He not busy being born is busy dying.
(Bob Dylan)
Harry Potter war ein gewöhnlicher Mann. Er hatte eine Frau, zwei Kinder, wohnte in London und trank jeden Morgen eine Tasse Kaffee mit Milch. Wenn man ihn ansah, fielen zuerst die leuchtenden, grünen Augen auf. Es waren nicht unbedingt die Form oder die Farbe die so sehr hervorstachen, nein. Es war die Tatsache, dass man sofort merkte, dass diese Augen zuviel gesehen hatten. Diese Augen hatten den Tod seiner Mutter gesehen. Diese Augen hatten jahrelang in einer Besenkammer in die Dunkelheit gestarrt. Sie hatten auch Riesen gesehen, Zauberer, Freunde, Sterbende, Feinde, Leichen. Sie gehörten zu einem jungen Mann, der den mächtigsten Zauberer Großbritanniens besiegt hatte. Und diese Augen waren auch einer der Gründe, warum der junge Zauberer überhaupt noch lebte. Ein Grund für Potters Verbleiben war Severus Snape, ein Zauberer der so schwere Fehler begangen hatte, daß er versehentlich die einzige Person, die ihm jemals wichtig gewesen war, getötet hatte. Und das war Harrys Mutter, Lily. Nachdem der dunkle Zauberer Voldemort besiegt worden war, gab es für Harry nur einen Weg. Überwinden. Er mußte über die Tode hinwegkommen, einen Sinn darin finden, dass Dennis Creevey nicht mehr sprach, dass der kleine Teddy als Waise aufwuchs, dass George Weasley eine Hälfte seines Selbst verloren hatte.
Und dass all das richtig gewesen war, und noch wichtiger, unvermeidbar.
Harry Potter hatte Snape zehn Jahre lang nicht gesehen. Zehn Jahre. Natürlich waren alle Versuche, den dunklen Tränkemeister in Weise zu kontaktieren irgendwie halbherzig gewesen, und dennoch. Harry hatte ihm geeult, er hatte versucht, ihn zu besuchen, einmal stand er sogar vor dessen Tür. Trotzdem. Zehn Jahre waren vergangen und es war Harry nicht einmal geglückt, ihn zu Gesicht zu bekommen. Snape war Tränkemeister für St Mungos und lebte immer noch in Spinners End, diese Tatsache schien Harry vollkommen wahnsinnig. Er selbst hatte versucht, alles Dunkle, alles Böse, alles Widerwärtige, alles Unberechenbare, kurzum, alles Bedrohliche hinter sich zu lassen. Harry lebte jeden Tag bewusst, genoss jeden Augenblick. Wenn er über seine Vergangenheit und seine Zukunft nachdachte, fühlte er sich so erleichtert, dass ihm schwindlig wurde. Und genau dieses Gefühl hielt er fest, immer eng an seinem Herzen.
Snape auf der anderen Seite, schien keinen Neustart zu wollen, Harry hatte jedenfalls nichts dergleichen gehört, er wusste jedoch, dass McGonagallund Dumbledore sich ständig um ihn sorgten und auch sie keinen Kontakt aufbauen konnten.
Harrys Blick schweifte auf die dunkle Couch, auf der Ginny lag und schlief. James verbrachte den Nachmittag mit seinen Großeltern und Al… Harry lächelte gedankenverloren als er das kleine Gesicht ansah. Al war an Ginnys Brust eingeschlafen und räkelte sich nun wohlig. Harry hob ihn behutsam hoch und wickelte ihn in seine kleine Decke. Etwas regte sich in ihm als er in die drei Wochen alten, smaragdgrünen Augen sah. Harry schauderte und versuchte das Gefühl von sich zu schieben es war zu lange her. Er schloss die Augen und konzentrierte sich, doch an mentaler Disziplin hatte es ihm schon immer gefehlt. Das Gefühl überwältigte ihn und zum ersten Mal seit über zehn Jahren ließ er sich von ihm leiten. Es war eine Mischung aus gedankenloser Entschlossenheit, Bauchgefühl und magischer Fremdbestimmtheit.
Harry atmete tief ein, seufzte, erhob sich. Er versah seinen Umgang mit einem Wärmezauber und warf ihn über sich und Albus. Nur das kleine Gesicht war frei und es blickte ihn erwartungsvoll an. Dann trat er hinaus in den eiskalten, dunklen Nachmittag und Apparierte direkt vor Snapes Tür. Harry sah sich kurz um, bevor er klopfte. Diese Straße allein erklärte einen großen Teil von Severus Snapes Bitterkeit, vielleicht entschuldigte sie sie sogar. Sie war düster und windig. Die meisten Häuser hier fielen auseinander, lagen viel zu eng beieinander und zerbrochene Scheiben waren notdürftig mit Pappe repariert worden. Jemand im gegenüberliegenden Haus brüllte ein heiser klingendes Kind an. Eine taumelnde Gestalt bewegte sich in die andere Richtung und sang ein unzusammenhängendes Lied. Der Schnee war grau, niemand hatte die Straße oder den Fußweg geräumt, es war verdammt glatt und Harry hatte Probleme, sich aufrecht zu halten. Apparieren war niemals seine bevorzugte Art der Fortbewegung gewesen, doch er flog niemals einen Besen mit seinen Kindern, zu gefährlich.
Harry klopfte etwas zögerlich an der Tür, er wusste nicht recht, was ihn erwarten würde, schließlich hatte er Snape seit zehn Jahren nicht gesehen. Die Tür war zersplittert und der Knauf war fast komplett durchgerostet. Es dauerte eine Weile, bis sich etwas in dem hoffnungslosen Haus vor ihm regte, in der Zwischenzeit war der betrunkene Sänger zu Boden gegangen und fluchte lauthals.
Dann stand Snape vor ihm und Harry hatte einige Mühe, nicht zurückzuweichen, nicht zusammenzuzucken, als er in die zornigen, blitzenden Augen starrte. Snape hatte sich kaum verändert, er hatte etwas an Gewicht verloren und um die schwarzen Augen hatten sich neue Falten gebildet, doch er hatte nichts von seinem einschüchternden Wesen eingebüßt. Die Tür knallte so laut zu, dass Harry nun doch zusammenzuckte und Albus quiekte überrascht.
Der Betrunkene hatte es doch tatsächlich geschafft, wieder auf beiden Beinen zu stehen und torkelte nun in Harrys Richtung.
„Ich habe ein Neugeborenes hier. Albus Severus."
Es dauerte eine zweite kleine Ewigkeit bis sich die Tür wieder öffnete.
Snape stand dort, mit verschränkten Armen und funkelte Harry abschätzig an.
„Was in Merlins Namen tun Sie hier, Potter?" donnerte er.
„Äh, also… naja… es schneit", stotterte Harry und blickte an Snape vorbei in das kleine Haus.
Snapes Augen verengten sich und er schüttelte den Kopf. Und dennoch öffnete er die Tür ein wenig weiter und Harry schob sich an ihm vorbei. Er bemerkte den sauren Whiskeygeruch, der von dem Zauberer ausging, kommentierte ihn jedoch nicht.
„Ihre Wortgewandtheit erstaunt mich immer wieder, Potter."
Aus Snapes Mund klang sein Name wie ein Fluch, doch Harry nahm ihm das nicht übel. Er setzte sich auf die abgenutzte Couch und zog seinen schwarzen Umhang aus. Harry wusste nicht, was er tun oder sagen sollte, und er hatte auch keine Lust auf einen neuerlichen Anstarrwettbewerb, also saß er einfach da und rieb seine Hände. Snapes Blick klebte an Al. Harry hatte sich das alles anders vorgestellt.
Vielleicht sollte er mit etwas Smalltalk beginnen? Die Stille war zäh und bleiern, nicht einmal Al wollte sie durchbrechen.
„Ähm… wie geht es Ihnen?" fragte Harry und sah sich ein wenig mehr um. Nichts passte zusammen und es roch nach Staub und Whiskey. Zwei paar grüne Augen sahen sich neugierig in dem Haus um. Keiner der Sofas passte zum anderen, die übervollen Bücherregale passten auch nicht zueinander. In der kleinen Küche, die sich an das Wohnzimmer anschloss, standen zwei komplett verschiedene Stühle, die wiederum so gar nicht zu dem wackeligen Spanholztisch passen wollten. Alles in allem sah alles zusammengewürfelt und ja… irgendwie… es dauerte eine Weile, bis Harry das richtige Wort einfiel. Lieblos. Dies war ganz offensichtlich das Haus eines Mannes, der sich nicht mochte. Es war kühl, es zog, es war in einer furchtbaren Gegend, es war armselig eingerichtet und geschmacklos.
Snape schien Harrys Frage vor allem absurd zu finden. Er musterte ihn kritisch und befand dann, dass Harry keine Antwort wert war.
Dann genehmigte er sich noch einen Whiskey. Das unangenehme Schweigen schien ihn so gar nicht zu stören.
„Sind Sie wirklich gekommen, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen? Welchem Zweck dient denn dieser ‚Überraschungsbesuch' wirklich?"
Harry wusste darauf auch nichts zu antworten. Warum war er eigentlich gekommen?
„Sie sind betrunken!" stellte Harry besorgt fest. Snape hob die Augenbrauen. Snape verzog den Mund, als hätte Harry etwas unendlich Dummes und allzu Offensichtliches gesagt, dann rieb er sich die Stirn. Er sah überhaupt nicht gesund aus.
Al gab ein unglückliches kleines Geräusch von sich und öffnete wieder die Augen. Er drehte sich zu Snape und musterte ihn, ganz ohne Misstrauen, ganz ohne Hass oder Furcht oder Trotz. Der dunkle Zauberer schien das nicht auszuhalten, und ein höchst unangenehmer Schauer lief Harrys Rücken hinunter, dickflüssig, wie kalter Pudding.
„Raus!" donnerte Snape plötzlich und Harry zuckte zusammen. „Raus hier, Potter. Sofort!"
Diese Augen schienen Snape dermaßen aus der Fassung zu bringen, dass Harry ganz froh war, als Al sie schloss und anfing, leise zu wimmern. Es war jetzt ein Vierteljahrhundert her, seit Lily Potter gestorben war. Es war Snapes Schuld gewesen, natürlich nicht direkt, doch Harry fühlte keinen Zorn mehr. Diese unbändige Wut, die er als Junge oft gespürt hatte, war mit Voldemort gestorben und Harry fragte sich manchmal, welche Eigenschaften, welche Emotionen wirklich seine eigenen gewesen waren. Seit der großen Schlacht war er sanftmütiger geworden, überlegter und weniger hitzköpfig. Er spürte kaum Wut oder Hass, nicht einmal auf Voldemort selbst. Und Lilys Augen sollten nicht mehr diese Wirkung auf den Tränkemeister haben.
„Du wirst zerbrechen, wenn du so weitermachst", sagte Harry leise. Dass er vom Sie zum Du gewechselt war, fiel ihm gar nicht auf. Snape hielt inne und bedachte Harry mit einem Blick, der so intensiv war, dass Harry vergaß, zu atmen. In den tiefschwarzen, blitzenden Augen stand Überraschung und Verletztheit, Verwirrtheit und Beunruhigung und auch etwas Endgültiges, dass Harry gar nicht gefiel.
„Die Welt zerbricht jeden, und nachher sind viele an den gebrochenen Stellen stark."
