Earendil war ein großer Seefahrer und Held der Altvorderenzeit, Sohn des Tuor, Sohn des Huor, und der Idril Celebrindal, Tochter des Turgon, und Erbe des Verborgenen Königs von Gondolin. In Gondolin aufgewachsen, hatte er den Fall dieser einzigartigen Stadt miterlebt, dem Heldenmut seines Vaters hatten er und viele andere Flüchtlinge ihr Leben zu verdanken. Sie flohen weit fort und kamen schließlich nach Arvernien, wo sie Freundschaft schlossen mit den Elben von Balar, Círdans Volk, und sich zusammentaten mit den Flüchtigen aus dem gefallenen Königreich Doriath, nur kurz vor ihnen eingetroffen.
Unter diesen befand sich Elwing, Schwester der verschollenen Zwillinge Eluréd und Elurín, Tochter von Nimloth und Dior Eluchíl, Thingols Erbe, Sohn von Lúthien Tinúviel und Beren Erchamion. Sie war in einer sternenklaren Nacht geboren, als das Licht der Gestirne in den fallenden Wassern von Lanthir Lamath schimmerte, und in ihrem Gesicht spiegelte sich jenes Licht wieder, mehr noch, denn sie trug den Silmaril, den Beren einst mit eigenen Händen aus Morgoths schwerer Eisenkrone brach.
An den weißen Gestaden von Arvernien trafen sie sich, und groß war ihre Liebe und alsbald vermählten sie sich, die Schrecken von Gondolin und Doriath für einige Zeit vergessend. Ihrer beider Völker verschmolzen zu einem und Earendil war ihr Fürst. Sie hielten enge Freundschaft zu Círdan dem Schiffbauer und oft kamen die Elben von Balar zu ihnen nach Arvernien.
Im Jahre 532 des Ersten Zeitalters wurden Earendils und Elwings Zwillingssöhne geboren, und eine Zeit lang war alles gut.
Doch sollte dieser Friede nur wenige Jahre später verwehen wie herbstliches Laub im Wind, als Feanors letzten Söhnen, den Zwillingen Amrod und Amras sowie Maedhros und Maglor, bekannt wurde, dass sich der Silmaril von Doriath in Elwings Besitz befand. Und ihr Eid band sie noch immer …
Man nannte Earendil nicht umsonst den Seefahrer, denn sein Herz schlug für die Schifffahrt. Einst hatte Ulmo Tuor, Earendils Vater, zu seinem Werkzeug erkoren, um den Fall von Gondolin zu verhindern, doch stand dem schlussendlich Turgons Stolz im Weg, der Stolz seines Volkes, von dem auch er am Ende nicht frei war. Die Liebe zum Meer war Tuor dennoch ins Herz gelegt, und ebenso war es bei seinem Sohn.
So geschah es, dass Tuor und Idril im Jahre 525 mit ihrem Schiff Earráme übers Meer fuhren und aus den Geschichten verschwanden. Doch heißt es, dass sie das Segensreich erreicht hatten und Tuor allein unter den Edain zu den Erstgeborenen gezählt wurde, so sehr wurden seine Taten geschätzt und geehrt. Doch Earendils Denken war mehr und mehr auf den Westen gerichtet, den er nicht erreichen konnte. Seine Seefahrten wurden häufiger und länger, stets angetrieben von seinem Verlangen nach dem unerreichbaren Land und seiner furchtlosen Suche danach.
Elwing aber hasste den Anblick des am Horizont verschwindenden Segels, hieß dies doch, dass ihr Gemahl erneut für lange Zeit fort sein würde. Dies war so ein Tag.
Die Herrin von Arvernien stand an einem Fenster in Earendils Haus, das für sich und erhöht auf einem Hügel stand, sodass sie von dort die Stadt den Hafen und das Meer überblicken konnte. Es war ein schönes, großes Haus mit einem gepflegten Garten und lichtdurchfluteten Räumen. Doch heute schien Elwing das Haus zu groß, zu leer. Earendil fehlte. Lange sah sie dem kleiner und kleiner werdenden Schiff nach; wie immer an solchen Tagen schwiegen die Glocken in der Stadt und das geschäftige Treiben ihrer Bewohner hielt inne. Die Möwen kreisten über dem Hafen und schrien klagend, als würden auch sie Earendils Abfahrt bedauern.
Plötzlich hörte sie hinter sich ein verschlafenes Wimmern. Hastig wandte sie sich um und zu dem kleinen Bettchen. Darin schlummerten friedlich ihre kleinen, noch immer namenlosen Zwillingssöhne. Einer der Jungen hatte das Gesicht verzogen. Elwing redete auf ihn ein, strich ihm über den Kopf und zupfte die Decke über den Kindern zurecht. Sie lächelte selig, als ihre Söhne bald darauf ruhig weiterschliefen.
„Habt Ihr nun einen Namen für sie?", fragte die Amme der beiden, die wie immer nahebei war.
„Nein", sagte Elwing ohne von ihren Söhnen aufzublicken. „Aber wie könnte solche Schönheit nur einen passenden Namen erhalten?"
Nun lächelte auch die Amme. „Ja, wie könnte sie?"
Es klopfte an der Tür, und auf Elwings Ruf hin trat ein Elb ein. „Herrin, der Hohe König Gil-galad ist hier", sagte er.
Sie sah ihn erstaunt an; was mochte Gil-galad hier nur suchen? Als sie zum Fenster trat, sah sie, wie Vingilot von ihrem Kurs abfuhr und auf ein großes Schiff Círdans, von Balar kommend, zuhielt, um es in Empfang zu nehmen. Über Círdans Schiff wehte die Flagge des Hohen Königs. Alsbald schwenkte es ab und hielt auf den Hafen zu, während Vingilot weiter hinaus auf das Meer fuhr.
„Ich werde ihn hier in Empfang nehmen", sagte Elwing. „Hab Dank."
„Mir Eurer Erlaubnis werde ich den Hohen König hierher begleiten." Auf Elwings Nicken hin verbeugte sich der Elb und ging aus dem Raum.
Indes richtete Elwing sich rasch her für den überraschenden Besuch Gil-galads. Ihre Söhne ließ sie in guten Händen bei der Amme. Dann eilte sie in das Atrium des Hauses, wo sie Gil-galad empfangen würde. Ob es ein offizieller Besuch war oder ein rein freundschaftlicher?
Einige Zeit später wurde ihr die Ankunft des Hohen Königs angekündigt. Sie winkte ihn herein und Gil-galad trat vor sie. Er war von edlem noldorischen Blut, hochgewachsen und schön. Bei sich trug er seinen Speer Aeglos und die Rüstung, die ihm seinen Namen verliehen hatte: Sternenschein.
„Elwing!", rief er freudig aus und kam lächelnd auf sie zu. „Es ist doch immer wieder eine Freude, deinen Anblick genießen zu dürfen. Du wirst von Tag zu Tag schöner, doch was erwartet man auch Anderes von der Enkelin Lúthiens?" Er beugte sich zu einem Handkuss herab.
„Du schmeichelst mir", sagte Elwing und vollführte einen anmutigen Knicks. „Doch sei mir willkommen in meinem bescheidenen Heim. Was darf ich dir anbieten? Wasser, Wein, etwas Gebäck?"
Sie führte ihn zu einem Tisch, von wo aus sie das Meer erblicken konnten. Gil-galad nahm zunächst einen kräftigen Schluck Wein und nahm sich dann einige Weintrauben. Elwing begnügte sich mit dem Wasser. Der König ließ den Blick über das Land schweifen.
„Es grünt und ist fruchtbar", sagte er an Elwing gewandt. „Das Volk ist gut genährt, ihm fehlt es an nichts."
„Nur an der Wurzel", sagte Elwing.
„Ja …" Kurz darauf fuhr Gil-galad fort: „Ich hörte, ihr seid Eltern geworden."
Ein seliges Lächeln stahl sich auf Elwings Lippen. „Zwei kräftige Söhne, Zwillinge."
Gil-galad grinste. „Das scheint mir in der Familie zu liegen. Darf ich sie sehen?"
„Natürlich!", versicherte Elwing und schickte einen Diener los, die Amme mit ihren Söhnen zu holen.
Ernst legte sich wieder auf das Gesicht des Königs. „Hast du indes etwas von Eluréd und Elurín gehört?", wollte er wissen.
Elwings Miene erstarrte. „Nein. Meine Brüder sind und bleiben verschollen. Und um ehrlich zu sein … ich habe die Hoffnung aufgegeben, dass sie gefunden werden. Sie waren damals ja beinahe noch Kinder, als wir geflohen sind."
Gil-galad lehnte sich vor und legte ihr kraftgebend eine Hand auf die Schulter. „Es gibt immer Hoffnung", sagte er. In dem Moment erschien die Amme mit den Zwillingen, und seine Miene hellte sich auf. „Ah! Da sind sie ja!"
Elwing nahm der Amme ihre Söhne ab, und Gil-galad stellte sich neben sie, um den Säuglingen in die kleinen verkniffenen Gesichtchen sehen zu können. Sie reichte ihm einen. Zunächst schien Gil-galad überfragt, dann jedoch nahm er das Kind vorsichtig auf den Arm. Er schien verzückt über die Handvoll Halbelb.
„Wie süß!", meinte er.
Elwing lachte. „Und das aus dem Mund eines Mannes!", rief sie aus, während sie sich wieder setzte. Gil-galad tat es ihr gleich. „Du hattest meinen Gemahl erleben müssen, als sie gerade erst geboren waren. Er traute sich nicht einmal, sie anzufassen, aus Angst, sie würden zerbrechen!"
„Wer würde das nicht denken bei so einem kleinen, verletzlichen Wesen?", entgegnete Gil-galad.
Das Kind, das er auf dem Arm hielt, blinzelte und öffnete ein klein wenig die Augen. Es schien den König erst nur missbilligend aus seinen verschlafenen Augen zu mustern, dann aber wurde es munterer. Es begann zu zappeln, quengelte und lachte Gil-galad dabei an. Er kitzelte es, worauf es vergnügt quietschte.
„Sie sind ein Segen", stellte er fest.
Elwing gab ihrem Sohn einen Kuss auf die Nase und kraulte ihn. Das Kind schmiegte sich wohlig lächelnd an sie. „Oh ja, das sind sie!"
„Wie hast du sie genannt?", wollte Gil-galad wissen.
„Sie haben noch keine Namen", entgegnete Elwing. „Ich konnte mich noch nicht für einen passenden entscheiden." Mit einem Male ernst sah sie den König an. „Warum bist du gekommen?"
Er befreite eine Haarsträhne aus der kleinen aber erstaunlich kräftigen Kinderfaust. „Wegen des Feindes", sagte er schlicht. Dann lehnte er sich auf dem Stuhl zurück. „Sämtliche Reiche der Eldar sind gefallen, zuletzt sogar das Verborgene Königreich von Gondolin. Ich lebe im Exil, wir alle leben im Exil, nur noch diese letzte Bastion steht noch. Doch kann sie standhalten?"
„Wir sind tapfer und werden bis zum Letzten kämpfen", sagte Elwing. „Wir sind entwurzelt doch nicht ohne jegliche Hoffnung."
„Diese liegt im Westen", gab Gil-galad zu bedenken. „Die Noldor sind verbannt und können nicht nach Aman. Niemand kann dies."
„Es heißt, Tuor und Idril haben es erreicht", erwiderte Elwing. „Und Earendil ist ihr Sohn. Unermüdlich sucht er nach einem Weg, auch wenn er schmerzlich oft und lange von mir getrennt ist. Wenn er den Weg und die Gnade der Valar nicht findet, dann niemand."
„Ihr werdet stehen und kämpfen, doch werdet ihr auch standhalten, wenn Morgoth zuschlägt?", sagte Gil-galad. „Ihr seid nur wenige … Doch noch immer gibt es die Feanorer. Zwar haben auch sie ihre Reiche verloren – und teils ihr Leben – und streunen nun durch die Wildnis, doch sind sie noch immer stark. Werden sie uns beistehen? Ich denke, Maedhros mindestens würde meinem Ruf folgen. Er war sehr gut Freund mit meinem Vater, bis dieser den Tod fand, und auch jetzt noch, denke ich, wird Maedhros an dieser Freundschaft festhalten. Und seine Brüder stehen hinter ihm."
„Sie!" Erbost sprang Elwing auf. Ihr Sohn erschrak und wimmerte. Erschrocken über ihre eigene Heftigkeit beruhigte sie ihn. Dann wandte sie sich mit blitzenden Augen an Gil-galad. „Bist du nur gekommen, um mir das zu unterbreiten? Sie sind Mörder und Verräter an ihrem eigenen Volk! Sie töteten meinen Vater und überließen meine Brüder dem Tod in der Wildnis! Ich werde mit ihnen nicht zusammenarbeiten!"
„Elwing, du musst!", sagte Gil-galad mit Nachdruck. „Du wirst müssen, wenn der Feind zum letzten vernichtenden Schlag ausholt, ob du nun willst oder nicht. Ja, ich weiß, was du fühlst, auch ich verlor Vater und Heimat in der Nirnaeth Arnoediad, und doch müssen wir all unsere Kräfte zusammen ziehen."
„Sie sind meine Feinde und ich bin ihr Feind, denn ich besitze den Silmaril, den sie begehren. Sie werden nicht mit mir zusammenarbeiten."
„Auch sie wissen, dass sie es tun müssen, wenn unser Ende bevor steht."
„Earendil wird die Hilfe der Valar erbeten …" Doch selbst Elwing hörte, wie schwach diese Worte klangen.
„Ihr Eid wird sie treiben", sagte Gil-galad.
„Doch wohin?", fragte Elwing.
In dem Moment betrat ein Elb den Raum und meldete sich zurückhaltend zu Wort: „Meine Herrin?"
„Welche Neuigkeiten bringst du?", forderte sie ihn auf zu sprechen.
„Prinz Maedhros bring Nachricht an Euch", sagte er mit einer Verbeugung und reichte ihr einen versiegelten Brief.
Gil-galad warf ihr einen langen Blick zu.
Elwing brach das Siegel und las den Brief. Sie seufzte schwer und reichte Gil-galad mit finsterer Miene den Brief. Besorgt las er ihn. Er sah auf.
„Ich werde sofort aufbrechen und mit Verstärkung wiederkehren", versprach er. Denn er kannte Maedhros gut …
Ein Heer lagerte in den Wäldern Arverniens, verborgen vor den wachsamen Augen der Stadt. Die Soldaten waren Elben. Ihre vier Heerführer saßen auf großen, stolzen Pferden und blickten zu der Stadt hin. Drei von ihnen besaßen kupferrotes Haar, der vierte war rabenschwarz.
„Muss das wirklich sein?", fragte Amras.
Sein ältester Bruder wandte sich ihm zu. Seine einzige linke Hand lag auf den Griff seines großen Schwertes. Maedhros' Augen blitzen auf. „Ja, das muss es", entgegnete er. „Elwing wird ablehnen, denn sie hasst uns." Und das mit Recht, fügte er in Gedanken verbittert an. „Unser Eid gilt aber noch immer, und wie anders als mit unseren Waffen könnten wir ihn erfüllen? Elwing hat ebenso wie jeder anderer kein Recht auf unsere silmarilli, und wir müssen sie uns zurückholen." Leiser fügte er an: „Für unseren Vater und unsere Brüder."
Maglor richtete sich im Sattel auf. „Seht, unser Bote kehrt wieder", sagte er und deutete voraus. „Und hoffentlich mit Nachricht von Elwing."
„Wünschen wir ihr, dass sie richtig entschied", warf Amrod ein.
Sie verfielen in Schweigen und warteten auf die Ankunft des Boten. Rasch war er näher geritten. „Sie sagte nein", rief er ihnen zu, als er nahe des Waldes war.
„Dann werden wir angreifen", beschloss Maedhros mit einer Endgültigkeit in der Stimme, die seine Brüder schaudern ließ.
„Bist du wirklich sicher?", gab Amras noch einmal zu bedenken.
„Earendil ist vor einiger Zeit aus dem Hafen gesegelt und wird so schnell nicht wiederkehren. Seine Abfahrt wird einige der besten Soldaten gebunden haben", erklärte er. Dann wandte er sich an den Boten. „Was ist mit Gil-galad?"
„Er ist ebenfalls vor kurzer Zeit abgereist", sagte dieser.
„Warum bloß?", fragte sich der älteste der Feanorer. Doch tief in sich drinnen war er darüber unendlich erleichtert. Fingon war sein bester Freund gewesen, und sich gegen dessen Sohn zu stellen, hätte er niemals ertragen können.
„Er wird wissen, was wir vorhaben, und ist nach Balar zurückgekehrt, um Verstärkung zu holen", vermutete Maglor.
„Dann werden wir im Schutz der Nacht angreifen", fällte Maedhros seinen Entschluss. „Schlagt unser Lager im Wald auf!"
Amrod wandte als Letzter sein Pferd um. Mit einem letzten Blick auf die Stadt murmelte er: „Mir ist und bleibt nicht wohl bei der Sache."
Maedhros ließ es sich in keinster Weise anmerken, doch auch er dachte so.
Das Heer lagerte tiefer im Wald, jeder der vier Heerführer begab sich zu seinen Männern. Um die Bedrückung zu vertuschen, scherzten Amrod und Amras lauthals mit ihren Leuten, so mancher Weinkrug wurde herumgereicht und hob die Stimmung. Maglor hatte zu seiner Harfe gegriffen und spielte eine melancholische Weise, zu der er mit seiner reinen Stimme sang. Nur Maedhros saß still und für sich an einem Feuer und starrte in die Flammen. Tief in Erinnerungen versunken, ließ er seine Gedanken schweifen. All die Taten, die sie begangen hatten, all das Leid, dass sie verursacht hatten, es machte ihm zu schaffen, und er reute schon lange, den Eid geschworen zu haben, der ihn doch aber so unerbittlich antrieb. Seine Hand und drei seiner Brüder zu verlieren war wohl nur eine geringe Strafe. Wäre der Tod angemessen?
Was ihn zu der Frage führte: Suchte er den Tod?
Ja, er war verbittert und verhärmt. Er war ganz und gar nicht glücklich mit dem, was er in seinem Leben erreicht hatte. Doch würde er, um allem ein Ende zu bereiten, so weit gehen? Er wusste es nicht …
„Heerführer Maedhros?", hörte er einen seiner Männer sagen. Er schreckte auf. „Heerführer Maedhros", wiederholte der Elb, „macht Euch keine Sorgen, Ihr tut das richtige. Die dort", – er deutete in Richtung der Stadt –, „enthalten Euch und Euren Brüdern Euer Eigentum vor. Sie sind ebenso Diebe wie Morgoth Bauglir."
Maedhros lächelte schwach. „Ja, das sind sie wohl", sagte er leise. Doch so recht daran glauben tat er nicht. War es wirklich das Richtige?
Vielleicht gab es nur einen Weg, dies herauszufinden: allein den voran. Es gab für ihn doch stets allein ein Voran, nie ein Zurück. Nie hatte er Halt machen können vor den Dingen, die er mit seiner Familie vor langer Zeit ins Rollen gebracht hatte. Nun trieben sie ihn auch jetzt voran, mit der Waffe in der Hand seinen Feinden entgegen. Und doch sträubte er sich tatsächlich, das Elbenvolk von Arvernien als seinen Feind anzusehen, obgleich es das doch faktisch war.
Er seufzte und richtete sich langsam auf. Ja, es gab keinen anderen Weg, den hatte es nie gegeben. „Lasst uns zu den Waffen greifen", sagte er leise zu dem Elb, der ihn angesprochen hatte, und doch hatten ihn alle verstanden. „Die Nacht ist hereingebrochen, der Mond ist verhüllt. Unter dem Mantel der Dunkelheit werden wir geschützt sein, bis es für sie zu spät ist."
Seine Brüder waren zu ihm getreten. „Der dritte …", sagte Maglor nur. Maedhros sah ihn nicht an, aus Angst vor dem, was er in Maglors Augen lesen würde. Schuldzuweisungen, Vorwürfe … Wie könnte es anders sein?! Doch er täuschte sich. Einer inneren Eingebung folgend trat Maglor auf seinen Bruder zu und schloss ihn in die Arme, auch wenn er ein gutes Stück kleiner war. „Ich werde bei dir sein bis zum Ende", sagte er mit fester Stimme.
Maedhros erstarrte. Doch dann stahl sich ein ehrliches Lächeln auf seine Lippen. „Ich danke dir, ich danke euch allen, meine Brüder", sagte er.
„Für ein Lächeln von dir würden wir alles tun", sagte Amrod leichtfertig.
Ernster fügte Amras an: „Du tust es viel zu selten …"
Maedhros senkte den Blick. „Ich weiß", sagte er leise. Doch dann holte er tief Luft. „So lasst uns nun also tun, wozu wir verpflichtet sind."
Schwer nickten seine Brüder und bereiteten den Aufbruch vor. Maedhros indes war aufgesessen und wartete, bis alles bereit war, während er die Stadt im Auge behielt. Alles war friedlich, wahrscheinlich ahnten sie jedoch etwas, erwarteten aber hoffentlich nicht sofort den Angriff, der nun erfolgen würde. Vier Heere, vereint zu einem großen, gegen jene nahezu wehrlosen Elben … Es hieß, Elwing sei Mutter von Zwillingen, so wie ihre Brüder Zwillinge gewesen waren, die Maedhros nicht hatte retten können. So wie seine eigenen Brüder Zwillinge waren, die er vor sich selbst retten musste …
Maedhros schüttelte den Kopf, um diese wirren Gedanken zu verscheuchen. Er musste sich jetzt auf Wesentlicheres konzentrieren und durfte nicht zulassen, dass seine wehleidigen Gedanken ihn ablenkten. Elwing war die Feindin der Feanorer, denn sie besaß ihren Silmaril, und nur das zählte im Augenblick. Sie würde zahlen für ihren Diebstahl, und wenn sie nicht freiwillig wieder hergab, was rechtens nicht ihres war, dann würde sie eben fühlen!
Das Heer war nun aufbruchsbereit und die Feanorer waren an die Seite ihres ältesten Bruders geritten. Er ließ die Hörner nicht blasen, doch gab er auch keine Anweisung, besonders leise zu sein. Dennoch schwiegen die Soldaten; offenbar bedrückte auch sie das Bevorstehende. Und doch folgten sie Maedhros weiterhin bedingungslos. Er war stolz auf sie.
Maedhros trieb sein Pferd an. Er ritt ohne Sattel und Zaumzeug. Nach seiner quälenden Gefangenschaft auf dem Thangorodrim hatte er gelernt, völlig freihändig zu reiten, um in der Schlacht sein Schwert führen zu können, so wie er Vieles hatte neu lernen müssen. Nun führte er das Schwert mit der Linken noch tödlicher als mit der Rechten. Weitere Elben sollten dies nun am eigenen Leib spüren.
Noch ein letztes Mal hoffte Maedhros für Gil-galad, dass er fern blieb und zu spät käme; Maedhros könnte es nie vor Fingon verantworten, wenn er sich gezwungen sah, dessen Sohn auch nur ein Haar zu krümmen. Wahrscheinlich stand Gil-galad so oder so völlig anders zum Oberhaupt der Feanorer, wahrscheinlich verachtete er ihn dafür, gegen das Volk seines besten Freundes in die Schlacht zu ziehen. Wahrscheinlich hatte er Recht.
Vielleicht war es ja ganz gut, dass Fingon tot war und den Irrsinn dieser Zeit nicht mehr miterleben musste.
Als sie nun schon nahe bei der Stadt waren, ließ Maedhros dann doch die Hörner erklingen. Seine Feinde sollten nicht völlig unvorbereitet getroffen werden, so hatten sie wenigstens ein wenig Zeit, sich vorzubereiten. Maedhros ließ sein Heer Aufstellung nehmen. Dann bliesen die Hörner Angriff. Keine heroischen Reden, keine Mut machenden Worte. Dies war nicht Maedhros' Art.
Sie griffen an.
Hinterher wusste Maedhros nicht mehr viel von der Schlacht. Ein Abglanz dessen, was einst seinen Vater beflügelt hatte, flammte nun auch in seinen Augen auf, und er stürzte sich mit Leib und Seele in den Kampf. Alles schlechte Gewissen, jedes Reuegefühl war zumindest für den Moment wie weggefegt. Es gab nur noch ihn, sein Schwert, seine Feinde. Nichts war mehr wichtig auf dieser Welt als diese drei Dinge. Mit Ausnahme diesen einen Dinges.
„Findet Elwing!", rief er über das Schlachtfeld, in das sich die Stadt im Nu verwandelt hatte. „Findet sie lebend oder tot! Entreißt ihr den Silmaril!"
Er trieb sein großes Schlachtross voran und seine Soldaten folgten ihm. Der Lange achtete nicht darauf, wen er da alles niederritt, es war ihm einerlei. Vor ihm waren nun alle Feinde gleich. Sein Instinkt trieb ihn und schon bald ritt er im Sturmgalopp zu Earendils Haus. Wo sonst sollten Elwing und ihr Diebesgut sein? Er würde das Haus, wenn es denn sein musste, niederreißen und bis auf die Grundmauern abbrennen, um zu bekommen, wonach er verlangte. Elwing würde büßen!
Fern auf dem weiten Ozean wendete ein prächtiges Schiff, um wieder Kurs auf Beleriands Osten zu nehmen. Verzweifelt gab es alles, was seine Planken und Segel hergaben. Es stampfte und pflügte durch die See. Doch die Valar hatten andere Pläne als Arverniens Rettung vor dem Zorn der Feanorer. Ein Sturm kam auf, kein irdisch Wetter, und mit Urgewalten trieb es das Schiff, schon als es in Sichtweite zur Küste und der brennenden Stadt war, wieder hinauf auf das Meer und in den Westen.
Ein einzelner Schiffer schrie verzweifelt auf und rief nach Frau und Söhnen, doch niemand antwortete.
Ungeachtet dessen tobte die Schlacht in der Stadt weiter. Es wurde getötet und getötet und niemand achtete darauf, wer ihm da vor die Klinge geriet. Ein drittes Mal standen Elben gegen Elben. Würde es denn nie aufhören? Die Grausamkeit war nicht zu beschreiben, denn es war stets dieselbe. Leichen von Freund und Feind gleichermaßen pflasterten die Straßen, Blut rann herab und färbte das Meer rot. Brände wüteten in der Stadt, ob nun absichtlich gelegt oder nicht. Und mitten in dieser Apokalypse war Maedhros, wie er durch den Rauch ritt und schließlich durch die Schwaden brach, als er eine Hügelkuppe erreichte.
Vor ihm stand Earendils Haus, daran bestand kein Zweifel.
„Ergreift sie!", befahl er seinen Männern, die mit ihm hatten mithalten können, und reckte das Schwert in die Höhe. Sein Schlachtross bäumte sich mit wirbelnden Hufen auf.
Die Soldaten stürmten laut rufend das Haus. Indes patrouillierte Maedhros um das Haus herum, dass ihm auch ja niemand entkam. Die Blumenbeete mussten sehr unter den Hufen seines Pferdes leiden, doch es war einerlei. Ihm würde niemand entwischen! Leider war dies jedoch schon geschehen.
„Mein Herr, seht dort!", rief einer der Soldaten und deutete die Küste entlang.
Maedhros wandte sich um und sah jemanden fliehen. Eine einzelne Person war es, eine Frau. Und aus ihren Armen schien das Licht des Silmarils, Maedhros würde es unter Tausenden wiedererkennen. Frustriert schrie er auf.
„Nehmt alle in diesem Haus gefangen!", befahl er. „Dann brennt es nieder!" Er wartete nicht ab, bis seine Befehle befolgt wurden, sondern sprengte gleich voran. Sein Ross wieherte, seine Augen glühten förmlich. Die Hufe donnerten über den Boden und sprühten Funken. Maedhros hielt seine Feindin fest im Blick und holte rasch auf. Doch auch sie wusste sehr wohl darum, dass der Feanorer ihr auf den Fersen war. Sie schrie verzweifelt auf und rannte mit wehendem Haar so schnell sie konnte. Es sollte nicht reichen.
Als sie erkannte, dass sie allein Maedhros in diesem Gelände niemals abhängen konnte, blieb sie stehen und sah Maedhros trotzig an. Ein boshaftes Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Gleich würde er sie gefangen haben, und dann würde er sie eigenhändig an den Haaren zurück schleifen. Und dann würde er …!
Elwing sprang.
Vor Schreck zügelte Maedhros sein Pferd hart und starrte die Klippe hinab. Elwing war tatsächlich hinab gesprungen! Mitsamt dem Silmaril! Zutiefst erstaunt und geschockt, konnte Maedhros für einen Augenblick nichts weiter tun als fassungslos zu starren. Dann entlud sich all seine Wut in einem weit gellenden Schrei.
„Verdammtes Weib!", rief er. „Verflucht sollst du sein!" Nun hatten die Fluten des Meeres sie verschluckt mitsamt dem Silmaril. Seinem Silmaril! Wie konnte sie sich erdreisten!
Dann schlug Verzweiflung über ihn zusammen. Wie sollten seine Brüder und er jetzt nun noch ihren Eid erfüllen? Das Ewige Dunkel würde sie erwarten, nie konnten sie mehr all ihren Besitz beisammen haben. Und er, Maedhros, ältester der sieben Söhne Feanors und Oberhaupt dieses Hauses, hatte versagt. Er hatte seine Brüder nicht vor ihrem Schicksal retten können. Er hatte sie nicht vor sich selbst retten können …
Plötzlich hielt er inne. Seine Brüder! Seit die Schlacht voll entbrannt war, hatte er sie nicht mehr gesehen. Ein sehr ungutes Gefühl beschlich ihn. Ihnen war doch nichts zugestoßen, oder? Wenn er schon hier versagt hatte, wenn er sie schon zur Verdammnis getrieben hatte, dann wollte er sie wenigstens aus der Schlacht retten. Er riss sein Pferd herum und jagte zurück zur Stadt.
In der Ferne schoss ein weißer Vogel gen Himmel, den Silmaril an der Brust.
Indes war das Wetter auch an der Küste umgeschlagen. Dunkle, sturmschwere Wolken waren vom Meer aufgezogen und verhangen den Himmel. Regen setzte ein und verwandelte die Feuerwände in graue Rauchschwaden, die das Atmen schwer machten. Wer in der Stadt noch lebte, war entweder einer der Soldaten der Feanorer und gehörte zu der deutlichen Überzahl oder war Kriegsgefangener in der eigenen, gefallenen Stadt. Zahllose Verletze lagen stöhnend und sterbend in den Straßen, kaum jemand kümmerte sich um sie. Viele von ihnen waren Bürger, nicht wenige Soldaten der gefallenen Stadt oder der Feanorer. Einigen der feanorischen Soldaten steckten die Klingen ihrer Kameraden noch im Leib, denn gegen diese hatten sie sich in ihrer Verwirrung, andere Elben zu töten, gewandt, als sie erkannt hatten, was sie da taten. Irgendwo in der Stadt schrie ein einzelnes Kind weinend nach seiner Mutter.
Das Feuer in Maedhros' Augen war erloschen. Fassungslos besaß er sich das Bild, das sich ihm bot. Und er war schuld. Er war schuld! ER! Tränen stiegen in seinen grauen Augen auf, und er biss sich auf die Unterlippe. Sehnlichst wünschte er sich, all das rückgängig machen zu können. Was hatte er da bloß angerichtet? Wie hatte es dazu kommen können?
„Bruder!"
Maglors Ruf schreckte Maedhros aus seinen bitteren Reuegedanken auf. Er blickte auf und sah seinen Bruder auf sich zu eilen. Maglor sah sehr in Eile aus. Als sei irgendetwas Schlimmes geschehen … Doch was konnte noch schlimmer sein als diese Katastrophe, die er heraufbeschworen hatte? Maedhros sprang von seinem Pferd und trat auf seinen Bruder zu.
„Die Zwillinge!", rief Maglor. „Schnell!"
„Was ist mit ihnen geschehen?", fragte Maedhros alarmiert.
„Komm!", drängte Maglor.
Sie hetzten los.
„Der Silmaril …", begann Maedhros auf dem Weg.
„Du tatest, was du tun konntest", beschwichtigte Maglor ihn, der dachte, sein Bruder spiele auf den Angriff an.
„Elwing ist gesprungen", beichtete Maedhros. „Sie ist mitsamt unserem Silmaril in die Fluten des Meeres gesprungen. Entweder ist sie ertrunken oder gleich an den Felsen zerschellt, niemals wird sie lebend entkommen sein."
Maglor sah ihn entsetzt an, jedoch ohne im Laufen inne zu halten. Dann aber sagte er: „Nein, ich glaube, sie ist entkommen und ist nun auf dem Weg zu Earendil. Erst vor wenigen Minuten sah ich einen großen weißen Vogel zum Himmel aufsteigen. Sein Gefieder strahlte hell und weit. Es muss der Silmaril gewesen sein und der Vogel war Elwing."
Maedhros schwieg. „Wir stehen auf der falschen Seite", sagte er. „Die Valar sind gegen uns, dies war ein deutliches Zeichen."
Indes sah nun auch Maedhros, was seinen Bruder so in Eile versetzt hatte. Amrod und Amras lagen schwer verwundet am Boden. Maedhros stöhnte auf und kniete sich auf die nassen Pflastersteine neben die Tragen seiner Brüder. „Meine Brüder …" Seine Stimme war weinerlich.
„Tut … tut uns leid", röchelte Amrod. Amras hustete und spuckte Blut; er konnte nicht einmal mehr die Augen öffnen, jeden Augenblick würde er seinen letzten Atemzug machen. Maglor hatte sich neben Maedhros gekniet und weinte mit gesenktem Kopf, denn für die Zwillinge gab es keine Rettung mehr.
„Nein, dir muss nichts leidtun", sagte Maedhros und beeilte sich, Amrods Hand zu ergreifen. „Es ist alles meine Schuld. Ihr wolltet mich davon abhalten, und ich hörte nicht auf euch. Ihr folgtet mir, doch ich hätte es nicht zulassen dürfen."
„Nein, Maitimo, du bist unschuldig, ebenso wie wir alle unschuldig sind und auch wieder nicht", hielt Amrod dagegen. Auch ihm bereitete das Sprechen nun immer größere Mühen. Er hustete. „Vater … Vater wäre …"
„Sei ruhig, Ambarto, sei ruhig …", sagte Maglor sanft. „Streng dich nicht an."
Amras stöhnte auf und wand sich. Blut tränkte seine Kleidung und floss ungehindert auf das Pflaster. Ein letzter Hauch entfloh sich seinen Lippen, dann schwieg er für immer.
Ein unterdrücktes Wimmern entfloh sich Maedhros. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Gab es denn nichts, was er tun konnte? Konnte er in keinster Weise verhindernd, dass seine Welt aufhörte, weiterhin zu bröckeln? Mit jedem Atemzug, den Amrod tat, bröckelte sie ein wenig mehr, bald würde sie gänzlich zerfallen.
„Ich muss …" Rasselnd holte der Sterbende Luft. „… muss folgen …"
„Bitte nicht …" Maedhros' Stimme brach, denn er wusste nur zu gut, dass er nichts tun konnte. Tränen rannen ihm über die Wangen und benässten Amrods Gesicht, über das er sich gebeugt hatte.
Amrod fand die Kraft für einen letzten Atemzug. „Vermiss mich nicht zu sehr", sagte er leise. Dann lag er still.
Schluchzend warf Maedhros sich über seine jüngsten Brüder. Warum nur war die Welt so grausam zu ihm? Warum?! Er verstand es nicht. Warum musste alles falsch laufen? Alles verkehrt sein?
Maglor blieb stumm. Er hatte das Gesicht gen Himmel gewandt und weinte stumme Tränen. Sie vermischten sich mit dem Regen auf seinem Gesicht. „Lass uns die Zwillinge suchen", sagte er.
Maedhros erstarrte. Langsam richtete er sich auf und sah seinen einzigen noch lebenden Bruder an, als sei er nicht mehr ganz bei Trost. „Sie sind tot!", sagte er ein wenig heftiger als beabsichtigt. „Da, sieh hin, dort liegen sie leblos. Wegen mir!"
„Ach hör doch auf!", widersprach Maglor, der wusste, dass er oftmals nur so gegen die Bitternis, die Maedhros zerfraß, ankommen konnte. Sanfter fuhr er fort: „Ich rede nicht von unseren geliebten Brüdern, deren Verlust so unendlich schmerzt, dass es nicht zu ertragen ist. Ich rede von Earendils Söhnen."
Nun sah Maedhros Maglor an, als habe er wirklich den Verstand verloren. „Sie sind vermutlich schon längst tot", warf er ein.
Stumm schüttelte Maglor den Kopf und deutete auf zwei Soldaten, die eine Elbin aus Arvernien gepackt hielten. Die Soldaten traten vor. „Sie ist die Amme der Kinder", sagte Maglor. „Man fand sie, als sie im nahen Wald umher streifte. Sie muss Earendils Söhne dort irgendwo versteckt haben."
Maedhros sah die Frau an, die den Blick ängstlich erwiderte. Was er dachte, war in diesem Augenblick nicht zu ergründen. Er trat auf die Frau zu, die Stirn gekräuselt, die Augen leicht zusammengekniffen. „Führe uns zu ihnen", befahl er.
Die Frau erbleichte. „Niemals …", sagte sie schwach und fügte dann an, sich an ihre Position erinnernd: „Mein Herr …"
„Tu, was dir befohlen." Maedhros sprach ruhig und keineswegs laut. Und gerade darin lag die Gefährlichkeit.
Die Frau wurde noch blasser und beeilte sich zu nicken, als der große Noldo von oben auf sie herab starrte. Dann nickte sie und beeilte sich, dem Befehl nachzukommen.
Maglor ordnete alles Nötige für die Bestattung von Amrod und Amras an. Sie sollten ein Feuerbegräbnis erhalten, ganz so wie ihr Vater verbrannt war. Es sollte stattfinden, wenn die beiden letzten Feanorer wiederkehrten, denn die Frau versicherte, dass sie nicht lang weg sein würden. Doch Maglor drängte zur Eile, denn er befürchtete, dass das Wetter den Kindern schaden könnte. Es hieß, sie seien Halbelben, und er wusste nicht, wie sie aufgrund ihres Menschenblutes von Tuor und Beren Wetterunbilden verkraften konnten.
Sie machten sich auf den Weg. Eilig ging die Frau voran, denn sie hatte dieselben Befürchtungen wie Maglor, wenn auch zu ihrem großen Erstaunen, und ein schlechtes Gewissen beschlich sie, dass sie die kleinen Kinder schutzlos im Wald gelassen hatte, auch wenn sie sie vor den Feanorern hatte schützen wollen. Der Weg führte sie tief in den Wald hinein an einen gut verborgenen kleinen See mit einem Wasserfall hinab in den See. Indes war das Wetter wieder aufgeklärt, es regnete nicht mehr. Es war wahrlich kein irdisch Wetter gewesen. Maedhros fragte sich, was die Valar damit bezweckt hatten, denn es hatte sie in keinster Weise behindert.
Schon als sie sich dem See näherten, zögerte die Frau immer wieder und sah sich um. Sie fühlte sich sichtlich unwohl. Und nachtragen konnte es ihr keiner. Soeben hatten ebenjene Feanorer hinter ihr ihr Heim zerstört und nun musste sie die Kinder, die zu schützen ihr befohlen ward, an die Feanorer ausliefern. Schließlich hielt sie inne.
„Hier, meine Herren …", sagte sie leise.
Maglor trat vor und sah sich um. Maedhros folgte ihm, die Hand am noch immer blutigen Schwert. Plötzlich sah Maglor eine Bewegung im Wasser und eilte darauf zu. Es war ein Kind, das da seelenruhig im Wasser planschte. Maglor eilte auf es zu und hob es vorsichtig hoch. Die Frau unterdrückte gerade noch rechtzeitig einen erschrockenen Schrei. Der kleine Junge sah Maglor groß an, dann begann er zu weinen und zu strampeln; er spürte instinktiv die Gefahr. Maglor redete beruhigend auf ihn ein und strich ihm über den Kopf, während er ihn in seinen Mantel wickelte, um ihn zu trocknen und zu wärmen.
„Wo ist der andere?", fragte er die Amme.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, mein Herr", sagte sie ehrlich. „Aber er muss hier irgendwo sein."
In dem Moment hörten sie ein Quengeln aus der Richtung des Wasserfalls. Maglor eilte darauf zu und sah sich aufmerksam um. Zunächst jedoch fand er nichts, bis er auf die Idee kam, hinter dem Wasserfall zu sehen. Dort lag eine kleine, gut verborgene Höhle. Sie war trocken und recht geschützt, ein ideales Versteck. Und dort war der Zwillingsbruder des kleinen Jungen. Maglor nahm auch ihn auf den Arm und trat wieder zu seinem eigenen Bruder. Ein winziges Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er die kleinen Kinder in seinen Armen betrachtete. Auch wenn diese anscheinend ganz und gar nicht damit einverstanden waren, bei ihm zu sein.
„Töte sie."
Maglor sah seinen Bruder entsetzt an. Die Frau konnte den Schrei nun nicht mehr unterdrücken. „Aber, Bruder!", rief Maglor aus. „Wie könnte ich?"
„Töte sie, du hast mich schon richtig verstanden!", knurrte Maedhros.
Da sah Maglor die Tränen in den Augen seines Bruders. „Maitimo …"
„Ich ertrage es nicht mehr!", rief Maedhros verzweifelt aus und wandte sich ab. „Ich ertrage es nicht mehr … Erst habe ich Eluréd und Elurín nicht retten können, dann ebenso wenig unsere Zwillinge. Und jetzt die da! Ich kann nicht mehr. Bitte, töte sie …"
Vorsichtig legte Maglor die Zwillinge auf seinen Mantel und hoffte, dass sie nicht wegkrabbelten. Die Kinder plärrten protestierend. Dann trat er zu Maedhros, der sich mit dem Rücken an einen Baum zu Boden hatte sinken lassen. „Bruder, es sind nur Kinder", sagte er sanft. „Wie viele unschuldige Kinder haben wir heute getötet? Zu viele. Lass es uns mit jenen beiden wieder irgendwie zu einem Teil ausgleichen. Sie sind vollkommen unbeschriebene Blätter, wir können vergessen lassen, dass sie Earendils Söhne sind. Wenn er jemals wiederkehrt, dann wird er denken, sie seinen gestorben und wird nicht nach ihnen suchen. Und ganz ehrlich: Wäre Earendil überhaupt jemals ein guter Vater für sie gewesen? Er war nie für sie da gewesen … Habe Mitleid mit ihnen, so wie ich welches für sie habe. Lass mich ihnen ein Vater sein."
Maedhros sah seinen Bruder lange an, dann ließ er den Blick zu den beiden kleinen Kindern schweifen. Er schwieg und überlegte, rang innerlich mit sich. Schließlich wandte er sich an die Frau. „Verschwinde", sagte er schlicht. „Und es sei dir geraten, dich nie wieder blicken zu lassen."
Die Frau starrte ihn groß an. Dann besann sie sich, raffte die Röcke und eilte davon, um tatsächlich nie wieder gesehen zu werden.
Dann wandte Maedhros sich wieder Maglor zu. „Und wie willst du sie nennen?"
Ein dankbares Lächeln stahl sich auf Maglors Gesicht. „Für jenen, den ich im Wasser fand: Elros. Für jenen, den ich in der Höhle fand: Elrond."
Mir sei an dieser Stelle ein kleines AU erlaubt. Es ist von Tolkien belegt, dass Elrond und Elros die Mutternamen sind, also von Elwing vergeben. Aber ich fand schon immer, dass es so besser passte, daher hatte ich es bei dieser Version belassen, auch nachdem ich gelesen hatte, wer eigentlich die Namen vergab. Darüber hinaus erhält dieses Kapitel in meinem OS Chasing the Dragon eine Fortsetzung.
