Für alle meine deutschsprachigen Leser hier die deutsche Version meiner Story "Hiding in Plain Sight'! Das Original sowie meine anderen Stories findet ihr auf meinem Profil.
Die Geschichte spielt etwa vier Monate nach Der Reichenbachfall. Ich habe versucht, den Charakteren so treu wie möglich zu bleiben, aber die Geschichte ist AU. Im Deutschen habe ich leider keine Beta, bitte vergebt mir die Rechtschreibfehler!
Warnung: Gewalt und Folter in späteren Kapiteln.
London, 30 September 2012
Es war ein nasser und düsterer Tag in London, das konstante Nieseln hatte sich bereits vor einiger Zeit in Regen verwandelt und es war deutlich erkennbar, dass der Sommer unwiderruflich vorbei war. Der Mann, der in seinem noblen Büro hinter dicken Fensterscheiben saß, interessierte sich nicht für solch mondäne Dinge wie das Wetter. Allerdings passte der Regen definitiv zu seiner schlechten Laune.
Mycroft Holmes las die SMS Nachricht zum gefühlten hundertsten Mal durch. Er kannte den Inhalt auswendig, aber es war das letzte Lebenszeichen von seinem jüngeren Bruder, der seit drei Wochen verschwunden war.
M. gefunden. Tauche
unter. Nächster Kontakt
in 10 Tagen. SH
Heute war der zwanzigste Tag seit der SMS, und immer noch kein Wort von Sherlock. Sein Handy war entweder aus oder der Akku war leer. Alle Sender, die Mycroft vor seiner Abreise in Kleidung und Ausrüstung installiert hatte, waren bereits seit langem von dem jüngeren Mann gefunden und deaktiviert worden. Mycroft seufzte leise, diese verdammte Mission, die sein kleiner Bruder sich selbst auferlegt hatte, stellte sich als deutlich komplizierter und langwieriger heraus als ursprünglich gedacht.
Natürlich half es nicht, dass sich Sherlock selbst mit Händen und Füssen gegen Mycrofts Überwachung wehrte. Er war dickköpfig und er hatte sich das Ziel gestellt, diese Aufgabe alleine zu bewältigen, ohne Hilfe. Die Ablehnung seines Bruders alleine war nicht genug um Mycroft aufzuhalten. Wenn er wissen wollte, wo sich sein Bruder aufhielt, dann hatte er Mittel und Wege dies herauszufinden. Genervt von den ständigen Unterbrechungen hatte Sherlock schließlich seinen Widerstand aufgegeben und einem Handy zugestimmt, das zumindest unregelmäßigen Kontakt erlaubte, allerdings nur verschlüsselt, und ohne seine Position bekannt zu geben.
Und das hatte auch für eine ganze Weile gut funktioniert. Mycroft konnte mit seinem Bruder reden und Sherlock konnte um Hilfe bitten wenn er dringend etwas brauchte. Was, auch wenn er es niemals zugeben würde, durchaus vorkam. Aber seit drei Wochen war diese schwache Linie der Kommunikation unterbrochen. Und Mycroft machte sich Sorgen. Große Sorgen.
'Gefühle', dachte er zu sich selbst, 'Ich werde alt und sentimental. Und das ist alles deine Schuld, Sherlock!'
Er wanderte in seinem Buero auf und ab. Es musste einen Weg geben um Sherlock zu finden, aber all seine offiziellen und halb-offiziellen Wege waren versperrt. Er konnte seinen eigenen Leuten nicht trauen wenn es um das Leben seines Bruders ging. Es waren immerhin Agenten, die dafür bezahlt wurden andere Leute auszuspionieren, man konnte niemals hundert Prozent sicher sein das sie nicht auch auf jemand anderes Lohnliste standen. Mycroft war so in seine Gedanken versunken das er das höfliche Klopfen an seiner Tür komplett überhörte. Erst als seine persönliche Assistentin Anthea neben ihm stand kehrte er in die Realität zurück.
„Sir, ist alles in Ordnung?"
„Hmm? Ja, natürlich. Ich war nur in Gedanken versunken."
Anthea schaute ihren Chef nachdenklich an, aber entschied sich nichts zu sagen. In den letzten Wochen war er noch distanzierter als normal gewesen, aber sie vermutete, dass es mit dem Tod seines Bruders zu tun hatte. Was auch immer, es war nicht ihr Problem und jede persönliche Frage würde sie sofort in Schwierigkeiten bringen.
„Ein Dr. Watson wartet draußen. Soll ich ihn rein schicken oder ihm sagen, dass Sie beschäftigt sind?"
„John Watson ist hier? Interessant. Bitte, schicken sie ihn rein. Ich wollte sowieso mit ihm sprechen."
Damit drehte er sich wieder dem Fenster zu und schaute hinaus auf die belebten Straßen von London. Er hörte Anthea mit seinem Besucher sprechen und vernahm das gedämpfte Geräusch von Schritten auf seinem teuren Teppich als John den Raum betrat und die Tür hinter ihm schloss.
„So viele Menschen, besorgt über ihre lächerlichen kleinen Probleme, und sie haben doch keine Ahnung von der Gefahr in der sie jeden Tag schweben. Wissen sie eigentlich was Leute wie wir tun um sie zu beschützen? Wollen sie es überhaupt wissen? Oder würden sie sich in Abscheu abwenden wenn sie die dunkle Seite unserer Arbeit kennen würden?" Er drehte sich zu John um. „Sagen sie mir, Dr. Watson, was denken Sie?"
„Sie sollten sich glücklich schätzen dass sie nichts wissen. Macht das Leben deutlich einfacher. Weniger Alpträume."
Mycroft nickte mit dem Kopf. Das war genau die Antwort die er von dem guten Doktor erwartet hatte. Er suchte keine Anerkennung, und war immer bereit für Queen und Vaterland sein Leben zu riskieren. Vielleicht… – nein, er hatte Sherlock versprochen, dass er John Watson beschützen würde, er konnte das Vertrauen seines Bruders nicht so leichtfertig riskieren. Er sah sich den jüngeren Mann genauer an und war überrascht was er fand. Der Doktor hatte einiges an Gewicht verloren, seine Kleider hingen loses um seinen Körper, aber sein Gesicht zeigte die drastischsten Veränderungen. Die Falten um seine Augen waren deutlich tiefer, das Haar an seinen Schläfen etliche Töne grauer. Am erschreckendsten war sein feindseliger Blick. Mycroft hatte in seinem Leben einiges gesehen und war wirklich nicht einfach aus der Ruhe zu bringen, aber der Blick in John's Augen ließ ihn erschauern. Purer, ungefilterter Zorn und Hass.
„Wissen Sie, es hat eine Weile gedauert bis ich alles zusammen hatte. Am Anfang habe ich es wirklich geglaubt, aber nachdem der anfängliche Schock vorbei war kamen mir Zweifel. Die Dinge passten einfach nicht zusammen. Also habe ich meine eigenen Nachforschungen begonnen und immer mehr Ungereimtheiten kamen ans Licht. Seit wann haben sie Beide dies geplant? Seit der Entführung? Oder geht es noch weiter zurück? Die Auftragskiller in der Baker Street Nachbarschaft? Moriartys Gefängniszeit? Vielleicht haben sie ihm sogar all die Informationen mit Absicht gegeben?"
„John…"
„Sagen sie mir, in all den extensiven Plänen und Intrigen, kam es Ihnen irgendwann mal in den Sinn mit mir zu sprechen? ‚ Hey John, ich muss meinen Tod vortäuschen, bitte machen sie sich keine Sorgen.' Aber vermutlich spielen normale Leute keine Rolle in Ihren Plänen. Nein, stattdessen musste ich zusehen wie sich Sherlock von einem Dach stürzt und sie – sie haben die Rolle ihres Lebens gespielt auf der Beerdigung. Für einen Moment taten sie mir sogar leid. Und die ganze Zeit WUSSTEN sie Bescheid. Sie wussten dass er noch lebt und sie haben nichts gesagt."
„John, es tut mir leid."
„Es tut ihnen Leid? Sie - " Er musste sich kurz zusammenreißen. „Ich war verloren nachdem er gesprungen ist. Konnte nicht mal unsere Wohnung in der Baker Street betreten. Und sie haben zugeschaut wie mein Leben den Bach runter ging. Und trotzdem haben sie geschwiegen."
„Ich konnte nichts sagen. Glauben sie mir, wenn die Gefahr nicht so groß gewesen wäre…, aber Sherlock hat darauf bestanden das sie nicht in seine Pläne eingeweiht werden."
Johns Welt geriet aus den Fugen. Hatte Mycroft Holmes wirklich gerade bestätigt das Sherlock noch am Leben war? Sicher, er hatte einige Ungereimtheiten gefunden, aber keine schlüssigen Beweise. Er war hierhergekommen aufgrund der vagen Vermutung, das wenn jemand die Wahrheit wusste, dann Sherlocks manipulativer Bruder. Aber er hatte keine wirklichen Antworten erwartet und er hatte sich nicht erlaubt zu hoffen, dass sein Freund noch am Leben war.
„John, beruhigen sie sich! Mein Bruder hatte seine Gründe. Ihre beiden Leben hingen davon ab das sie ihn tot glauben."
„Sherlock, natürlich hatte er- Moment, was? Wieso hing mein Leben von seinem Tod ab?" Er starrte Mycroft ungläubig an, während er langsam wieder die Kontrolle über seine verwirrten Gedanken gewann.
„Wenn sie sich beruhigen würden, da ist etwas was sie sich anhören sollten. Es ist eine Aufnahme der letzten Minuten die Sherlock zusammen mit Moriarty auf dem Dach verbracht hat. Es erklärt die Zusammenhänge viel besser als ich es je könnte."
John starrte dem größeren Mann ins Gesicht. Es war offen und seine Augen zeugten von Ehrlichkeit. Und obwohl er immer noch sehr wütend auf Mycroft war, entschloss er sich dem Mann die Chance für eine Erklärung zu geben. Immerhin hatte er seinen Wutausbruch mit stoischer Miene ertragen und es sogar geschafft, leicht schuldig zu schauen.
„Also gut, spielen sie die Aufnahme, aber Mycroft, ich brauche die Wahrheit hier. Ich habe genug von den Manipulationen und in Schutznahmen von ihnen und ihrem Bruder, ich war ein Soldat, ich kann auf mich selbst aufpassen!"
Mit einem kurzen Nicken öffnete Mycroft seine Schreibtischschublade und nahm Sherlocks altes Handy heraus. Er legte es vorsichtig auf den Tisch vor ihm und schaltete es an, seine Finger fanden ihren Weg durch das Menu bis zu den Tonaufnahmen mit schlafwandlerischer Sicherheit und John begriff plötzlich das Mycroft diese Nachricht bereits zahllose Male abgespielt hatte.
„Hören sie einfach zu, John. Bitte." Und dann öffnete er die Datei.
John lief es eiskalt über den Rücken als Moriartys Stimme aus den Lautsprechern kam. Obwohl er wusste das der Verbrecher tot war, die Erinnerung was noch frisch und furchteinflößend. Und dann kam Sherlocks Stimme, stark und lebendig. Er brauchte all seine Willensstarke, um ruhig und gefasst zu bleiben.
Der Anfang des Gesprächs was nicht besonders überraschend für John, er hatte die üblichen Spielchen zwischen Moriarty und Sherlock erwartet. Als die Aufnahme zu dem Binärcode kam, war John erstaunt das Sherlock ehrlich verwirrt erschien. Er hatte den Detektiv noch nie so unsicher gehört. Und Moriarty spielte seine Karten mit solch Leichtigkeit und Überheblichkeit das es John vom zuhören alleine schon schlecht wurde.
Zu hören, wie Sherlock die Puzzleteil schließlich zusammenfügte war schmerzhaft. Seine Stimme klang hoffnungslos und leer, keine Spur von dem normalen Stolz wenn er einen Fall löste. Sherlock klang ruiniert. Vernichtet, in Ungnade gefallen und furchtbar alleine. Johns Herz blutete für seinen Freund, er hätte für ihn da sein sollen, an seiner Seite stehend, aber er hatte versagt.
Der Klang von raschelnden Kleidern und erregtem Atem kam als nächstes und holte John zurück aus seinen düsteren Gedanken. Er musste lächeln, natürlich würde Sherlock nicht einfach so kampflos aufgeben. Moriarty wahnsinnig zu nennen war ein cleverer Zug um den Kriminellen abzulenken. Leider funktionierte das nicht wie geplant und die nächsten Worten jagten einen kalten Schauer über John Rücken.
„Ok, ich gebe ihnen etwas extra Anreiz. Ihre Freunde werden sterben, wenn sie es nicht tun."
„John?" fragte Sherlock.
Oh Gott, Mycroft hatte Recht. Plötzlich ergab alles einen Sinn...
„Nicht nur John. Alle."
„...Mrs. Hudson..."
„Alle."
„...Lestrade…."
„Drei Kugeln, drei Schützen, drei Opfer. Nichts hält sie jetzt mehr auf… Außer meine Leute sehen sie springen."
Johns Herzschlag setzte für eine Sekunde aus als er begriff, was genau hier auf dem Spiel stand. Welch unmögliche Wahl Sherlock auf dem Dach treffen mussten. Er verpasste die nächsten Sekunden der Konversation und wurde durch Sherlocks Gelächter aufgeschreckt. ‚Was?'
„Sie werden es nicht tun. Also können die Killer zurückgepfiffen werden, es gibt einen Abbruch-Code oder ein Wort oder eine Nummer."
Natürlich, Sherlock würde niemals einfach so aufgeben. Er war ungeheuer stolz auf seinen Freund, auf dessen Hartnäckigkeit und den Fakt das er den eine Schwachpunkt in Moriartys Plan gefunden hatte. Die eine schwache Stelle die das ganze Lügenkonstrukt zusammenfallen ließ. John hatte Sherlocks stimme noch nie so dunkle und bedrohlich wahrgenommen wie in den nächsten Sekunden, und obwohl seine Worte nicht an ihn gerichtet waren konnte er die Wucht und Macht in ihnen hören.
Der Schuss kam als absoluter Schock und er wusste, dass es Sherlock genauso ging, wenn er den stoßweise Atem und die aufgewühlten Schritte richtig interpretierte. Er war so dicht dran gewesen Moriarty zu bezwingen, so dicht daran als Sieger vom Platz zu gehen, aber der Schuss hatte das Blatt gewendet. Johns Gedanken rasten als die Aufnahme unvermittelt abbrach.
Er hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen als er realisierte das dies der Moment war in dem Sherlock ihn angerufen hatte. Bisher hatte er in dem Glauben gelebt, das der Anruf nur dazu gedient hatte um die Lüge besser zu verkaufen, aber jetzt war er nicht mehr so sicher. Sherlocks frenetisches Verhalten, sein offensichtlicher Kummer und Pein, alles machte plötzlich mehr Sinn. Vielleicht brauchte Sherlock den Klang seiner Stimme um die wohl schwierigste Entscheidung seines Lebens zu treffen: Sein Leben für das Wohl seiner einzigen Freunde zu opfern. John war sich sicher, dass Sherlock den Sprung einkalkuliert, ja sogar geplant hatte, aber das er bis zuletzt hoffte, dass es nicht so weit kommen würde. Ein Blick auf Mycroft bestätigte dies.
"Er hatte nie wirklich vor zu springen, er dachte er könnte Moriarty austricksen, ihn in seinem eigenen Spiel schlagen. Aber am Ende war Moriarty der Sieger. Er ließ Sherlock keine andere Option. Es tut mir leid John, aber dies ist genau weshalb ich ihnen die Wahrheit nicht sagen konnte. Die Scharfschützen hatten sie selbst nach der Beerdigung noch im Visier. Ehrlich gesagt, wir vermuten das sie immer noch da sind. Ich habe ihren Schmerz gesehen, aber ich konnte das Risiko nicht eingehen sie einzuweihen. Die Trauer was ihr Schutzschild, das Einzige was die Schützen davon abhielt das Feuer zu eröffnen. Sherlock arbeitet daran Moriartys Netzwerk zu zerstören, aber bis das geschafft ist, leben sie, DI Lestrade und Mrs. Hudson in ständiger Gefahr.
John brauchte ein paar Minuten um diese Information zu verarbeiten. Alles machte plötzlich so viel mehr Sinn, vor allem wenn man es durch die Augen der Holmes Brüder mit ihrer etwas verqueren, aber im Endeffekt wohlwollenden Logik sah. Natürlich würde Sherlock seine wenigen Freunde um jeden Preis beschützen wollen. Und er tat dies auf seine eigene Weise, alleine. Wie jemand gleichzeitig so schlau und doch komplett dumm, ahnungslos und so nicht soziopathisch sein konnte, verblüffte John immer wieder aufs Neue. Aber es passte so viel besser zu seinem Charakter als der Anschein der kühlen Denkmaschine den er so gerne zur Schau stellte. Seine (Über-) Reaktion wenn Mrs. Hudson bedroht wurde zeigte sehr deutlich, wie sehr ihm seine Freunde am Herzen lagen.
Das Einzige, was John nie verstand war, wie sowohl Sherlock als auch Mycroft immer das ‚Militär' in ‚Militärarzt' vergaßen. Er war ein Soldat, verdammt, nicht nur ein Arzt. Sherlock hatte keine Probleme ihn als seinen persönlichen Rechtsmediziner einzusetzen, warum war er so zurückhalten ihn als seinen Soldaten zu nutzen?
Er seufzte und lies den Rest seines Ärgers verfliegen. Es war an der Zeit, das Mycroft erfuhr zu was er wirklich in der Lage war. Er konnte Sherlock in diesem Kampf helfen, jetzt musste er nur noch Mycroft davon überzeugen ihn dies tun zu lassen. Und, um ehrlich zu sein, wie der Mann der im Effekt ‚Die Regierung' war, diese Information in seiner Akte übersehen hatte war schockierend.
