Kapitel 1: Einzug ins Wohnheim

„Anne, Spaß beiseite, ist das alles, was du mitgebracht hat?" fragte Mary ihre ältere Schwester und hob die Augenbrauen angesichts des kleinen Stapels von Reisetaschen auf dem Fußboden.

„Ja", sagte eine Stimme, die hinter einem Berg von Büchern hervordrang. Die achtzehnjährige Anne Elliot sah gerade ihre Sachen durch und versuchte in dem Chaos in ihrem neuen Zimmer im College-Wohnheim Ordnung zu schaffen. Sie richtete sich auf und zog ihr langes dunkles Haar nach hinten, das von der Hitze leider etwas kraus geworden war.

„Wenn ich aufs College gehe, bringe ich mehr Kleidung mit als du", sagte Mary, während sie an ihren manikürten Fingernägeln nagte. „Jesus, ist das heiß hier drin! Kannst du nicht ein Zimmer mit Aircondition oder so was bekommen?"

Anne verdrehte die Augen. Sie bedauerte mittlerweile, dass sie Mary zu ihrem Einzugstag ins College eingeladen hatte. Ihre Schwester hatte zwar genug Energie, um sich zu beklagen, konnte aber nicht wirklich die Kraft aufbringen, aufzustehen und ihr zu helfen. „Mary", sagte sie, „alle Erstsemester müssen in diesen Wohnheimen wohnen. Sie sind Tradition."

„Sie sind alt", korrigierte Mary.

„Es wird bald kühl sein", sagte Anne, stellte einen Tischventilator auf die Fensterbank und schloss ihn an die Steckdose an. „Zumindest hoffe ich es ..."

„Wenn ich in mein Ivy League (*1) Wohnheim ziehe, werde ich etwas für eine Klimaanlage springen lassen."

Anne war versucht, bei der Vorstellung einer Hochschulausbildung ihrer Schwester zu lachen, aber sie ließ es sein. Obwohl der Gedanke lächerlich erschien, dass Mary auf eins dieser Colleges gehen würde, wusste Anne, dass das Elliot Familienerbe wohl ihre Aufnahme sicherstellen würde. Seltsame Art von Vetternwirtschaft.

Von der Tür her erklang eine helle Stimme. „Hallo? Jemand zu Hause?"

Anne drehte sich um und sah ein sehr hübsches Mädchen. Sie erinnerte Anne an ein Model aus einem Versandhauskatalog. Ihr Haar war rotblond, völlig glatt und auf wundersame Weise glänzend (trotz der Luftfeuchtigkeit). Sie verströmte eine Atmosphäre von Lieblichkeit, die Anne fast misstrauisch werden ließ.

„Hi", sagte Anne etwas kleinlauter, als sie es gern gehabt hätte. „Ich bin Anne. Du musst Lisa sein."

Anne streckte ihre Hand aus, aber Lisa schritt einfach munter auf sie zu und umarmte ihre neue Mitbewohnerin begeistert. Mary grinste von ihrem Platz auf dem Bett aus zu der linkischen Vorführung.

„Ich bin so froh, dich endlich kennenzulernen!" sagte Lisa, als sie die Umarmung beendete. „Du klangst so nett am Telefon." Anne bemerkte einen leichten Südstaaten-Akzent.

„Gleichfalls", sagte Anne lächelnd. Sie blickte unsicher auf ihre kurzen Sporthosen und das alte Feldhockey-Shirt. „Sorry, ich bin irgendwie krass. Ich bin gerade eingezogen."

Lisa lachte. „Keine Sorge! Meine Güte, bist du auch so aufgeregt? College!" Sie ließ sich auf ihr Bett plumpsen.

„Oh, Lisa!" Anne deutete auf Mary. „Das ist meine Schwester Mary. Sie ist ein High School Senior." (*2)

„Oh! Welche High School?"

„Kellynch Academy in New York", sagte Mary und knallte mit ihrem Kaugummi.

„Wow!" sagte Lisa. „Das hört sich gut an! Ich bin in Texas zur Schule gegangen."

Mary setzte ihr infames falsches Lächeln auf. „Vermisst du denn die Farm?"

„Lisa!" Anne griff ein, bevor Mary noch so etwas Überhebliches sagen konnte. „Kann ich dir helfen, ein paar Taschen raufzutragen?" Anne war aufgefallen, dass Lisa ohne ihre Sachen heraufgekommen war.

Lisa grinste. „Mach dir keine Sorgen, Schätzchen. Die werden in Kürze oben sein."

„Hast du ein Umzugsunternehmen beauftragt?" fragte Mary. „Das hätte Anne auch tun sollen." Sie starrte ihre Schwester an.

„Nein, meine Liebe", sagte Lisa mit einem Funkeln in den Augen. „Ich hab einfach ein paar Jungs von unten gefragt, ob sie so nett wären, mir zu helfen. Die Leute sind hier so freundlich!"

Anne lachte. Sie konnte nicht umhin, das zu bewundern. Sie kniete sich vor ihre Sachen und begann wieder mit dem Auspacken.

Nach einiger Zeit klopfte es leise an der offenen Tür und zwei Jungs kamen herein, die das trugen, was Anne für Lisas Habseligkeiten hielt. „Hallo?" rief der erste.

„Oh, hallo-o", sagte Lisa gedehnt und stand auf, um sie zu begrüßen. „Ihr könnt sie dahin stellen, Jungs." Sie zeigte auf den Fußboden neben ihrem Schrank. „Danke", sang sie laut mit süßer Stimme.

Der erste Junge stellte die Koffer ab und trat beiseite. Hinter ihm war noch ein größerer, der versuchte, die drei Schachteln abzulegen, mit denen er balancierte.

„Lass mich dir dabei helfen", sagte Anne und eilte nach vorn. Sie packte die oberste Kiste, die sein Gesicht verdeckte. Als sie das tat, sah sie ihn flüchtig, stieß einen kurzen Schrei aus und fiel in einer eher wenig graziösen Weise zu Boden, wobei sie sowohl den Jungen als auch die Schachteln mitriss.

„Oh mein Gott, Anne, bist du okay?" Lisa eilte zu ihr hinüber, um ihr aufzuhelfen.

Annes Augen waren auf die Person vor ihr fixiert. Sie sah all die vertrauten Merkmale, an die sie sich erinnerte: seine dunklen Augen und Haare, sein Gesichtsausdruck, sein Kinn ... alles. „Sorry –" gelang es Anne zu stottern. Aus dem Augenwinkel bekam sie mit, dass ihre Schwester mit ihrem Handy am Ohr aus dem Zimmer spazierte, zweifellos von anderen Dingen abgelenkt. „Ich bin wirklich ungeschickt." Sie täuschte ein Lächeln vor und warf noch schnell einen verstohlenen Blick auf ihn, nur um sicherzustellen, dass es tatsächlich er war.

Er war es.

Sie setzte gerade an, etwas sagen, als der erste Junge, den Anne bis zu diesem Zeitpunkt nicht beachtet hatte, den Mund aufmachte. Er schien schüchtern zu sein, aber seine etwas langen kastanienbraunen Haare und seine feinen Gesichtszüge gaben ihm ein freundliches Aussehen.

„Hi, ich bin Ben", sagte er. „Dieser Kerl, der all den Ärger verursacht, ist mein Mitbewohner Rick."

„Freut mich, euch beide kennenzulernen." Rick nickte und schüttelte ihre Hände.

War das sein Ernst? dachte Anne, als sie ebenfalls nickte. Sie schien oberflächlich gefasst, aber vor lauter Nervosität drehte sich ihr der Magen um.

„Das hier ist meine Mitbewohnerin, Anne – warte, wie war doch wieder dein Nachname?" fragte Lisa.

„Elliot", sagte Anne und schaute Rick direkt an. „Anne Elliot."

Die vier standen betreten schweigend da, obwohl nur zwei den komplizierten Grund dafür wirklich erkennen konnten.

„Na, ich glaube, wir sollten wieder gehen", sagte Rick langsam.

„Danke, dass ihr meine Taschen raufgebracht habt!" Lisa folgte ihnen, als sie hinaus gingen. „Lasst uns alle bald mal zusammen abhängen, okay?" rief sie ihnen im Flur hinterher.

Sie drehte sich wieder zu Anne um. „Wow", sagte sie. „Wie schnucklig die waren. Ich liebe das College! Hast du seine Augen gesehen?"

„Wessen Augen?" fragte Anne und versuchte auszupacken und wieder zur Normalität zurückzukehren.

„Die von Rick!" sang Lisa schmachtend. „Ich habe gehört, dass er hier in der Navy ROTC ist. Kannst du dir vorstellen, ihn in Uniform zu sehen ..." (*3)

„Würdest du mich bitte entschuldigen?" fragte Anne höflich.

„Sicher, Schatz."

Anne ging ruhig den Flur entlang zu ihrem neuen Bad, trat in eine Kabine, beugte sich über die Toilette und übergab sich. So hatte sich Anne ihren ersten Tag am College nicht vorgestellt.


(*1) Bezeichnung für eine Gruppe von acht Elite-Universitäten im Nordosten der USA.

(*2) Zwölftklässler

(*3) Das Reserve Officer Training Corps (ROTC) ist ein Ausbildungsprogramm der US-Streitkräfte an Colleges und Universitäten zur Rekrutierung und Ausbildung von Offizieren. Ein Militärstipendium ist für Studenten aus einkommensschwachen Familien eine Chance, ein Studium zu finanzieren.