Ihr ganzes Leben war sie, Hermine Granger, dieses eine, anständige Mädchen. Sie war vielleicht von der abweisenden, aber ängstlichen Streberin, die sich vor einem Troll verstecken musste, zu der mutigen und gerechtigkeitsliebenden Vertrauensschülerin geworden. Doch all diese Versionen hatten eines gemeinsam gehabt: Sie alle waren dieses eine, anständige Mädchen gewesen. Ob aus Angst, sich selbst Ärger einzuhandeln, oder aus Angst, anderen Ärger einzuhandeln – das war sie immer gewesen.
Und natürlich hätte ihre siebzehnjährige Version nie etwas daran ändern wollen. Sie war Schulsprecherin (endlich!), hatte einen Krieg überlebt und an der Seite ihrer Freunde in ihm gekämpft, wurde als Heldin gefeiert und sollte nun in nicht einmal einer Woche ihren Abschluss machen.
Die Prüfungen hatte sie hinter sich. Das Einzige, das noch auf sie wartete, waren ein paar Schulstunden, in denen sich die Lehrer bemühten, die Schüler zum Arbeiten zu bewegen, und das viele stressige Organisieren der Abschlussveranstaltungen. Die Zeugnisvergabe, das Abschlussfest, der Elternempfang und die kleine Verabschiedung unter den Vertrauensschülern. Aber das alles machte ihr nichts aus. Sie freute sich ja sogar darauf, denn dass sie so viele Aufgaben hatte, lag nur daran, dass sie es geschafft hatte. Und dann wartete ihre grandiose Zukunft auf sie, auf die sie sich mehr freute, als auf alles andere. Denn sie würde endlich erwachsen sein und in eine neue Welt eintreten.
Und doch sollte ihre siebzehnjährige Version noch eine entscheidende Sache vor ihrem Abschluss lernen. Etwas, das sie in ihrer Schulzeit nicht hatte lernen können. Etwas, das sie vergessen hatte. Etwas, das ihr diese eine Person beibringen sollte.
ooooo
Wenn sie jemand gefragt hätte, was ihre Lieblingsfarbe wäre, hätte sie geantwortet: Rot! Wenn sie sich selbst gefragt hätte, wäre es Weiß gewesen. Um genau zu sein: Pergamentweiß. Denn diese Farbe verband sie mit dem Geruch von Büchern, dem leisen Rascheln von Seiten und der aufgebrachten Stimme Madame Pince'.
Jetzt allerdings machte ihr Rons Stimme diese immer wieder wundervolle Mischung kaputt, die sie davon abhielt, das Kapitel über Beschwörungszauber weiterzulesen.
„Ich wette, sie ist dagegen … Ich glaube nicht, dass wir sie überhaupt fragen sollten …", murmelte er in seiner typischen Art, nämlich so laut, dass es kein Flüstern mehr war, obwohl er das definitiv nicht beabsichtigte. Es war einfach eine Tatsache, dass Ron nicht flüstern konnte.
Etwas neugierig, aber auch misstrauisch, sah sie von ihrer Beschäftigung auf und blickte in die beiden Unschuldsmienen ihrer beiden besten Freunde. Natürlich blieb ihr nicht verborgen, dass sich im Hintergrund auch die anderen ihres Jahrgangs möglichst unauffällig herumdrückten. Es war ihr schon vorhin aufgefallen, dass sie ungewöhnlicherweise alle in einer Ecke saßen und die Köpfe zusammensteckten. Allerdings war sie davon ausgegangen, dass sie über irgendein neues Scherzartikelprodukt oder Quidditch sprachen.
Harry ließ sich nun als Erster verlauten. Seine Stimme war kratzig und das war sie nur, wenn er aufgeregt war oder sich Sorgen machte. „Wie geht's, Hermine?", fragte er beiläufig und ließ sich in den Sessel ihr gegenüber fallen.
Sie hob eine Augenbraue. „Nicht anders, als vor fünfzehn Minuten, als wir vom Essen gekommen sind. Wieso?"
„Nur so!", sagte Ron hastig und warf die Arme fuchtelnd in die Luft, während er sein Gesicht Harry zuwandte, wie, um ihm zu vermitteln, dass er etwas tun sollte.
„Es ist nur …", begann dieser ausweichend, „dass wir da so eine Idee hatten. Ginny findet sie auch gut!"
Die Jungen verstummten. Ihnen fiel wohl nichts weiter ein. Hermine schwieg also. Sie fand es ganz nett, die beiden so zappeln zu sehen, wurde aber bei den hilflosen Mienen der beiden auch etwas genervt. Schließlich seufzte sie innerlich und gab nach.
„Na schön, und was ist das für eine Idee?", versuchte sie ihnen ein wenig entgegenzukommen.
Harrys Gesicht strahlte erleichtert auf. „Es geht um morgen. Da haben wir ja das letzte Mal Unterricht und irgendwie sind wir … alle zusammen … auf die Idee gekommen, etwas zu machen. Du weißt schon, etwas Cooles. Einfach nochmal … Schüler sein."
„Und was habt ihr euch da vorgestellt?" Sie legte ihr Buch zur Seite. Würden die beiden noch länger herumstottern, würde sie Ginny holen, die eh schon unauffällig auffällig ein Sofa weiter in einer Zeitschrift blätterte.
„Na ja …" Harry sah Ron auffordernd an, doch der sagte nichts, also fuhr er zögernd fort: „Es ist so warm und wir würden morgen … eh nur noch Zeug wiederholen, obwohl wir die Prüfungen schon längst geschrieben haben. Also dachten wir, wir nutzen das Wetter und …"
„Und …"
„Und …"
„Schwänzen!", rief Ginny aus, die scheinbar genug hatte und sich neben Hermine in die Kissen warf. „Wir wollen zum See runter, baden, Musik hören, was Futtern, du weißt schon: Feiern! Wir haben immerhin nur diese blö…", hier hielt selbst sie sich zurück und überspielte das hastig, „diese Abschlussfeier und das ist immerhin so formell! Wir wollen was auf die Beine stellen und noch mal zusammen Spaß haben!"
Nun hob sich auch Hermines andere Augenbraue in die Höhe. „Ihr wisst aber schon, dass selbst am letzten Unterrichtstag Fehlstunden in unsere Zeugnisse aufgenommen werden? Und wenn wir alle verschwinden, dann werden die Lehrer uns bestimmt nicht einfach machen lassen, sondern uns zurückholen. Das wird nicht funktionieren und außerdem", hier holte sie empört Luft, „könnt ihr auf der Abschlussfeier genauso Spaß haben!"
Ron nickte schnell. „Ja, natürlich, Hermine, das wollen wir ja auch!"
„Aber wir wollen auch was machen, wo die Lehrer nicht dabei sind. Etwas, bei dem wir nochmal so richtig …" Harry verlor den Faden und zuckte einfach nur aus Ermangelung an Fähigkeit, seine Begeisterung in Worte zu fassen, mit den Schultern.
Hermine schnaubte. „Das ist eine idiotische Idee. Das würden wir gar nicht durchsetzen können."
„Aber wieso denn nicht? Die Lehrer haben morgen sicher auch keine Lust, Unterricht zu machen. Und wir haben Flitwick, der ist in Ordnung, wenn es um so etwas geht!", protestierte Ginny.
„Es ist verboten und damit Schluss. Wir können immer noch den Hauspokal verlieren und Punkte abgezogen bekommen, verstanden?" Damit erhob sie sich. „Ich muss noch etwas für das Fest vorbereiten gehen. Schlagt euch das aus dem Kopf!"
ooooo
Die Fette Dame schimpfte, als Hermine sie beim Hinausgehen aus ihrem Schlaf riss, doch sie hörte nicht mehr auf das Bild, sondern entschuldigte sich knapp und machte sich auf den Weg zu den Schulsprecherräumen. Seit sie die Büroräume der Schulsprecher benutzen durfte, war sie immer glücklich, wenn sie sich auf den Weg dorthin machte. Heute nicht.
Innerlich schimpfte sie nämlich selbst wie die Fette Dame. Sie war genervt. Nur, weil sie bald nicht mehr auf der Schule sein würden, wollten ihre Freunde den Hauspokal aufs Spiel setzen? Oh nein, ganz bestimmt nicht. Nicht, solange sie Schulsprecherin war. Auch, wenn sie dabei die Spielverderberin sein musste, das war ihr Jahr. So was würde in ihrer Amtszeit nicht passieren.
Als sie etwas zu stürmisch die Tür aufriss, wurde sie von dem Dampfen eines Teekessels und einem seltsamen Geräusch hinter dem Sofa empfangen.
Der Raum war klein, aber gemütlich. Links von ihr gab es einen kleinen Bereich mit Arbeitsplatte, Herd und Schränken, in denen größtenteils Kaffeefilter, Früchteriegel und Studentenfutter lagerten – für die Nächte, die sich jedes Jahr jede Schulsprechergeneration mindestens einmal um die Ohren schlug. Sie selbst hatte oft genug hier gesessen und sich lediglich von Knabberkram ernährt. Rechts gab es dann den langen Versammlungstisch, auf dem sich geordnet einige Ordner und Dokumente stapelten, und daneben die kleine Sofaecke, auf der sie des Öfteren auch schon mal geschlafen hatte.
Gereizt schloss sie die Tür hinter sich, nachdem sie kurz innegehalten hatte. „Seit wann bist du hier?", fragte sie extra laut und das Geräusch hinter dem Sofa verstummte.
Erst tauchte ein verstrubbelter Haarschopf, dann ein Arm auf, der sich von der Sofalehne hochstemmte. „Noch nicht lang", stammelte Ernie mit knallrotem Gesicht.
Hermine stutzte, dann bemerkte sie seine unordentlichen Kleider und den zweiten Haaransatz, der hinter dem Sofa hervorlugte. Auch sie merkte, wie sie rot wurde, war aber etwas beruhigt, als Seamus zögernd, aber immerhin vollständig bekleidet, aufstand.
„Tut mir leid, Hermine, ich bin schon weg! Wir haben nur … nur …"
Sie winkte ab und ignorierte ihre gereizt zuckende Wange. „Schon gut. Aber ernsthaft, Ernie, du bist ein Vorbild! Mach das zumindest nicht hier, auch, wenn ihr zusammen seid!"
„Sorry, Hermine", sagte Seamus noch und küsste Ernie kurz auf die Wange, während dieser schuldbewusst nickte und seinem Freund hinterhersah, als er sich mit seinem Pullover über der Schulter verkrümelte.
Als er weg war, schenkte sie ihrem Schulsprecherpartner noch eine strenge Miene, dann goss sie das Teewasser in die zwei vorbereiteten Tassen. Wenn Seamus eh weg war, konnte sie auch seinen Tee trinken.
„Und was machst du hier?", fragte Ernie, als sie ihm die andere Tasse reichte, und sich auf einen der Versammlungsstühle fallen ließ. Wohl aus Gewohnheit hatte sie ihren sonstigen Platz gewählt.
„Ich konnte mich nicht so richtig im Gemeinschaftsraum entspannen, also dachte ich, ich nutze unseren freien Nachmittag, um noch mal den Ablaufplan durchzugehen."
„Das wollten wir doch erst heute Abend machen. Ich weiß, du magst es nicht, wenn man dir sagt, was du tun sollst, aber du solltest vielleicht auch mal Pausen einlegen."
„Habe ich ja – eben und beim Mittagessen. Aber im Gemeinschaftsraum hatte ich keine Ruhe und ich hätte mich eh nur mit dem Zauberkunst-Stoff von morgen beschäftigt."
„Was war denn im Gemeinschaftsraum?"
Sie nahm einen Schluck von ihrem Tee und blätterte nebenbei in den Dokumenten. „Die anderen hatten so eine bescheuerte Idee. Sie wollen morgen Zauberkunst schwänzen, um am See zu feiern, und glauben, dass die Lehrer ihnen das durchgehen lassen."
Ernie setzte sich ihr gegenüber. „Klingt doch lustig. Und Flitwick ist nett, er würde das schon durchgehen lassen. Ist doch normal, dass die Absolventen am letzten Tag nicht mehr normal arbeiten."
„Du redest wie Ginny. Und außerdem war das schon die letzten Wochen so, das heißt ja nicht, dass man ganz zum Schluss dann etwas Verbotenes machen muss."
Er schwieg eine Weile und musterte sie. Letztendlich schlug sie den Ordner zu, in dem sie gesucht hatte, und erwiderte mit erhobenem Kinn seinen Blick.
„Das ist albern, Ernie. Ich versteh ja, wenn sie nicht mehr arbeiten wollen", rechtfertigte sie sich. „Aber sie könnten den ganzen Kram doch auch machen, wenn es nicht gerade gegen die Regeln ist, sondern zum Beispiel heute oder morgen Nachmittag. Die Lehrer sind immerhin schon so freundlich, uns diese Woche immer die letzten drei Stunden frei zu geben." Obwohl das vermutlich weniger mit Freundlichkeit, als mehr mit Resignation zu tun hatte.
„Wenn du meinst. Aber ich finde es cool. Immerhin sind wir nur noch bis Freitag Schüler, danach können wir nicht mehr einfach so Regeln brechen." Ein Grinsen zupfte an seinen Lippen und er erhob sich mit seiner Teetasse. „Ich geh mal sehen, was Hufflepuff so macht. Wir sehen uns heute Abend."
„Regeln kann man nie einfach so brechen!", rief sie ihm noch nach, als er bereits aus der Tür verschwand. „Diese Hufflepuffs", nuschelte sie und beugte sich wieder über ihre Dokumente. „Einfach zu verständnisvoll, solange es nicht um ihr eigenes Haus geht …"
Doch sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie studierte den Ablaufplan, besah sich die Anweisungen von McGonagall nochmal, die diese ihnen als eine Art Checkliste noch gegeben hatte, und knabberte währenddessen an einem der Früchteriegel, doch sie konnte einfach nicht diese bescheuerte Idee aus ihrem Gehirn verbannen.
Schließlich gab sie es auf und ließ sich auf das Sofa plumpsen, bevor sie ihren Cardigan abstreifte und die Augen schloss. Schweißperlen rannen bereits ihren Nacken hinunter. Es war wirklich ein heißer Sommertag. Schon die ganze Zeit war das Wetter so. Mal schwül, mal trocken, mal gewittrig. Aber immer heiß.
Deshalb konnte sie die anderen Gryffindors wirklich verstehen. Die Erstklässler jagten sich am Ufer durchs Wasser, die Viertklässler veranstalteten Wasserschlachten in den Innenhöfen und die Siebtklässler wollten eben feiern. Den Sommer genießen. Wieso konnte sie das nicht? Sie gab es nur wirklich ungern zu, aber irgendwie war die Idee schon verlockend. Nur, dass sie natürlich wusste, dass sie Unsinn war. Es könnte Spaß machen, vor allem mit dem Wissen, etwas Verbotenes zu tun – zumindest verstand sie, dass andere daran Spaß hätten. Sie nicht. Sie mochte die Regeln. Sie wollte sie nicht brechen, dazu waren sie nicht da.
Und genau deshalb war es auch eine idiotische Idee! Schwänzen! Am letzten Schultag! Ganz bestimmt nicht das, was eine Hermine Granger an dem Tag tun würde, an dem sie ein letztes Mal Unterricht haben würde. Ihren geliebten Unterricht … Andere würden melancholisch bei dem Anblick des Gemeinschaftsraums und Quidditchfelds werden, sie würde das vor allem, wenn sie morgen ein letztes Mal Flitwick lauschen würde. Ein letztes Mal Notizen machen, ein letztes Mal aufzeigen und wie immer die richtige Antwort geben. Das war ihr Sommer.
Sie merkte, wie sie langsam wegdämmerte. Die Hitze und ihr (zugegeben) momentan ausgeprägter Schlafmangel machten es so leicht, einfach einzuschlafen. Sie würde diese Idee vergessen und kurz die Augen zumachen, wie man so schön sagte. Nur ganz kurz …
Und in dem Moment knallte die Tür gegen die Wand und ließ sie aufschrecken. Eine Person – ein Junge – huschte in den Raum und schloss die Tür wieder hinter sich, bevor er sich an sie lehnte und lauschte. Auf dem Gang war ein Fluchen und Schimpfen zu hören, bei dem Hermine eigentlich Punkte hätte abziehen gehen müssen, und schnelle Schritte eilten vorbei.
Als sie weg waren, seufzte der Junge erleichtert auf und drehte sich um. Verdutzt musterte er sie.
„Granger", sagte er.
ooooo
„Granger", sagte Blaise Zabini und sie konnte nicht anders, als ihn mit leicht geöffnetem Mund anzustarren. Was tat er hier? Oder war er gar nicht hier und sie schlief in Wirklichkeit noch?
Doch da hob er plötzlich die Hand vor das Gesicht und machte dieses komische Geräusch, das eine Mischung aus Schnauben, Kichern und Prusten war. „Du hast da was …", prustschnicherte er und deutete auf seinen eigenen Mundwinkel.
Verwirrt fasste Hermine an die Stelle und lief rot an. Sabber. Sie hatte gesabbert. Und Blaise Zabini hatte es gesehen! Peinlich berührt wischte sie das Beweisstück weg und sprang auf die Beine, um etwas selbstbewusster zu wirken.
„Was tust du hier?", fragte sie barsch, was gar nicht so leicht war, weil er immer noch schmunzelte.
„Hatte ein kleines Problem, das ich abhängen musste", erwiderte er lapidar. „Und du, Schulsprecherin? Nickerchen auf deine alten Tage?"
Alte … Tage? Hatte er sie gerade eine Oma geschimpft?
Vor Wut blähte sie die Nasenlöcher. „Das geht dich gar nichts an! Aber als Schulsprecherin, wie du schon so richtig bemerkt hast, geht es mich sehr wohl etwas an, wenn du etwas Verdächtiges tust. Also, was war das bitte schön?" Sie deutete auf die Tür.
Sein Lächeln ließ sich allerdings nicht in die Schranken weisen. „Etwas Verdächtiges? Drückst du dich immer so aus?"
„Ich mag es nur nicht, wenn man mir andauernd mit Gegenfragen antwortet. Ein letztes Mal: Was hast du ohne Erlaubnis in den Schulsprecherräumen zu suchen?"
„Ich verstecke mich", sagte er und schlenderte neugierig zu den Früchteriegeln, von denen er sich einen nahm und ihn, statt wie jeder normale Mensch zu essen, auf seinem Zeigefinger balancierte.
„Vor wem?"
„Meiner Schwester. Hab ihren Freund 'beleidigt'."
Stimmt, sie erinnerte sich dunkel an eine weitere Zabini auf Hogwarts. Sie war in der Fünften oder so und ging mit einem Ravenclawspieler, über den Ginny sich oft aufregte, weil er zu Fouls neigte.
„Dafür sollte ich dir eigentlich Punkte abziehen", sagte sie kalt und schritt auf ihn zu, um ihm den Früchteriegel abzunehmen.
„Dafür, dass ich ihr die Wahrheit über den Armleuchter gesagt habe? So streng kannst selbst du nicht sein, Granger. Obwohl …" Sein Blick glitt über ihre bis oben hin zugeknöpfte Bluse, den Rock, den sie im Gegensatz zu den anderen Mädchen auf normaler Länge trug, und die graue Strumpfhose.
Augenblicklich fühlte sie sich unwohl und trat schnell zurück, um nicht so klein neben ihm zu wirken. Wenigstens das nicht, denn auch ansonsten strahlte er diese typische Gelassenheit eines Menschen aus, der sich viel zu wohl in seiner Haut fühlte. Deshalb hatte sie vermutlich nie etwas mit ihm zu tun. Und wegen der kleinen Tatsache, dass er ein Slytherin war. Zugegeben, ein gut aussehender Slytherin, mit dieser olivfarbenen, gebräunten Haut, den dunkelbraunen Haaren und den dunklen Augen. Und schlau war er auch, zumindest gemessen daran, dass er direkt hinter ihr in der Notenrangfolge stand. Aber eben ein Slytherin.
„Dafür sollte ich dir wiederum Punkte abziehen. Du solltest etwas respektvoller sein. Und jetzt verlass, bitte, diese Räume. Du hast hier keinen Zutritt."
„Wie, du lässt mich davonkommen? Obwohl du ansonsten immer ach so regelverliebt und streng bist? Sollte ich mich geehrt fühlen?"
„Okay, das reicht", sagte sie mit schneidender Stimme. „Fünf Punkte Abzug für Slytherin. Und jetzt raus hier."
Zabini hob lachend die Arme und ging Richtung Tür. Gerade, als sie schon dachte, er würde an ihr vorbeigehen, wandte er sich aber plötzlich um und blieb dicht vor ihr stehen. „Und was, wenn ich nicht gehe?"
„Dann ziehe ich dir noch mehr Punkte ab", meinte sie defensiv und machte, ihre Abneigung verdeutlichend, einen Schritt zurück.
„Und wenn ich dann immer noch nicht gehe?", fragte er mit dunkler Stimme und beugte sich etwas zu ihr hinunter, während er die Distanz wieder aufholte.
Hermine schluckte und tastete nach ihrem Zauberstab. Das gefiel ihr überhaupt nicht. „Dann darfst du dich auf Nachsitzen bei Filch freuen."
Ein Duft stieg ihr in die Nase, der sie etwas schwindelig werden ließ. Es roch wie ein Sommerabend … nur süßer, herber. Erst hier wurde ihr klar, dass es sein Geruch war. Ihr Blick traf auf seinen und sie verhakten sich ineinander. Verdammte Hormone … aber er hatte echt ein fesselndes Gesicht.
„W-Was glaubst du eigentlich, was du da tust?", fragte sie rau.
„Ich teste meine Grenzen aus. Solltest du vielleicht auch mal probieren …" Damit zwinkerte er ihr zu und trat urplötzlich zurück. Es war, als wäre sie aus einer Trance gerissen worden. Er ging zur Tür und mit der Hand auf der Klinke drehte er sich nochmal um. „Oder vielleicht … hast du auch einfach zu viel Angst?"
Und mit einem „Wir sehen uns, Schulsprecherin" ließ er sie zurück. Sie atmete schwerfällig aus. Was war das denn gewesen? Was dachte der sich? Sie hatte ja wohl keine Angst. Wovor auch? Er benahm sich lächerlich.
Obwohl er für einen Slytherin ganz schön umgänglich war – er hätte sie auch beschimpfen oder angreifen können. Hatte er aber nicht. Trotzdem würde sie sich von ihm fernhalten.
ooooo
An diesem Abend betrat sie erst spät den Gemeinschaftsraum, denn Ernie und sie hatten letztendlich doch noch ein paar Details ändern und genau absprechen müssen. So war es später geworden, vor allem, da Ernie auch noch weggemusst hatte und sie den Rest allein hatte erledigen müssen.
Müde massierte sie sich nun im Gehen die Schulter und schleppte sich zur Treppe zu den Schlafsälen, als ihr ein kleiner Schatten auf der Fensterbank auffiel, der nun auf sie zuhuschte. Sie lächelte und beugte sich zu ihm hinunter.
„N' Abend, Krummbein. Hast du etwa auf mich gewartet?" Der Kater maunzte halb schnurrend und rieb den Kopf an ihrer Hand, während sein pelziger Schwanz träge Bewegungen machte.
„Die anderen sind wohl alle schon schlafen. Kommst du mit nach oben? Ich bin etwas erschöpft", murmelte sie und gähnte. Er hob nur noch kurz die Pfote und kratzte sie in seiner typischen Art, dann schritt er davon.
Sie sah ihm nachdenklich nach. Er wartete immer, wenn sie spät kam. Das hatte er früher nie, aber seitdem sie allein und nicht mit Harry und Ron von einer nächtlichen Mission zurückkehrte, war er immer da. Hermine wusste nicht ganz, was sie davon halten sollte, aber sie freute sich jedes Mal.
Ausgelaugt machte sie sich nun auf den Weg nach oben und zog sich möglichst leise um, bevor sie ins Bett fiel. Sie war so müde, dass sie gerade noch einen Blick auf ihren Wecker werfen konnte. In sieben Stunden musste sie aufstehen.
ooooo
„Geht's dir gut?", fragte Ginny am nächsten Morgen besorgt.
Sie lächelte verspannt und nickte. Sie waren gemeinsam auf dem Weg zum Frühstück, den Jungs hinterher, die schon vorgerannt waren.
„Klar, mir geht's prima. Hatte nur etwas wenig Schlaf."
Ihre Freundin verzog ungläubig das Gesicht, sagte aber nichts mehr dazu. Sie wusste, dass sie das gar nicht mehr brauchte, denn es hatte sowieso keinen Sinn. Auch, wenn Hermines Gesicht Augenringe zierten, die erst nach den ersten zwei (oder drei) Kaffees verschwanden.
Sie betraten die Halle und ließen sich gegenüber von Ron und Harry nieder, die bereits eifrig Pfannkuchen mit Marmelade mampften und sich gleichzeitig über Quidditch unterhielten. Was Multitasking anging, war dies eine ihrer meist genutzten Leistungen.
„Hier", sagte Neville neben ihr und reichte ihr ihre Ausgabe des Tagespropheten. Sie dankte ihm und blätterte ihn auf. Seit dem Sturz von Voldemort waren meist nur noch Nachrichten über Verhandlungen und Verurteilungen von Todessern, kleinere Verbrechen oder der neusten Klatsch und Tratsch Rita Kimmkorns darin. Deshalb übersprang Hermine den größten Teil meist und sah sich als Erstes den Wirtschaftsteil an.
Sie hatte schon öfter in der Vergangenheit mit dem Gedanken gespielt, einmal wie Bill bei Gringotts zu arbeiten, aber letztendlich hatte sie sich für ein Studium an einer der größten Magischen Universitäten Englands beworben. Nämlich an der Fakultät Heilung mit den Hauptfächern Zaubertränke und Fluchheilung. Nebenbei würde sie ein Praktikum im St. Mungos machen, zusammen mit Dean, der allerdings nur eine Ausbildung ohne Studium machen wollte.
Harry und Ron würden hingegen mit einem großen Teil der Widerstandskämpfer ins Ministerium kommen und sich der Aurorenabteilung anschließen, Ginny hatte bereits einen Platz im Team der Holyhead Harpies sicher und Ernie würde in die Abteilung für Strafverfolgung gehen. Auch darüber hatte sie nachgedacht, doch sie wollte eigentlich nicht im Ministerium arbeiten.
Als ihr Magen knurrte, legte sie den Propheten schnell zur Seite und griff sich ein Brötchen und die Schale mit Gurken. Normalerweise machte sie sich gern Sandwiches zum Frühstück, heute hatte sie aber wohl keine Zeit dazu, denn ihr Hungergefühl nagte an ihr.
Sie nahm gerade den ersten Bissen, als Ginny fragte: „Seid ihr fertig, Jungs?"
Harry und Ron nickten und erhoben sich mit ihrer Freundin, die doch tatsächlich ebenfalls ihre Müslischale bereits geleert hatte. „Wir gehen schon mal vor, Hermine, wir müssen noch etwas erledigen."
Die Braunhaarige runzelte die Stirn, doch da waren ihre Freunde schon losmarschiert. „Was wollt ihr um die Uhrzeit denn noch erledigen? Der Unterricht fängt doch gleich an!", rief sie ihnen nach, aber Ginny winkte lediglich noch.
Hermine schüttelte verwundert den Kopf und beugte sich wieder über den Zeitungsartikel. Ein paar Minuten später kleckerte sie mit ihrem Kaffee und fluchte innerlich, doch sie hielt inne, als ihr etwas auffiel. Im Aufsehen hatte sie bemerkt, dass praktisch niemand mehr ihres Jahrgangs anwesend war. Es war noch früh – bis zum Unterricht war noch genug Zeit, dass die Siebtklässler in Ruhe frühstücken konnten. Das war komisch, denn normalerweise vertrödelten sie jede letzte Minute, bevor sie losgingen …
„Was …?", murmelte sie und schwang kurz ihren Zauberstab Richtung Kaffeefleck. Dann erhob sie sich und sammelte ihre Sachen zusammen. Sie war eh fertig und würde dem jetzt auf den Grund gehen.
Entschlossen stapfte sie los und musste auf dem Weg zweimal anhalten und Schüler zurechtweisen. Als sie dann beim Zauberkunstklassenzimmer ankam, war der Raum leer. Selbst Flitwick war noch beim Frühstück, obwohl es nur noch fünf Minuten waren. Das war wirklich alles sehr merkwürdig, geradezu verdächtig.
Aber sie hatte Ron und Harry doch bereits gesagt, dass diese Idee mit dem Schwänzen Unsinn war. Sie würden doch nicht … Nein, würden sie nicht. So etwas taten ihre Freunde nicht, zumindest nicht, wenn sie damit sie selbst allein lassen würden. Das wäre hinterhältig und niemand in Gryffindor war hinterhältig. Außer vielleicht Lavender, wenn es um die Badezimmerzeiten ging.
„Es wird schon nichts sein", dachte sie laut und entschlossen und begann, ihre Sachen auszupacken. Dann setzte sie sich an ihren Platz in der letzten Reihe (wo sie Ron und Harry zuliebe saß) und schlug ihr Zauberkunstbuch auf. Sie hatte eh noch diesen Absatz zu Ende lesen wollen …
Die Minuten verstrichen. Langsam wurde sie unruhig. Mit einem besorgten Blick auf die Uhr stellte sie fest, dass weder die Slytherins, mit denen sie diesen Kurs hatten, noch ihre Hausgenossen, noch Flitwick anwesend waren. Mit den Augen verfolgte sie den Sekundenzeiger, dann hörte sie die Schulglocke. Der Unterricht hatte begonnen. Und sie war noch immer allein.
Hermine knirschte mit den Zähnen. Sie fühlte sich etwas verraten. Was sollte das? Was war los? Aufgebracht schnappte sie sich ihren Kram, verstaute ihn wieder in ihrer Tasche und marschierte auf die Tür zu. Die sich in diesem Augenblick öffnete. Schnell sprang sie zurück, um nicht getroffen zu werden, und sah sich Angesicht zu Angesicht Blaise Zabini gegenüber. Schon wieder.
„W-Was tust du hier?", stotterte sie überrascht und griff sich erschrocken an die Brust.
Zabini schmunzelte. Er trug nicht seine Schuluniform, sondern ein dunkelblaues Shirt und … Badehosen? Ja, Badehosen, denn eine fröhliche Palme winkte ihr von seinem Oberschenkel entgegen. Sie starrte ihn an.
„Was bei Merlins …?", setzte sie an, doch er lehnte sich nur an den Türrahmen und legte den Kopf schief.
„Was glaubst du denn, Granger?"
Sie verzog das Gesicht und machte schon einen Schritt auf ihn zu, um sich an ihm vorbeizudrängen. „Ich habe keine Lust auf deine Spielchen, also würdest du-"
„Schon gut, schon gut." Er nahm ihr Handgelenk und senkte den Kopf, sodass sie beinahe auf Augenhöhe waren. „Ist aber eine kleine Geschichte."
„Lass mich los und rück mit der Sprache raus." Er ließ sie tatsächlich los.
„Nun, das gestern war nicht meine Schwester", meinte er lässig und strich ihr flinker, als sie hätte reagieren können, eine Haarsträhne hinters Ohr.
Hermines Mundwinkel zuckte mal wieder gereizt. „Und weiter?"
„Es war Ginny Weasley, die ihrem Bruder nachgejagt ist, weil der von meiner Idee nicht begeistert war."
„Von welcher Idee? Und was hast du mit Ginny und Ron zu tun?"
„Und Potter", ergänzte er und schien an dem Ganzen ziemlichen Spaß zu finden. „Ich bin den dreien zufällig begegnet und sie haben mir von ihrer Idee erzählt, die du abgeschlagen hast. Also hatte ich eine Idee."
„Du redest wirr, Zabini, die drei hätten keinen Grund, mit dir zu sprechen. Komm endlich zum Punkt und sag mir, wovon du eigentlich redest!"
„Dann komm mit und du erfährst es", grinste er und trat auffordernd einen Schritt in den Gang zurück.
Hermine zögerte. Was war das denn bitte schön für eine dämliche Geschichte? Und wieso waren ihre Freunde, geschweige denn Flitwick, noch nicht hier? Das könnte natürlich eine Falle sein, aber wenn er doch was wusste … Auch, wenn Zabinis Geschichte sich als Schwindel herausstellen sollte … sie wollte das alles hier wirklich wissen!
Sie seufzte und könnte sich für ihre Entscheidung selbst gegen die Stirn schlagen. „Schön", resignierte sie. „Aber mach's kurz."
Er lächelte. „Wie du wünschst."
