dieser Aura nicht bewusst, obwohl sie diese mit dem richtigen Training für ihre Zwecke benutzen können. Hm, ich weiß wirklich nicht, wie ich dir das erklären soll, aber vielleicht kannst du deine Aura mit deiner Seele vergleichen oder mit deinem Geist, der mit dir zusammenarbeitet, der dir zeigt, wenn jemand lügt, der Gegenstände bewegen kann, die außerhalb deiner Reichweite liegen, der sogar mit Tieren kommunizieren kann, wenn du nur weißt, wie. Das, was ihr von mir seht, ist keine Zauberei, es ist meine Aura, aber die Dorfbewohner verstehen das nicht, also halten sie mich für einen Zauberer! Ich könnte beispielsweiße dir beibringen, deine Aura zu benutzen, und sie würden es nicht verstehen, sondern behaupten, ich hätte dich verzaubert!"
„Du, du könntest mir beibringen, meine, meine Aura zu benutzen, dass ich so werde, so wie du?", fragte Akane nach einer kurzen Pause erschrocken.
„Natürlich!", meinte der Jungspund stolz. „Ich könnte jedem der Dorfbewohner beibringen, seine Aura zu verwenden, aber sie würden es nicht wollen. Deshalb lebe ich auch hier und nicht im Dorf."
„Aber, ich meine, wenn du könntest, würdest du, ich meine, du musst nicht, aber könntest du mir beibringen, wie man seine Aura verwendet?", fragte sie vorsichtig.
„Wenn du das möchtest", murmelte der junge Mann nachdenklich, während er sie eindringlich betrachtete.
