John
Ich hatte es ja fast befürchtet... Eigentlich hatte ich vor, diesen Samstagabend mit Sarah zu verbringen. Die Kinokarten hatte ich schon vor drei Tagen gekauft und auch einen Tisch in einem netten Restaurant für danach reserviert. So der Plan... Stattdessen jage ich einem Killer quer durch London hinterher. Nur weil ich wieder einmal nicht Nein zu Sherlocks Bitte sagen konnte, ihn zu begleiten. Bitte ist das falsche Wort. Für Sherlock ist es selbstverständlich, dass ich helfe. Er denkt, dass ich für ihn alles stehen und liegen lasse, ohne Wenn und Aber. Und wie ich heute mal wieder eindrucksvoll bewiesen habe, hat er damit völlig recht. Ich könnte mich schwarz darüber ärgern... Warum um alles in der Welt folge ich diesem Mann, meinem Mitbewohner, diesem exzentrischen Genie überall hin? Ich verstehe es einfach nicht. Ja okay... Durch Sherlock weiß ich, dass ich die Gefahr liebe. Diesen Teil meiner Persönlichkeit habe ich verstanden und auch akzeptiert. Aber rechtfertigt das wirklich, dass selbst ein netter Abend mit Sarah da nicht mithalten kann? Ich verstehe es einfach nicht...
Wir rennen immer noch. Der Killer ist schneller als angenommen und wir können den Abstand einfach nicht aufholen. Jetzt rennt er in eine Nebenstraße. Ich renne hinterher, dicht gefolgt von Sherlock. Jetzt passiert auf einmal alles super schnell: Es ist eine Sackgasse, der Killer zieht die Notfalltreppe des Gebäudes runter und klettert hinauf. Ich folge ihm... Auf einmal fallen Schüsse... Ich klammere mich fest... Die alte, rostige Leiter fängt gefährlich an zu quietschen... Und bricht an einer Scharniere ab. Ich verliere das Gleichgewicht und falle... Auf Sherlock...
Da liegen wir nun... Sherlock halb auf dem Rücken und ich bäuchlings auf ihm drauf, mein Gesicht seitlich auf seiner Brust... Ich höre meinen eigenen, rasanten Herzschlag in den Ohren. Bestimmt durch das Adrenalin hervorgerufen... Die Schüsse hören auf... Der Killer konnte ärgerlicherweise über das Dach fliehen. Ich hebe meinem Kopf an und starre direkt in Sherlocks Augen, unsere Gesichter nur wenige Zentimeter von einander entfernt. Ich kann nun Details auf seiner Alabasterhaut erkennen, die mir vorher noch nie aufgefallen sind: ganz feine Linien ums Auge, vage Andeutungen von Sommersprossen, einen Hauch von Rosa auf seinen Wangen, verursacht durch das anstrengende Rennen durch Londons nasskalten Straßen. Plötzlich wandelt sich das Rosa in ein sattes Rot und mir wird mit einem Schlag bewusst, was ich hier grad tue: Ich starre Sherlock Holmes an und bewundere seine Schönheit. Was? Hab ich das wirklich grad gedacht? Oh mein Gott... Was passiert hier mit mir? Meine Atmung wird immer schneller... Peinlich berührt lass ich meine Augen langsam zu Sherlocks wandern... Sein Blick ist eine Mischung aus Erstaunen, Verärgerung und... Schmerz? Wieso Schmerz... Hat er sich verletzt? Ich war so von der körperlichen Nähe zu Sherlock abgelenkt, dass ich die Schüsse völlig vergessen habe. Ich winkel die Knie an und bewege langsam meinen Oberkörper nach oben. Nun sitze ich quasi zwischen Sherlocks Beinen und er liegt immer noch halb unter mir.
„Bist du verletzt?" frage ich mich kratziger, leiser Stimme.
Sherlock macht den Eindruck, als wenn er vergessen hat, wie man spricht. Er räuspert sich und stammelt: „Ähm.. Ja... Er... ähm hat mich am rechten Arm getroffen."
„Oh mein Gott. Zeig her!" Vorsichtig betrachte ich die Stelle. 'Gott sei Dank nur ein Streifschuss' stelle ich erleichtert fest. Ich helfe Sherlock auf und wir starren uns kurz wortlos an. Als erstes finde ich meine Stimme wieder:
„Es ist nur eine Streifwunde. Allerdings sollte diese behandelt werden. Da ich weiß, dass du kein großer Fan von Krankenhäuser bist, schlage ich vor, dass wir schnellsten zurück nach Hause gehen und ich selber deine Wunde verarzte. Den Killer haben wir jetzt eh verloren, also versuch erst gar nicht, die Wunde klein zu reden."
„Zu Befehl, Herr Doktor." sagt Sherlock in einem Ton, der sarkastisch klingen sollte. Typisch Sherlock... Nur war seine Stimme etwas zu kratzig, tief und leise...
Wir sind nicht weit von 221 B Bakerstreet entfernt und entscheiden, dass wir die fünf Minuten zurück laufen können. Sherlock blutet nämlich Gott sei Dank nicht all zu stark. Wir reden kein einziges Wort auf dem Rückweg. Jeder von uns beiden tief in seinen eigenen Gedanken versunken..
