A/N: Halli hallo, vielleicht kennt ihr mich noch ;) Nach einem exzessiven Ausflug in andere Gefilde bin ich nun wieder mal im HdR-Genre hängen geblieben mit einer kleinen aber feinen Story. Nehmt sie nicht allzu ernst, es war nur ein Spontaneinfall, der mir aber einen Heidengaudi bereitet hat :D Über Reviews würde ich mich natürlich sehr freuen!

Disclaimer: Die neun Irren gehören Tolkien, die 4 anderen mir ;)

Vier wie vom Blitz getroffen

Prolog

In meinem bisherigen Leben hatte ich noch nicht das Vergnügen gehabt, viele falsche Entscheidungen zu fällen. Aber jene, die ich am regnerischen Samstagabend des ersten Oktobers traf, war definitiv eine der dämlichsten und verrücktesten meines Daseins. Ich wollte doch tatsächlich und freiwillig (!) in ein Auto steigen, dass unsere etwas geisteskranke Freundin Jenny steuern sollte, weil wir zusammen mit Corinna und Nora (nennt sie niemals Norchen, sonst überfährt sie euch mit einem Rasenmäher!) zu dem Geburtstag einer Freundin fahren wollten.

Ja, ganz richtig, wir wollten.

Ich weiß noch, wie ich auf Knien (und das bei meinen sehr porösen Gelenken) zu Jenny gebetet habe, sie solle doch Corinna fahren lassen, weil wir gern noch mit allen Körperteilen bestückt auf der Feier erscheinen wollten, aber Jenny hatte erst gerade ihren Führerschein gemacht und plädierte darauf, auch mal in der Nacht das Fahren zu „üben" (wortwörtlich, ohne Quatsch, nicht, dass mich ihre Wortwahl beunruhigte oder so...aber das tat sie). Dummerweise war Corinna die einzige von uns, die neben der chaotischen Jenny einen Führerschein hatte, sonst hätten wir unserer bekloppten Freundin Baldrian in den Drink gemischt, sie gefesselt und geknebelt und dann in den Kofferraum gequetscht, aber so konnte sie sich mühelos gegen Corinna durchsetzen.

Das Beste am ganzen Abend war immer noch die geschlagene Stunde, die ich mit Nora und Corinna im Regen stehend verbrachte und darauf wartete, dass Jenny endlich aus ihrer Wohnung kam. Als wir so ziemlich durchnässt und unsere Lungen zur Hälfte entzündet waren, kam sie endlich mit Stöckelschuhen aus dem Haus gestolpert, in dem modischen Handtäschchen unendlich viel Krimskrams und aufgedonnert wie eine Bordsteinschwalbe. Ihr vielfach gefärbtes Haar hatte sie mehr oder weniger Kunstvoll hochgesteckt. Auf jeder Party gab sie mit ihrem Können, Frisuren zurechtmachen zu können, an und verschwieg, dass sie dies eigentlich in ihrer doppelt abgebrochenen Friseusenlehre gelernt hatte. Jenny war die einzige von uns, die schon so etwas wie einen Job hatte, wir drei waren noch gezwungen in die Folteranstalt namens Schule bzw. Uni zu gehen.

Murrend und nicht einmal die Kraft findend, uns über sie lustig zu machen, stürmten wir ins Auto, als sie das besagte Schrottgestell mit Rädern geöffnet hatte. Jenny fuhr einen, bereits an beiden Kotflügeln rostenden, grauen (sie bestand immer auf „silber-metallic", aber das wäre zu nobel für diese Kiste) Ford, auf dessen Rückbank man so viel Beinfreiheit hatte wie Michael Jordan in nem Kinderbett. Nicht zuletzt deswegen sicherte ich mir den Platz an der Beifahrerseite, selbst wenn sich dies eher als lebensgefährliches Unterfangen herausstellte, weil Jenny am Steuer saß. Kaum hatte sie das Auto 4x hintereinander verrecken lassen, schnallten wir uns auch schon an und ich bedauerte zutiefst, keinen Sturzhelm aufgesetzt zu haben, als Jenny um die Kurve bog. Ich hatte mir schon vorsorglich meinen CD-Player in die Handtasche gestopft, falls wir wieder irgendwo mit dem Auto stecken blieben, weil Jenny vergessen hatte, dass ein jedes Automobil (wie auch ihres) mit Benzin fuhr, sprich – die Tankanzeige eine 0,0 anzeigte.

Statt der Scheibenwischer schaltete sie jedes Mal die Blinker an und ich fragte mich, ob der Fahrlehrer bei ihrer Prüfung nur in der körperlichen Hülle anwesend gewesen sei oder ob er nichts mehr von ihrem Kamikazefahrstil mitbekommen hatte, weil er sich zuvor zu sehr mit Mutschnäpschen zugeschüttet hatte.

Wie dem auch sei, die Fahrt war schrecklich, weil wir 1. auf einer Landstraße fuhren und ein halbes Schleudertrauma von den ganzen Schlaglöchern bekamen und 2. die Zentralheizung, wie sollte es auch anders sein bei dem schrottreifen Auto, ausgefallen war. Es war kein Regen, der da auf uns prasselte – es war eine Sintflut. Ich fühlte mich schon wie Noah in einer Arche, die den nächsten TÜV-Besuch nicht überlebt hätte. Nora schien sämtliche Lust auf einen Partybesuch zu verlieren, denn ihr Gesicht war finsterer als das meiner Großmutter, wenn diese mich wieder einmal beim Teignaschen während des Weihnachtsplätzchenbackens erwischt hatte. Das Radio brachte nur ein stetes Rauschen hervor, das Corinna dazu brachte, wieder und wieder einzunicken, nur um gleich darauf von einer weiteren Schlaglochsafari geweckt zu werden. Ständig rutschte Jenny mit ihren Stöckelschuhen von den Pedalen ab und wäre so beinahe einem lahmen Traktor hinten drauf gefahren.

Eisernes Schweigen herrschte zwischen uns sonst so lustig-aufgedrehten Kameradinnen, erst bevor das schlimmste des ganzen Abends geschah, meinte Nora auf der Rückbank nur noch: „Guckt euch mal dieses Mistwetter an! Das blitzt und donnert und schifft, als würde die Welt untergehen."

„Schön wär's", murmelte ich in mich hinein und als ich Jennys böse Blicke auf mir spürte, ergänzte ich noch kleinlaut: „Weil ich am Montag eine Hausarbeit abgeben müsste." Jenny, die damit beschäftigt gewesen war, mich mit tödlichen Blicken zu durchbohren wie einen Schweizer Käse, achtete für einen winzigen Augenblick nicht auf die Fahrbahn – und auf den guten alten Traktor, der noch immer gemütlich vor uns entlang schipperte. Erst als Nora, Corinna und ich in einem lautstarken Geplärr darauf aufmerksam machten, dass Jenny uns alle gleich zu Brei fahren würde, riss sie das Lenkrad nach links, geriet auf die Gegenfahrbahn und rutschte dann komplett von der Straße. Von der Rückbank ertönte ein zweifaches „Fuck" und ich knallte mit dem Kopf gegen die blöde Nackenstütze. Der Traktor trödelte fröhlich weiter und überließ uns unserem Schicksal. „Alles ok bei euch?", fragte Jenny, welcher der Schock ins Gesicht geschrieben stand. „Würden wir sonst so fluchen können? Scheiße Jenny, ich wusste es!", fauchte Nora und kramte nach ihrem Handy. „Was tust du da?", fragte Jenny, aber ich antwortete, um Noras Nerven nicht noch zum Zerreißen zu bringen. „Sie will den Abschleppdienst oder irgend sowas anrufen, weil das Ding im Schlamm fest hängt und wir nicht mehr alleine rauskommen"

„Super, ein Abend mit drei Verrückten im Straßengraben...prickelnd, da hätt ich auch zum Eintopfessen zu meiner Oma gehen können", meckerte Nora. „Bitte, dann geh doch, kannst ja laufen", motzte Jenny genervt zurück und wollte gerade die Fahrertür aufstoßen, als mit einem Male ein greller Lichtstrahl auf uns einfiel, sodass wir kreischend die Hände vors Gesicht hielten. Ich hörte nur ein schreckliches Zischen, ehe die Welt um uns herum schwarz wurde.

O.o

Kopfschmerzen.

Das war das Erste, das ich spürte. Gutes Zeichen. Ich schien nicht tot zu sein. Oder ich war eine Tote mit Kopfschmerzen. Beunruhigender Gedanke. Ich weiß nicht warum, aber ich traute mich gar nicht, die Augen zu öffnen, zumal ich mich nur noch an Bruchstücke des vergangenen Abends erinnern konnte und gar nicht wusste, was nun eigentlich geschehen war. „Kerstin? Bist du wach?" – das war ein ganz leises Fiepen vom Rücksitz, das entfernt an Corinnas Stimme erinnerte. Juhu, entweder waren wir zwei Überlebende oder zwei Tote – hin oder her, ich war nicht allein.

„Vielleicht. Keine Ahnung", murmelte ich heiser und linste vorsichtig in meine Umgebung. Ich saß noch immer ordnungsgemäß angeschnallt auf dem Beifahrersitz, aber irgendwie stand der Wagen in der Quere. Nicht nur deswegen, weil wir wahrscheinlich noch in dem Straßengraben feststeckten, sondern auch, weil wir nen doppelten Plattfuß auf der linken Seite hatten. Stöhnend versuchte ich mich wieder in eine halbwegs aufrechte Position zu manövrieren, merkte dabei aber, dass mein Nacken und meine Schultern höllisch wehtaten. Meine Haare klebten förmlich in meinem Gesicht. Ich schwitzte, weil die Sonne direkt auf uns herunterprasselte.

Gutes Zeichen Nummer Zwo – ich wies Transpiration, also ein Lebenszeichen auf. „Was ist passiert?", hörte ich Corinna wieder fragen, die mit ein wenig zerbeulter Stirn an Jennys Sitz lehnte. Ich hatte Mühe, mich überhaupt ein Stückchen zu ihr umzudrehen. „Eigentlich hatte ich gehofft, dass du es mir sagen würdest", merkte ich an und die Trockenheit meiner Kehle erschwerte mir das Sprechen. Erst jetzt sah ich, wie deformiert Jenny auf dem Armaturenbrett klemmte, den Kopf auf die verschränkten Arme gebettet, schlief sie tief und fest, was ihr leichtes Sabbern und das kaum hörbare Schnarchen verrieten. „Geht es Nora gut?", fragte ich besorgt. Langsam ließ ich den Abend Revue passieren und glaubte, dass wir einen Unfall hatten. „Ja, mir geht's ganz gut, abgesehen davon, dass mein Fuß unter deinem Sitz eingeklemmt ist", jammerte sie und ich versuchte sogleich, den Sitz zu verstellen, schob den Hebel aber in die falsche Richtung und saß fast auf Noras ganzem Schienbein, sodass sie gellend aufschrie und mich verfluchte.

Jenny war durch den Lärm, den Nora berechtigterweise fabrizierte, geweckt worden und blickte sich völlig irritiert in dem zerbeulten Innenraum des Autos um, während ich verzweifelt versuchte, mit dem Sitz von Noras Schienbein zu rutschen. Nachdem sie schon irgendetwas von Amputation herumflennte, gelang es mir endlich, den Sitz wieder in der richtigen, fuß- und beinfreundlichen Position einrasten zu lassen. „Was habt ihr mit meinem Auto gemacht?", schrie Jenny hysterisch, als sie sah, dass die Motorhaube völlig zerdrückt und verkohlt war und noch ein bisschen vor sich hindampfte.

„Wie bitte? Du bist gefahren, Fräulein", erinnerte sie Corinna und stieß ihr mit der Handkante an den brünetten Schopf. Hätten wir einen schönen tiefen, stinkenden Pfuhl gehabt, hätten wir eine kleine Schlammcatchshow hinlegen können. „Hört auf euch anzufauchen", schlichtete Nora und öffnete als Erste die Tür und stieg auf wackeligen Beinen (woran ich nicht ganz unbeteiligt war) aus. Als sie plötzlich inne hielt und sich fragend umblickte, sich dann noch einmal herunterbeugte, um zu uns zu schauen, wusste ich, dass irgendetwas nicht in Ordnung sein musste. „Ist was?", fragte ich und Jenny knurrte mich gleich wieder an: „Ja, oder hast du nicht bemerkt, dass mein Auto Schrott ist?" Corinna merkte von hinten nur so etwas an wie „Das war es auch schon vorher" und brachte den Stein damit schon wieder zum Rollen. Erneut musste Nora ihre Stimmgewalt unter Beweis stellen und die Streithähne mit einem donnernden Brüllen zum Schweigen bringen. „Wir sind doch gestern Nacht auf ner Landstraße gefahren, oder?", sagte sie dann, als endlich Ruhe eingekehrt war.

„Öhm...ja.", murmelte Corinna, die nicht so genau wusste, worauf Nora da hinauswollte, „Warum fragst du?"

Als Nora schwer schluckte, wurde ich noch misstrauischer, befreite mich von dem Gurt und öffnete die Tür, die sogleich mit einem lauten Ächzen zu Boden sank. Jenny hatte die Augen verschlossen, konnte wohl das Elend nicht länger ertragen, das ihr angetan wurde. Nachdem die Welt damit aufgehört hatte, sich vor meinen Augen irritierend schnell zu drehen, erblickte auch ich, was Nora vorsichtig versucht hatte, anzusprechen. „Hey, hallo? Was is? Warum fragst du?", wiederholte Corinna, die nun auch drauf und dran war, auszusteigen. „Weil wir hier mitten im Wald stehen.", war Noras trockene Antwort. „Wie bitte?", rief Jenny entsetzt und war schneller aus dem Wrack von einem Ford gesprungen als ich „Solarium" sagen konnte.

Als sich nun auch Corinna zu uns an die frische und durchaus gesund riechende Luft gesellt hatte und sich mit fassungsloser Miene auf das mit Ruß bedeckte Autodach lehnte, sprach Jenny sofort ihre Theorie aus: „Wir sind bestimmt einen Hang runtergerutscht und stehen deshalb hier. Das würde auch die Plattfüße erklären...und die Beulen...und die Kratzer im Lack...", Tränen sammelten sich in ihren braun gefärbten Augen. Nora sah sich um und sagte fast nur zu sich selbst: „Wären wir nen Hang hinab gefahren, würde man doch irgendwo eine Spur sehen oder? Wenn schon keine ramponierten Baumstämme, dann wenigstens die Reifenspuren."

Da waren aber keine Spuren, nicht einmal ein einziges umgeknicktes Ästchen. Erschreckenderweise hatte Nora Recht. „Vielleicht...sind wir...", begann Jenny, aber ich unterbrach sie sogleich bei dem Ansatz dieser Idee. „Nein Jenny, wir können nicht drüber geflogen sein, das ist unmöglich!" Enttäuscht senkte sie den Kopf.

Volltreffer.

„Außerdem kann ich mich gar nicht daran erinnern, dass so viel Wald in Straßennähe steht...", verschreckte uns Corinna nur noch mehr. „Vielleicht haben wir auch alle nur n Filmriss. In ihrer Verpeilung ist es doch gutmöglich, dass Jenny den Wagen noch irgendwohin gesteuert hat.", versuchte ich die allgemeine Verunsicherung zu besänftigen, aber mein Einspruch fand kein Gehör. „Das letzte, woran ich mich erinnern kann, ist ein Zischen und ein grelles Licht.", sagte Nora, ohne auf meinen Gedanken noch näher einzugehen. Bestätigend nickten wir drei. „Meint ihr, dass wir auf Bahngleisen standen?", fragte Corinna nach längerer Knobelei. „Soweit ich mich erinnern kann, war es ein Straßengraben oder der schrägste Bahnsteig der Welt, in den wir gerutscht sind.", merkte ich an, „Außerdem sähe Jennys Ford bei weitem nicht mehr so gut aus und wir wären jetzt auch woanders." Entrüstet sogen alle den Atem ein und starrten mich an. „Was ist? Wachsen mir Nasenhaare?", fragte ich verwirrt. „Oder...wir...wir...wir...sind tot!", stammelte Jenny, auf einmal total blass um die Nase. „Und das ist unser privates Elysium, in dem wir auch deine Schrottkarre begraben können oder wie?", knurrte ich, weil ich das alles andere als lustig fand. „Stimmt, wären wir tot, spürten wir keinen Schmerz.", pflichtete Nora bei. „Woher willst du das so genau wissen, hä? Schon mal tot gewesen?", Jenny drehte wirklich durch. „Oder...wartet...das Licht..."

„Sprich es nicht aus!", warnte ich, aber Jenny fuhr unbeirrt fort: „Vielleicht haben uns Außerirdische entführt!"

Ich hatte nur drauf gewartet. „Ja, und bei den Untersuchungen müssen sie dir das letzte Bisschen Hirn abgesaugt haben.", muffelte Nora. Ich hasste es, wenn Jenny wieder die alte Ufo-Geschichte aufrollte. Nachdem sie zu viel „Akte-X" gesehen hatte, benahm sie sich so paranoid wie Fox Mulder auf Dope. „Lasst uns die ganze Sache mal rational betrachten.", begann Corinna und wir seufzten laut im Akkord. „Sagt mir nicht, ihr glaubt auch an die Ufo-Theorie.", wehrte sie sich und alle außer Jenny schüttelten den Kopf.

„Gut", sagte Corinna und kratzte mit ihren Fingernägeln über den schwarz verkohlten Türrahmen, „Dem Grad der Verbrennung nach zu urteilen - und bedenken wir auch die Tatsache, dass es ein Unwetter letzte Nacht gab – würde ich sagen, dass das Auto von nem Blitz getroffen wurde. Das würde auch die platten Reifen erklären, denn die hatten Bodenkontakt, als der Blitz einschlug." Hey, Applaus, eine erste plausibel klingende Erklärung. „Dann erklär mir mal, warum wir das überlebt haben.", muffelte Jenny. Wortlos schauten wir uns an und winkten ab – Jenny hatte damals in Physik anscheinend wirklich nicht sehr aufmerksam zugehört. „Weil dein hübsches Wägelchen eine Ganzmetallkarosserie hat und der Strom abgeleitet wurde.", erklärte Nora, die als einzige von uns Physik in der 11. Klasse nicht abgewählt hatte. (hey, trotzdem hätt ich das auch gewusst!) „Ja schön und gut, aber wieso stehen wir plötzlich an einem ganz anderen Ort?", fragte Jenny und bei diesem Punkt wussten wir auch keine Antwort mehr. Schweigend standen am Auto und grübelten um die Wette. Wir mussten an einem späten Nachmittag wieder zu uns gekommen sein, denn die Sonne wanderte gemächlich in den Westen und färbte den Himmel rot-orange. „Egal, wo auch immer wir stehen, ich versuche mal jemanden anzurufen", sagte Nora fest entschlossen und holte ihre noch intakte Tasche aus dem Wagen, zückte ihr Handy und schaltete es ein. „Menno...ich hab Hunger...und muss noch die Hausarbeit fertig schreiben.", jammerte ich (ja, ich jammere sehr schnell, vor allen Dingen in solchen Situationen) und verschränkte nörgelnd die Arme vor der Brust. „Iss einen Grashalm", flötete Nora, während sie ihre PIN-Nummer eingab. Toller Vorschlag. Immer diese Dreiviertel – Vegetarier! Kein Taktgefühl! „Das hätte ich mir denken können...kein Netz...", grummelte sie und machte das Miniding wieder aus. „Und was jetzt?", stöhnte ich und zog erstmal meine Jacke aus. Für Oktober war es hier ziemlich warm. „Lasst uns erstmal n Feuerchen machen.", sagte Corinna ganz sachlich und Jennys Augen quollen aus den dunklen Höhlen. „Wie, willst du auch noch den Rest des Autos verschmoren?" Corinna tippte sich zur Antwort nur auf die Stirn und suchte ein paar kleine Äste zusammen, stapelte sie ordentlich aufeinander. „Es wäre äußerst dumm, wenn wir uns jetzt in die Wälder verkrümeln. Bleiben wir über Nacht besser im Auto, solange wir nicht genau wissen, wo wir eigentlich sind und was wir tun sollen."

Gesagt, getan, Häuptling Corinna und ihre Gehilfinnen bauten sich gemeinsam ein kuscheliges Lager neben der eingesunkenen linken Hälfte des Fords und warteten auf den Einbruch der Nacht. Vom Nichtstun und Nichtswissen müde geworden, löschten wir bald das Feuer und richteten unsere improvisierten Autositzbetten her. Nora und Corinna waren sofort eingeschlafen, nur Jenny und ich sinnierten über die merkwürdigen Ereignisse dieses Tages. „Du, Kerstin", flüsterte Jenny neben mir und ich schaute sie fragend an, „Meinst du, das hier ist eine Raumverschiebung? Ich meine, durch den Blitz und so...steckt ja ne Menge Energie dahinter!"

Ach, was sie nicht sagte!

„Ich habe nicht den blassesten Schimmer, wo wir sind und wie wir hier hergekommen sind, Jenny. Aber hängt mit ner Raumverschiebung nicht gleichzeitig auch ne Zeitverschiebung zusammen? Und ist das nicht alles Humbug?" Jenny seufzte, als sie merkte, dass ich nicht wirklich ernsthaft mit ihr sprach. „Du wirst schon sehen, morgen suchen wir die Umgebung ab und finden bestimmt ne Notrufsäule oder sowas...", es war erschreckend, meine Worte überzeugten nicht einmal mich selbst! „Schlaf lieber n bisschen", endete ich meine Ausführungen und öffnete die Tür. „Was ist? Wo willst'n du hin?"

„Für kleine Kerstins", rechtfertigte ich mich und lehnte die Tür nur an, weil sie sonst wohl gänzlich abgefallen wäre. Also stakte ich mit meinen schwarzen Stiefeln und den hochgekrempelten Jeans (das Gras drumherum war komisch feucht) über den unebenen Erdboden und suchte in der Dunkelheit nach einem netten Gebüschchen. Ich suchte mir das nächstbeste Eckchen heraus und wollte mich gerade meiner Hose entledigen, als ich ein Rascheln aus der Nähe vernahm. Nichts ungewöhnliches, im Wald und in der Nacht, mag man denken. Aber Klein-Kerstin nicht. Klein-Kerstin kann man schnell einen Mordsschrecken einjagen. „Jenny?", fragte ich, da ich es von ihr gewohnt war, dass sie sich von meinem Harndrang gern anstecken ließ. Keine Antwort, nur ein seltsamer, rülpsähnlicher Laut diesmal aus nächster Nähe. Ich schluckte, knöpfte meine Jeans artig zu und griff zu einem am Boden liegenden Ast. Sicher war sicher. Falls irgend so ein paarungswütiges Wildschwein auf mich zugerannt käme, würde ich es windelweich schlagen. Nichts geschah und ich hörte nur mein Herzrasen.

Als ein Vogel aus dem Gebüsch flog, lachte ich nervös und sagte laut zu mir selbst: „Ok, so weit ist es schon gekommen, ich mach mir bald ein wegen so einem kleinen..." ich drehte mich um. Ich hätte mich besser nicht umgedreht.

Im Dunkeln konnte ich ihn nicht genau erkennen, aber die krumme Haltung und die schnaufenden Geräusche, nicht zuletzt der ekelhafte Gestank meines Gegenübers, ließen mich glauben, ich stünde doch wirklich vor einem Ork. „Boah, Jungchen, hast du mir einen Schrecken eingejagt", schnaufte ich und tätschelte die äußerst lederartige Wange des Typen. „Cooles Kostüm, wirklich sehr authentisch. Aber im Ernst, ich finde das nicht sehr lustig, dass du hier im Dunkeln durch die Gegend springst und fremde Leute erschreckst. Wo hast du den Aufzug her...und kannst du mir sagen, wo wir eigentlich sind?"

Der komische Kauz legte den Kopf schief und die gelben Augen (coole Kontaktlinsen, wie ich zuerst glaubte) musterten mich fragend. „Oh...Ausländer? Prima, sag bloß, uns hat's auch noch über die deutschen Grenzen teleportiert!", seufzte ich verzweifelt und überlegte gerade, ob ich ihn besser auf Englisch oder Russisch zulabern sollte, als er plötzlich ein Schwert mit krummer Klinge zog. ‚Wow', dachte ich erst, ‚das muss ja ein eingefleischter „Herr der Ringe" Fan sein', aber als er Anstalten machte, mich mit dem Ding zu attackieren, fand ich das weniger spaßig. Im letzten Moment konnte ich meinen improvisierten Knüppel heben und somit verhindern, dass der Kerl im Kostüm mir den Schädel spaltete. Die Hälfte des Astes fiel zu Boden und das Ding vor mir fletschte die Zähne. Entweder hatte ich gerade den furchtbarsten Albtraum in der Geschichte der Menschheit oder ich musste mir wirklich Sorgen machen. Wieder setzte der komische Ork zum Sprung an, aber ich wich rechtzeitig aus und rannte wie eine Bescheuerte durch die Pampa, orientierungslos wie ein blindes Huhn, bis ich das rettende Auto sah und darauf zu sprintete. Mein Sportlehrer hätte nicht schlecht geguckt, wenn er mich die hundert Meter in weniger als 20 Sekunden hätte rennen sehen, jedenfalls hechtete ich zur Tür, riss sie auf, sprang irgendwie hinein und schlug sie mit einem lauten Krachen zu, sodass meine drei Freunde erschrocken aufwachten und durcheinander fragten, was denn los sei. „Das ist los", hechelte ich völlig außer Atem und deutete auf den Ork, der auf die Motorhaube gesprungen war und sein hässliches Sabbergesicht an die Frontscheibe drückte, um uns besser zu sehen. Jenny kreischte markerschütternd und rutschte mit dem Sitz nach hinten, sodass sie beinahe Corinna das gleiche angetan hätte wie ich zuvor Nora.

„Was, was...was...was ist das?", stammelte sie und riss die Augen auf. „Ein Ork."

„Ein WAS?", wimmerte Jenny und ich wiederholte mich: „Ein Ork." Corinna und Nora rutschten fast gleichzeitig nach vorn, um das eklige Ding besser sehen zu können und ich hätte alles in diesem Moment gegeben, um meinen Platz mit einem von ihren zu tauschen. „Das ist unmöglich, Orks sind nur erfundene Kreaturen.", stellte Corinna fest. „Ach nee!", knurrte ich gereizt zurück und beobachtete mit einem unguten Gefühl in der Magengegend, wie das sabbernde Etwas mit dem Schwert auf die Frontscheibe einzudreschen versuchte. „Vielleicht ist es nur so ein Wahnsinniger, der sich verkleidet hat...wie Jason...oder der Kettensägenmörder...", jammerte Nora und ich schüttelte tranceartig mit dem Kopf. „Der hat kein Kostüm...ich hab ihn angefasst."

„Du hast WAS?", kam es aus allen drei Mündern gleichzeitig und hätte der Ork nicht damit angefangen, das Schwert wirklich niedersausen zu lassen, hätten die mich mit tausend Fragen durchlöchert. „Der Idiot macht mein Auto kaputt!", brüllte Jenny, jetzt eher wütend als verängstigt. „Das verdammte Ding ist schon lange kaputt!", rief Nora und sah mit Schrecken, dass die Scheibe einen kleinen Riss bekam. „Gib mir meine Handtasche!", befahl Jenny. „Was?", Corinna war nicht nur irritiert, sondern auch kurz vor ihrem ersten Nervenzusammenbruch. „Meine Hand-Ta-Sche", forderte Jenny erneut und mit zitternden Händen reichte sie ihr das besagte Stück. „Was hast du damit vor?", fragte ich erstaunt. „Ich hab doch hier irgendwo ein Deospray", murmelte sie, während das Handtaschenchaos ihre Suche erschwerte. „Und was willst du machen? Ihn schön einduften, damit er weniger aggressiv ist?" – Nora, schon wieder zum Scherzen aufgelegt. Igitt, das war auch noch Kiwi-Geruch. „Jenny nicht, der köpft dich, bevor du auch nur die Tür aufmachst!", warnte ich und musste fast schreien, damit mich Jenny in dem Krawall, den das Ding machte, überhaupt verstehen konnte.

„Pah, das werden wir ja sehen", murrte sie nur, zog die Kappe ab und riss die Türe auf. So verrückt sie war, so mutig war sie auch. Sofort stürzte sich der Ork auf Noras Kindergartenfreundin und hätten wir Mädels im Auto Cheerleaderpuschel gehabt, hätten wir Jenny so zusätzlich anfeuern können. Ehe das wild gewordene Vieh Jenny zerhacken konnte, hatte sie schon den Finger auf die Sprühdose gelegt und den Ork mächtig eingenebelt, sodass wir nur eine helle Wolke anstelle seines Kopfes erkennen konnten. Kreischend ließ er das Schwert fallen und hielt sich die Augen, rannte schließlich jaulend und heulend in die Dunkelheit des Waldes. Zurückblieb nur unser zertrümmertes Auto, eine triumphierende Jenny und ein altes, stumpfes Schwert.

Sie hob es vorsichtig an und setzte sich mit der Waffe wieder ins Auto, verriegelte die Tür. „Klasse Jenny, echt super!", atmete Corinna erleichtert aus und euphorisch bejubelten wir unsere Heldin. „Gib mal her", forderte Nora und riss ihr das Schwert aus der Hand. „Habt ihr gesehen, wie ich ihn davongejagt habe?", brüstete sich Jenny immer noch, aber unser Interesse lag nun eher bei der komischen Waffe.

„Seht euch mal die alten Lederbänder an, die um den Griff gewickelt sind", murmelte Corinna und ich nahm eine kleine Taschenlampe aus dem Handschuhfach und leuchtete die Waffe an. „Kann denn nicht einfach Peter Jackson kommen und „CUT" schreien?", fragte ich verunsichert. Corinna untersuchte die Klinge, die an manchen Stellen bereits gesplittert war. „Ich fürchte nicht...aber wie ist das möglich? Wir können gar nicht in Mittelerde sein, zumal es Mittelerde gar nicht gibt!", fasste sie zusammen. Dafür hätte sie sich jetzt einen Keks verdient. „Aber wenn wir in Mittelerde sind, wo genau sind wir dann in Mittelerde?", fragte Nora weiter und als sie den Ansatz eines Sabberblicks auf meinem Gesicht erkannte, verfinsterte sich ihre Miene und sie sagte: „Nein, Kerstin, für den Düsterwald ist es hier zu hell." Langsam fragte ich mich, ob sie schon Gedanken lesen konnte. „Wir sollten morgen nach einem Anhaltspunkt oder so Ausschau halten, ehe wir eine genauere Route einschlagen. Eventuell stellt sich ja doch heraus, dass wir nur einen Geisteskranken getroffen haben und keinen Ork.", sagte Corinna vergebens in einem tröstenden Ton. „Ok...ok", murmelte ich, musste erst versuchen, meine durchaus verwirrten Gedankengänge zu ordnen, dann hellte ein Gedanke mein Gesicht auf: „Yeah, dann fällt Uni am Montag flach, was?"

„Wenn das dein einziges Problem ist", knurrte Corinna und lehnte sich zurück, um noch ein wenig zu schlafen. Im Gegensatz zu den anderen bekam ich in dieser Nacht kein Auge zu. Wir waren in Mittelerde? Ich konnte es nicht recht glauben...aber ich konnte nicht leugnen, dass ich mich mit dieser Tatsache durchaus anfreunden konnte. Als der Morgen graute, sahen wir erst, welchen Schaden der pöbelnde Ork wirklich verursacht hatte. Die Motorhaube war eingedrückt, als ob sich der Elefant aus der Peugeotwerbung draufgesetzt hätte und nun hatte auch der rechte Vorderreifen einen Platten. Fahrend würde ich Jennys Ford wohl nie wieder zu Gesicht bekommen. Wir streiften in Zweiergruppen in der näheren Umgebung herum, bis wir uns gegen Mittag wieder am Wrack einfanden und mehr oder weniger stolz unsere Suchergebnisse präsentierten. Corinna und ich waren erfolglos gewesen, hatten aber immerhin ein paar essbare Wildfrüchte gefunden, über die sich Jennys allerdings sofort hermachte. Nora hatte aber dieses Funkeln in den Augen, das mir verriet, dass sie einen Verdacht hatte, wo genau wir waren. „Wir müssen in östliche Richtung, nehmt eure Handtaschen mit...und das Schwert!"

Argh! Nora zog ihre Aragornnummer ab. „Wo wollen wir denn hin?", fragte ich, die alles andere als scharf aufs Wandern war. „Nach Bruchtal, Kerstin, ich habe die Bruinenfurt gesehen, nicht weit von hier, und wenn mich meine Geografiekenntnisse nicht all zu arg im Stich lassen, müsste gegenüber Bruchtal liegen." Prima. Auch noch Bruchtal. „Vielleicht haben die da ja ein funktionierendes Telefon", murmelte Jenny und machte sich auf den Weg. Wir sahen uns nur alles sagend an, zuckten mit den Achseln und folgten ihr.

-TBC-