Titel: Owls and Doves
Fandom: Harry Potter
Autorin: Sleepy Tiger
Genre: Humor? Drama vielleicht? Pädagogisch wertlos?
Rating: kindersicher
Disclaimer: Harry Potter © by J. K. Rowling
Warnung/Info: Es laufen EXTREM viele OCs herum. Beginnen tut es einige Wochen vor „Harry Potter und der Stein der Weisen" und läuft dann parallel zu diesem und den anderen Büchern weiter. Außerdem habe ich nur die englischen Bücher gelesen und musste mich für die deutschen Begriffe daher auf das Lexikon des Projektes „Harry Potter auf Deutsch" stützten. Das ist zu bewundern auf: www.harry-potter-auf-deutsch.de. Danke, dass es euch gibt.
Kapitel 1 Ein neuer Kollege!
Es war schlimmer als das letzte Mal.
Sehr viel schlimmer.
Diesmal hörte sie nichts außer einem lang gezogenen Pfeifen und sah alles nur noch verschwommen. Ihre kalten Hände zitterten und waren schweißnass. Mathilda „Tilly" Tremain hatte sich schon weit in ihren dick gepolsterten Chefsessel gelehnt, als sie das erste schwache Pochen hinter ihrer Stirn gespürt hatte. Aus Erfahrung wusste sie, dass jede weitere Bewegung und vor allem jeder weitere Denkvorgang, die unvermeidlichen Kopfschmerzen nur noch schneller kommen lassen würde. Dann würde ihr schlecht werden und sie würde sich wieder in den Papierkorb übergeben müssen. Und dann würde sie nur noch ein jammernden Häufchen Elend sein, das weder Licht noch irgendein Geräusch ertragen konnte. Sie würde zusammengekrümmt unter dem Tisch liegen und beten, dass sie schnell sterben durfte.
Das letzte Mal, als sie so plötzlich Kopfschmerzen hatte, war vor vier Jahren gewesen, als sie gerade ihr letztes Lehrjahr in der Beratungsstelle für Muggeleltern abgeschlossen hatte und kurz davor war, ihren Vertrag als ordentliche Beraterin zu unterzeichnen. Da war es ganz plötzlich passiert. Ohne große Diskussionen wurde die Abteilung einfach mit der Abteilung für Erziehungs- und Beziehungsfragen mit Muggeln zusammengelegt. Sämtliche Mitarbeiter der kleinen Beratungsstelle hatte es damals kalt erwischt. Die Begründung war, dass diese Abteilung völlig unterbeschäftigt war und nur wichtige Mittel unnötig in Anspruch nehmen würde. Außerdem hatten beide Abteilungen doch eh denselben Aufgabenbereich. Was natürlich nicht stimmte, denn die erste Abteilung wurde eingerichtet, um den Muggeln beizustehen, die einen Zauberer oder eine Hexe zum Partner hatten und umgekehrt und die Beratungsstelle war dazu da gewesen, um reine Muggelfamilien die magische Welt zu erklären, deren Sprösslinge auf Hogwarts eingeschult wurden. Waren das wirklich keine zwei verschiedenen Bereiche in den Augen des Ministeriums gewesen?
Trotz der heftigen Ablehnung auf beiden Seiten, wurden beide Einrichtungen miteinander verschmolzen. Seitdem gab es die Beratungsstelle für Kommunikations-, Erziehungs- und Beziehungsfragen mit Muggeln, die gleich nach ihrer Geburt aus dem Ministerium entfernt und mitten in ein Muggelwohnort platziert wurde. Obendrein wurden fast alle Mitarbeiter der ehemaligen Erziehungs- und Beziehungsabteilung auf andere Behörden des Ministeriums verteilt und die übrig gebliebenen Berater bekamen deren Wust an Akten in die Hände gedrückt. Trotz der Zusammenlegung wurde weder das Etat noch die Anzahl der Mitarbeiter erhöht. Das Schlimmste war jedoch, dass der Leiter der Beratungsstelle Theodor Rose in Vorruhestande geschickt wurde und Tilly frisch nach ihrer Lehre zu seiner Nachfolgerin ernannt wurde. Niemand hatte diese Entscheidung schwerer getroffen als Tilly selbst. Zumindest war sie die Einzige, der dabei so schlecht wurde, dass sie sich in den nächsten Papierkorb übergeben musste. So hatte sie sich ihre Karriere nun wirklich nicht erträumt.
Nachdem der erste Schock überwunden war und die ersten zaghaften Entscheidungen der neuen Leiterin getroffen wurden, nahm die neue Abteilung ihre Arbeit mit viel Elan auf. In den folgenden vier Jahren war Tilly nur im äußersten Notfall als Beraterin für verwirrte und verängstigte Muggeleltern tätig gewesen. Vielmehr war sie damit beschäftigt, zu sparen und jedes Jahr um eine Etaterhöhung oder wenigstens einen neuen Mitarbeiter vor dem Haushaltkomitee des Zauberministeriums zu kämpfen. Nicht einmal die Mittel um neue Berater auszubilden, wollte man ihr zugestehen, obwohl das so dringend nötig war! Jedoch hielt man ihr vor, dass sich kaum ein Schulabsolvent für die Arbeit eines „Muggelberaters" interessierte, was leider auch stimmte. Mit Sorge beobachtete sie das wachsende Desinteresse der Hogwartsschüler an dem Fach Muggelkunde, das nötig war, um sich überhaupt für eine Lehre bei ihr zu qualifizieren.
Bei der diesjährigen außerordentlichen Sitzung des Haushaltkomitees war sie erneut mit noch mehr Kampfgeist und noch besseren Argumenten angetreten. Wie durch ein Wunder blieb das übliche Streitgespräch aus und niemand zweifelte an der Bedeutung der Arbeit, die Tilly und ihre Mannschaft leisteten. Das Budget wurde zwar nicht erhöht, aber auch nicht weiter gekürzt. Man ließ sie zwar immer noch nicht ausbilden, aber das Komitee war so gnädig, ihr die Einstellung eines weiteren Mitarbeiters zu gewähren. Man würde ihr die Akten der passenden Kandidaten in nächster Zeit vorbeischicken.
Es kam genau eine Akte an.
Tilly wagte es nicht, noch einen Blick auf die Personalakte zu werfen, die vor ihr auf den überfüllten Tisch lag. Sie hätte fragen müssen, warum man schon passende Kandidaten zur Hand hatte. Sie hätte auf der Hut sein müssen, als man so zuvorkommend zu ihr gewesen war. Tilly schob die Akte mit spitzen Fingern von sich, damit sie ihren schweren pochenden Kopf auf die kühle Tischplatte legen konnte. Sie hätte auf den üblichen Streit mit dem Komitee bestehen sollen. Dann hätte sie wieder weniger Geld für die Abteilung, könnte immer noch niemanden ausbilden und müsste vielleicht auch noch alle Löhne kürzen, aber dann müsste sie nicht ausgerechnet diesen Kerl einstellen.
Ob es mildernde Umstände für sie geben würde, wenn sie das Zauberministerium in Schutt und Asche legen würde? Sicher könnte man das verstehen. All der Stress und ihre Unerfahrenheit waren ihr einfach zuviel gewesen und haben sie zu dieser Kurzschlussaktion verleitet. Schließlich hatte sie diese chaotische neue Abteilung als kaum fertiger Lehrling übernommen. Tilly rollte den Kopf auf die andere Seite. Nein, es würde nicht funktionieren. Sie würde nicht drum herumkommen. Sie mußte ihn einstellen. Ein schüchternes Klopfen an ihrer Tür unterbrach dann ihre düsteren Gedanken und eine noch zartere Stimme fragte: „Tilly, störe ich dich?" Es war ihre Sekretärin Mary Blossom.
„Ja, ich sterbe gerade", murmelte Tilly zur Antwort und wußte bereits, dass ihre Sekretärin sie nicht gehört haben konnte.
„Ich will dich ja wirklich nicht stören, aber...", fuhr Mary zögernd fort, öffnete die Tür und sog erschrocken die Luft ein. Sofort eilte sie zu ihrer Chefin, die immer noch reglos mit dem Kopf auf dem Tisch lag. „Tilly, was ist los?"
„Ich sterbe", wiederholte Tilly in der gleichen Lautstärke und wimmerte, als Marys kalte Hände sie an den Schultern wieder in eine aufrechte Position zogen.
„Was ist denn los?" wiederholte Mary besorgt und tastete ihre Chefin hektisch ab. „Hast du dir was getan? Ist dir eine Akte auf den Kopf gefallen?"
„Ich habe Kopfschmerzen", erklärte Tilly und bemühte sich, etwas lauter zu sprechen, was sie gleich darauf bereute. Sie drückte sich ganz tief in ihren Sessel und presste die Handflächen auf die Augen, die aus ihrem Kopf zu fallen drohten.
Sofort zog Mary die Hände zurück und hielt etwas Abstand. Ganz, ganz leise fragte sie dann: „Ist es wieder diese Migräne?"
Als Tilly nickte, flüsterte ihre Sekretärin neben ihrem Ohr: „Willst du nicht doch lieber etwas dagegen einnehmen? Oder eben ins St. Mungo gehen?"
„Keine Medikamente", presste Tilly hervor und sah sich schnell nach dem Papierkorb um, „ich steh das schon durch."
„Aber du bist schon ganz grün um Gesicht", hauchte Mary besorgt und streckte wieder zaghaft die Hände nach ihrer Chefin aus. „Wie wäre es mit einem kalten Lappen? Willst du wirklich nichts einnehmen? Es tut doch nicht weh oder so. Ach, leg dich lieber hin...oder ist sitzen vielleicht besser? Hilft eigentlich Stehen? – Soll ich dir den Papierkorb holen?"
Tilly konnte trotz heftiger Schmerzen nicht umhin, über Marys wirren Gedankengängen zu lachen. Mary war eine sehr gewissenhafte und fleißige Sekretärin, die es als ihre oberste Aufgabe sah, ihrer jüngeren Chefin in allem beizustehen, selbst wenn sie nicht wußte, wie. Tilly war ihr unendlich dankbar dafür. Ihre ersten Tage als Leiterin der Beratungsstelle hätte sie ohne die mütterliche Fürsorge und das unbedingte Vertrauen der zierliche blondgelockte Frau mit den großen braunen Augen und den Hang zu gerüschten und pastellfarbenen Blusen und Kleidern erst gar nicht überstanden. Mary Blossom wäre naiv und dumm, hatte jemand gespottet. Tilly nannte das Mut und Loyalität.
„Tilly, wir brauchen wieder neue Schreibfedern", bemerkte eine verärgerte weibliche Stimme, „dieses billige Zeug bricht ständig ab. Wir sollten lieber diese Kugelschreiber benutzen."
Kurz darauf erschien in der bereits offenen Tür eine hochgewachsene, schlanke Frau Anfang 30 mit hüftlangen schwarzen Haaren und einem Teint wie frischgefallener Schnee, der durch die eisblauen Augen und die rubinrot geschminkten Lippen eine Dramatik à la Schneewittchen entfaltete. Diese Märchenprinzessin jedoch trug keine fließende Kleider oder eine neckische gelbe Schleife im Haar, sondern einen schwarzen Rollkragenpullover, einen schwarzen Bleistiftrock, schwarze Seidenstrümpfe und hohe – sehr hohe – schwarze Lackpumps. Sie war im Begriff, wieder etwas zu sagen, als Mary warnend den Finger vor den zugespitzten Mund hielt und verschwörerisch „Psssst" machte. Philippa Moore, das Schneewittchen in schwarz, betrachtete stirnrunzelnd die Szene vor sich und gab ein entnervtes Schnauben von sich. „Hast du schon wieder diese Migräne?"
Tilly und Mary nickten gleichzeitig. Mit forschen Schritten näherte sich Philippa Tillys Arbeitstisch und sah ihre junge Chefin aus schmalen Augen an. „Dann nimm endlich was dagegen."
Tilly schüttelte elendig den Kopf. „Nein, ich will nicht…so schlimm ist es noch nicht..."
„Unsinn!" zischte Philippa und tippte nicht gerade sanft mit ihrem Zauberstab fünf Mal auf Tillys Stirn und schlug danach damit drei Mal auf ihren Hinterkopf. Während Tilly sie vorwurfsvoll und geradezu entrüstet ansah, zündete sie sich mit dem Zauberstab im nächsten Moment eine Zigarette an. „Besser?"
„Bist du dir sicher, dass du eine Heilerausbildung in St. Mungo gemacht hast? Ich kriege von deiner Behandlung immer blaue Flecken", beschwerte sich Tilly, während sie sich ihre Stirn rieb.
„Dann nimm was dagegen", fauchte Philippa und tat einen langen Zug. „Wenn nicht, bekommst du nächstes Mal mehr als nur blaue Flecken, verstanden?"
„Phili! Also wirklich!" empörte sich Mary und sprach immer noch mit gedämpfter Lautstärke, „sei ein wenig sanfter zu Tilly. Du weißt doch, wie schlecht es ihr dabei geht."
Philippas strenger und kühler Blick änderte sich um keinen Deut und schließlich lächelte sie Mary herablassend an, die sich wiederum davon nicht beeindrucken ließ und die Arme lässig vor der Brust verschränkte, um ihre Konfrontationsbereitschaft zu demonstrieren. Philippa blies langsam den grauen Rauch aus und wandte sich, ohne Mary noch einmal anzusehen, wieder Tilly zu. Sehr sanft fragte sie dann: „Warum hast du wieder diese Migräne? Was ist denn diesmal passiert?"
„Er ist passiert", erwiderte Tilly und tippte auf die aufgeschlagene Personalakte vor ihr. Während Philippa einen neugierigen Blick darauf warf und den Namen „Kaine Raithford" laut las, sagte Mary: „Deswegen bin ich ja eigentlich hier, Tilly. Wegen...wegen dem da." Dabei deutete sie angewidert auf die Akte.
„Warum?" fragte Tilly erstaunt.
„Musst du ihn wirklich einstellen?" fragte Mary und rang beinah verzweifelt ihre Hände.
„Ich fürchte ja", seufzte Tilly düster. Dann zeigte sie ihr die Unterschrift und Siegel auf den Begleitbrief. „Von Fugdes persönlich. Wir haben keine Chance auf Widerspruch, wenn wir unser Budget nicht noch weiter gekürzt sehen wollen."
„Das ist so gemein", wimmerte Mary herzerweichend, „warum haben die es immer auf uns abgesehen?"
„Ach Mary, es wird bestimmt nur halb so schlimm", versuchte Tilly ihre Sekretärin zu beruhigen. „Vielleicht hört er ja nach einer Woche wieder auf und wir bekommen einen neuen Kandidaten zugeschoben."
„Glaubst du das wirklich?" fragte Philippa ohne von der Akte aufzusehen, in der sie nun mit hochinteressierter Miene blätterte. „Kaine Raithford war in Slytherin? Da war der Übervater Raithford bestimmt sehr begeistert."
„Er ist fies!" jammerte Mary weiter, ohne auf Philippas Überraschung einzugehen, und tupfte sich mit einem weißen Spitzentaschentuch die Augen trocken. „Er ist wirklich sehr fies!"
„Ich weiß", seufzte Tilly kaum hörbar. „Ich weiß."
„Aber wenigstens ist er jünger als du, Tilly", bemerkte Philippa grinsend, während sie die Asche von ihrem Glimmstängel wegschnippte. „Jetzt hast du endlich einen Angestellten, der dir nicht ständig sagt, was du als Chefin zu tun hast."
„Das tut ihr doch auch nicht", erwiderte Tilly trocken.
„Er hat mir die Haare mal blau gefärbt", unterbrach Mary die Beiden weinend, „und er wollte mir nicht verraten, wie man das rückgängig macht. Dabei war ich viel älter als er. Er hatte überhaupt keinen Respekt vor mir gehabt! Überhaupt vor niemanden hat er Respekt!"
„Könnte lustig werden", meinte Philippa nur noch und schenkte Tilly ein Lächeln, bei dem es ihr kalt über den Rücken lief.
„Nein, das wird es nicht!" schluchzte Mary, „er wird mir wieder die Haare blau färben! Das will ich nicht!"
„Wenn du nicht aufhörst, färbe ich sie blau", entgegnete Philippa gelangweilt und sah Mary dabei vielsagend auf den Unterkörper. Tilly legte sich die Hände auf die Ohren und sah Philippa vorwurfsvoll an, während Mary der Mund offen stehen blieb. Schließlich hüpfte sie einen Schritt vor Philippa zurück und quiekte schrill: „Philippa!"
„Was ist das denn für eine konspirative Versammlung, meine Damen?" fragte eine lachende Männerstimme hinter den beiden Frauen. Nach einigen schnellen Schritten stand schon die zu der Stimme gehörende Person vor Tillys Tisch. Es war ein schmaler, junger Mann mit braunen Pferdezopf und Augen und einem ewigen spitzbübischen Grinsen, der Philippa trotz ihrer mörderisch hohen Schuhe um eine Kopflänge überragte, namens Trevor MacMallister.
„Tilly hatte wieder Migräne", berichtete Mary ernst und bedachte Philippa mit einem misstrauischen Blick aus dem Augenwinkel, „wegen unserem neuen Kollegen."
„Oh", machte Trevor und runzelte besorgt die hohe glatte Stirn, „hast du dich wieder in den Papierkorb übergeben."
„Dank Philippas Behandlung nicht", antwortete Tilly schieflächelnd.
„Dann solltest du dir für die nächsten Tage die Haare in die Stirn kämmen", riet Trevor glucksend, „Philis Methoden sind ziemlich..." Noch ehe er zuende sprechen konnte, bohrte seine Kollegin ihren Zauberstaub bedrohlich fest in seine Wange. Mit einem nervösen Lachen beendete er dann seinen Satz. „...sie sind ziemlich effektiv."
„Warum bist du denn überhaupt hier?" wollte Philippa wissen und blies ihm Rauch ins Gesicht. „Solltest du nicht im Archiv sein?"
Trevor wagte es nicht, sich mit der Hand vor dem Gesicht zu wedeln, sondern hustete nur sehr verhalten. Ihr Zauberstab hatte schließlich einen gewaltigen Eindruck in seiner Wange hinterlassen. „Ich wollte Tilly fragen, ob wir einige alte Akten nicht so langsam ins Generalarchiv des Ministeriums überführen sollten, denn so langsam platzt unser eigenes Archiv aus allen Nähten."
„Mist, das habe ich ja ganz vergessen!" knurrte Tilly und rieb sich wieder die Stirn. „Wir müssen noch die alten Aktenbestände noch nach den neuen Richtlinien beschriften und sortieren, ehe wir sie ins Generalarchiv schicken, sonst bringen die mich um."
„Warum denn das?" wollte Philippa wissen, „macht das nicht das Generalarchiv selbst?"
„Wir sind nicht die einzigen, die an der kurzen Leine gehalten werden", erwiderte Tilly und erhob sich schwerfällig. „Lass uns mal die Akten durchsehen, die weg können, Trevor." Zu den beiden Frauen gewandt sagte sie: „Mädels, vertrag euch und wenn Ellery aus seiner Mittagspause zurückkommt, kann ihm eine von euch das Generalarchiv zeigen? Er war dort noch nie. - Und erkundigt euch mal nebenbei, wann die dort neue Akten aufnehmen können."
Mary nickte ernst, während Philippa spöttisch salutierte. Tilly war schon fast aus der Tür hinaus, als sie sich wieder nach ihnen umdrehte. „Wo ist Ellery überhaupt? Ich habe ihn seit heute morgen nicht mehr gesehen."
„Er holt Donughts", erklärte Philippa mit einem feinen Lächeln, ehe sie wieder einen langen Zug von ihrer Zigarette nahm. Tilly reagierte nicht sofort, sondern wunderte sich wieder einmal, wie ihre Angestellte es immer schaffte, in einer so einfachen Auskunft soviel von ihrer sadistischen Seele zu offenbaren. Wohin hatte sie den armen Ellery bloß wieder hingeschickt? Letztes Mal, als sie Eiswürfel haben wollte, mußte er sich bis zum Nordpol apparieren. Tilly wagte es nicht, danach zu fragen und vertraute einfach darauf, dass Philippa den Jungen im Grunde sehr mochte und niemals einer ernsten Gefahr aussetzen würde.
Philippa hatte nämlich die absonderliche Neigung, jüngere Männer mit einer nahezu beängstigenden Begeisterung zu drangsalieren. In diesem Sommer hieß ihr Lieblingsopfer Ellery Sommer, ein wirklich liebenswerter Junge von gerade 17 Jahren mit kurz getrimmten blonden Haaren und großen grauen Augen, der aus Schottland stammte und bald sein siebtes Schuljahr auf Hogwarts antreten würde. Er war laut seinen Zeugnissen kein hervorragender Schüler, aber er spielte Quidditch und dem Empfehlungsschreiben von seiner Hauslehrerin Professor Sprout nach war er ein engagierter und anständiger Junge. Ein richtiger „Teamplayer", wie die Muggel sagen würden.
Vor einem Jahr hatte er mit Tilly Kontakt aufgenommen und nachgefragt, ob er bei ihr ein Praktikum absolvieren könnte. Tilly, die bis dahin die Wörter „Praktikum" und „Praktikant" noch nie gehört hatte, wollte ablehnen, da sie noch nicht einmal einen Hauselfen bezahlen könnte. Aber als er ihr erklärte, dass er dann so etwas wie eine kostenlose Bürohilfe wäre, hatte sie sofort zugestimmt. Als sie ihn dann Philippa als seine Betreuerin vorgestellt hatte, hatte sie schon Gewissensbisse, dass er keinen Lohn erhielt.
Tilly nickte langsam und sagte nach einer Sekunde des tiefen Nachdenkens: „Wenn er zurückkommt, könnt ihr ihn nach Hause schicken. Ich glaube, er wird dann genug für heute getan haben."
Dann folgte sie im Laufschritt Trevor durch das Gemeinschaftsbüro der Berater in das Archiv. Das Archiv nahm den größten Raum ein, was eigentlich nicht nötig wäre, wenn man hier für etwas mehr Ordnung schaffen würde. Es war ein wirklich unzumutbar, wie sich die Kisten mit den Akten und losen Blättern bis unter die Decke stapelten, während andere Mappen und Schachteln kreuz und quer in den verstaubten Regalen lagen. Nach der Zusammenlegung der Abteilungen hatte Tilly den hinteren Teil des Archivs wegen der Unordnung nie wieder gesehen. Als Auszubildende wurde sie schon mal dazu verdonnert, hier zu für Ordnung zu schaffen, aber dann wurde sie immer woanders gebraucht. Als neue Leiterin hatte sie nie Zeit, sich darum zu kümmern. Mary litt unter einer chronischen Stauballergie und Philippa...war eben Philippa. Nur Trevor hatte sich diesem Chaos erbarmt und arbeitete sich unbeirrt und fröhlich trotz seiner zeitraubenden Beratertätigkeit durch den Aktenberg.
Während Trevor nun durch sein Reich mit sicheren Schritten bewegte, um die in Frage kommenden Akten zu holen, blieb Tilly sicherheitshalber an dem kleinen Arbeitstisch stehen, den Trevor sich gleich neben der Eingangstür hingestellt hatte. Außer den üblichen Pergamentrollen, Federn und Tintenfass stand heute auch eine halbangefangene Mahlzeit in einer Aluschale darauf. Neugierig sah sich Tilly das an. „Trevor, was isst du da schon wieder?"
„Die Muggel nennen das Schweinefleisch Chopsuey", antwortete der junge Mann aus irgendeiner hinteren Ecke des Raumes, „es kommt angeblich aus China, aber ich habe das dort noch nie gegessen."
„Dann solltest du es vielleicht auch hier nicht essen", meinte Tilly argwöhnisch.
„Egal woher das kommt, es schmeckt gut. Darauf kommt es doch an", entgegnete Trevor fröhlich und kam endlich mit einem Arm voller vergilbter Akten hervor. Er legte sie vorsichtig auf eine Kiste, die unweit seines Tisches stand. Dann schaufelte er sich eine Gabel voll Reis und diesem Schweinefleisch Chopsuey in den Mund. Noch während er kaute hielt er seiner Chefin die Schale entgegen.
„Der Hut hätte dich in Gryffindor stecken sollen", murmelte sie, als sie ein Stück Fleisch herausfischte und vorsichtig in den Mund steckte.
„Er hat schon ganz richtig gehandelt. Hufflepuff war toll", grinste Trevor, „ich bin nur bei Essen so mutig. – Ist gut, nicht?""
Tilly kaute und kaute und nickte dann langsam. „Ja, nicht schlecht."
„Gehen wir doch für unser nächstes Weihnachtsessen doch zum Chinesen!"
Tilly schüttelte den Kopf „Nein."
„Dann zum Italiener?"
„Nein."
„Griechen?"
„Nein."
„Fish and Chips?"
„Das passt schon eher ins Budget."
Trevor verzog das Gesicht. „Im Ernst? Wird es wieder so eng?"
„Das Ministerium liebt uns eben sehr", erwiderte Tilly und ihr Sarkasmus biss sich durch Trevors besorgte Miene. Grinsend hielt er ihr eine prallgefüllte Papiertüte hin, die am Boden von ihrem öligen Inhalt schon ganz durchsichtig war. „Komm, ich lad dich auf ein paar Krabbenchips ein."
Tilly probierte etwas von dem Reis, während sie ihm dabei zusah, wie er die Tüte aufriss und die großen weißen Krabbenchips appetitlich anrichtete. Plötzlich fragte er: „Wirst du ihn wirklich einstellen?"
Da es heute nur ein Thema in Büro zu geben schien, war es nicht schwierig, sich zu überlegen, wen Trevor meinte. Tilly zuckte mit den Schultern. „Habe ich denn eine Wahl?"
Der junge Berater nuckelte langsam an einem Chip herum und bedachte seine Chefin mit einem nachdenklichen Blick. „Anscheinend nicht. Der Junge wird dir richtige Kopfschmerzen bereiten."
„Ich weiß", seufzte Tilly und biss herzhaft in einen Chip hinein. „Aber vielleicht hat er sich ja geändert über die Jahre. Er kann ja nicht immer so ein Ekel bleiben."
Trevor antwortete mit einem tiefen warmen Lachen und in seinen Augen glitzerte so etwas wie Schalk und eine gehörige Portion Weisheit, die Tilly trotz des Altersunterschied von nur drei Jahren nicht verstand.
„Sein Einstellungsgespräch ist in vier Stunde", sagte sie mit einem Blick auf die Wanduhr. „Dann werden wir ja sehen, wie Kaine Raithford so ist."
Trevor hob skeptisch die Brauen. „Ein Bewerbungsgespräch um diese Uhrzeit? Ist es nicht etwas zu spät?"
„Wenn ich ihn für den frühen Mittag hierher bestellt hätte, dann wäre der reiche Bubi nie im Leben pünktlich hier gewesen."
„Wenn du so denkst, dann würde ich sagen, dass selbst der späte Nachmittag für so einen Kerl immer noch zu früh ist."
Trevor sollte Recht behalten.
Natürlich kam Kaine Raithford trotz Tillys Rücksichtsnahme nicht pünktlich. Das wäre auch zuviel erwartet gewesen. Es war schon 21 Uhr, als Tilly die Berichte ihrer Angestellten durchsah, korrigierte und abstempelte. Es machte ihr nichts aus, länger im Büro zu bleiben, da sie gleich darüber wohnte. Die Miete war vernünftig und sie war unter Muggeln. Schließlich war sie Beraterin für Muggel, die mit der magischen Welt in Kontakt gekommen waren oder noch kommen mussten, und mußte daher die Welt auch aus Augen eines Muggels betrachten. Wo konnte man das besser lernen als hier, wo so viele Muggel einem alles vormachten und einer verwirrten „Touristin" bereitwillig aufklärten? Die Bereitschaft, sich auf die Muggelwelt einzulassen, war essentiell für ihren Beruf. Tilly bezweifelte, dass Kaine Raithford sie besaß.
Sie erinnerte sich gut an ihn, da sie als Vertrauensschülerin von Hufflepuff viele Eskapaden des jungen Raithfords selbst aufgedeckt hatte. Es war nicht besonders schwer gewesen, da er sich nie viel Mühe gegeben hatte, sie zu verstecken. Obendrein hatte es ihm nie etwas ausgemacht, von ihr bestraft zu werden, denn er verstand es bravourös, seinen Hauslehrer auf seine Seite zu ziehen. Slytherin, dieses unheilige Schlangennest...
Aber diesmal würde Tilly dafür sorgen, dass er keine ihrer Anweisungen ignorieren konnte. Schließlich hatte sie verdammt noch mal wichtigeres zu tun, als sich um so einen verzogenen reichen Bengel zu kümmern, der er bewiesenermaßen war. Während die anderen Raithford-Geschwister geradezu verbissen für die Gerechtigkeit und gegen die Reste der dunklen Mächte kämpften, pflegte Kaine ein eher dekadentes Leben. In Hogwarts scharrten sich die Mädchen aller Häuser um ihn und er nahm sich jedes, das er wollte. Nach seinem bemerkenswert guten Abschluss begann er das nie versiegende Familienvermögen mit beiden Händen auszugeben und lehnte jeden Posten ab, der ihm angeboten wurde. Es war ihm schlichtweg gleichgültig, ob sein allmächtiger Vater wütend war oder ob sich seine berühmten Geschwister seiner schämten. Auch kümmerten ihn die Gerüchte, dass er eine gefährliche Neigung zur dunklen Seite zeigte, nicht besonders. Er schien es geradezu zu genießen, immer aus der Nockturngasse zu springen, um die Gerüchteküche noch mehr zum Brodeln zu bringen. An manchen Tagen füllten seine Skandale sämtliche Seiten des Gesellschaftsteils im Tagespropheten. Kaine Raithford galt bis heute als Paradebeispiel für verschwendetes Talent.
Just in diesem Moment sprang die büroeigene Alarmanlage an. Nach dem drei warnenden, aber sehr wohlklingend angeordneten Glockentönen verkündete eine fröhliche und angenehme Frauenstimme: „Achtung, Eindringling in der Wohnung." Dann folgten wieder die drei Glockenschläge, nur diesmal in umgekehrter Reihenfolge und die Stimme sagte im selben Ton: „Ende der Durchsage. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."
Tilly sprang wie von der Tarantel gestochen von ihrem gemütlichen Chefsessel und mit einer ausholenden Bewegung mit dem Zauberstaub, flogen alle offene Akten wieder in ihre Schränke, die sich sofort selbst abschlossen. Noch ehe die letzte Schublade sich geschlossen hatte, hatte sich Tilly in ihre Wohnung apparriert. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Ein Eindringling in ihrer Wohnung! Gut, dass sie die Alarmanlage auch mit ihrer Wohnung verknüpft hatte. Wenn das nun so ein Muggeleinbrecher war, die laut den Zeitungen immer alles stahlen. Es hätte entsetzliche Konsequenzen für Tilly gehabt.
Als allein stehende Hexe in einem dicht besiedelten Muggelgebiet zu leben, barg auch Risiken, wenn man nicht auf Annehmlichkeiten der magischen Welt verzichten wollte. Die Muggel würde der Schlag treffen, wenn sie die Küche betreten würden, in dem sich gerade auf Tillys Anordnung das Geschirr selbst wusch und der Brotteig für den nächsten Morgen selbst knetete. Nicht auszudenken, was alles passieren würde!
Daher war ihre erste Handlung, sämtliche Aktivitäten in der Küche zu stoppen, ehe sie sich auf leisen Sohlen und mit gezücktem Zauberstaub durch ihre dunkle Wohnung schlich. Vorsichtig drückte sie sich an die Wände, um mit der herrschenden Finsternis zu verschmelzen und blickte immer angestrengt in die Räume, um nach verdächtigen Bewegungen Ausschau zu halten, während sie gleichzeitig konzentriert lauschte. Im Wohnzimmer war alles ruhig. Die Küche lag auch im völligen Schweigen. Ebenso das kleine Bad und die noch kleinere Besenkammer. Aber dann…Tilly sträubten sich sämtliche Haare im Nacken, als sie ein leises Lachen aus ihrem Schlafzimmer hörte. Wie erstarrt presste sie sich gegen die Wand neben der Schlafzimmertür und drückte mit allergrößter Vorsicht ihr Ohr gegen die Tür. Den Geräuschen zu urteilen, war es nur ein Muggel. Nun gut, damit würde sie fertig werden. Am besten überraschte sie ihn, sprach den Lähmungszauber, apparierte mit ihm nach draußen und wandte den Gedächtniszauber an. Und während er sich erholte, war sie bereits wieder weg und er würde sich an rein gar nichts erinnern. Das klang gut.
Tillys Griff um ihren Zauberstab wurde fester und sie atmete tief ein, ehe sie fest entschlossen die Tür zum Schlafzimmer aufriss. Aber statt eines Muggeleinbrechers stand sie einem Eindringling ganz anderer Art gegenüber. Sie konnte nicht glauben, wen sie da sah. Kaine Raithford, dieser kleiner, mieser, verzogener, reicher Bengel stand inmitten ihres Schlafzimmers und stocherte grinsend mit seinem Zauberstab in der Schublade herum, in der sie ihre Unterwäsche aufbewahrte. Statt des Zauberspruchs, platzten aus ihr daher ganz andere Worte heraus, die wie ein Donner klangen, der unweigerlich dem Blitz folgte. „Was bei Merlins Zehennägeln tust du denn hier?"
Kaine Raithford schien überhaupt nicht überrascht zu sein. Es war, als hätte er von ihrer Anwesenheit schon sehr länger gewusst und nur auf sie gewartet. Sein Blick verweilte zu ihrem Ärger noch eine ganze Weile auf ihrer Unterwäsche, ehe er sich langsam zu ihr wandte. „Guten Abend, meine Schöne. Mein Name ist Kaine Raithford. Ich bin hier, um mit deiner Mutter zu sprechen."
„Was wollen Sie von meiner Mutter?" fragte Tilly stirnrunzelnd und räusperte sich, weil ihre Stimme infolge des Schocks immer noch sehr schrill klang.
„Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch bei ihr", unterrichtete er sie in einem Tonfall, als spräche er mit einer Vierjährigen. „Lauf und sag ihr Bescheid, dass ich da bin."
Tillys Brauen wanderten in die Höhe und hatte sich wieder weitgehend unter Kontrolle, als sie antwortete: „Ich glaube nicht, dass Sie das haben, Mr. Raithford. Aber ich erinnere mich, dass wir beide einen Termin hatten, der für 16 Uhr vereinbart gewesen war. Der Treffpunkt war überdies im Büro zwei Stockwerke tiefer und nicht im meinem Schlafzimmer."
Nun war es an Kaine die Brauen zu heben.
„Ich bin Mathilda Tremain", klärte sie ihn dann auf.
„Oh", machte er nur und seine überraschte Miene glitt beinahe nahtlos in ein freundliches und einnehmendes Lächeln. „Welch angenehme Überraschung. Hätte ich das geahnt, hätte ich mich nichts auf der Welt von unserem gemeinsamen Treffen aufhalten lassen."
„Wie auch immer", seufzte sie, „da Sie nun mal hier sind, können wir uns eben schnell hinter uns bringen."
„Wollen wir das nicht lieber auf morgen verschieben?" fragte er besorgt, „Sie sehen so müde aus, Miss Tremain. Eigentlich bin nur noch zu so später Stunde hier, um mich zu entschuldigen und um unseren Termin zu verschieben."
„Auf keinen Fall. Festsitzende Pflaster zieht man am besten schnell ab", erwiderte sie brummig.
„Wie bitte?" fragte er amüsiert.
„Folgen Sie mir einfach ins Wohnzimmer", seufzte sie nur und ging den Flur hinunter, ohne auf seine Verbeugung zu achten.
Im Wohnzimmer angekommen, entzündeten sich die Kerzen und der Kamin auf ihr Fingerschnippen hin. Die flauschige Decke in Altrose entfalteten sich und drapierte sich einladend auf ihren Lesesessel, der vor dem Kamin stand, während ein kleiner Hocker sich knurrend und quietschend durch den Raum kämpfte, nur um vor dem Sessel zur Ruhe zu kommen. Ein Beistelltisch trippelte auf seinen drei Holzbeinen näher an die Armlehne, damit Tilly ihren Zauberstab auf ihn legen konnte. Aber sie legte ihn nicht sofort nieder, sondern zeigte mit ihm in Richtung Haustür und befahl müde: „Accio Personalakte Kaine Raithford."
Ehe sie sich setzte, bot ihrem Gast den anderen Ledersessel an, der sofort aus einer anderen Ecke herangerutscht kam. Dann deutete sie mit dem Zauberstab in Richtung Küche und beschrieb damit in der Luft eine komplizierte Figur, die sie sich von Mary abgesehen hatte. Kurz darauf schwebte ein Tablett mit einer dampfenden Kanne Tee, zwei Tassen, Zuckerdose und Milchkännchen ins Wohnzimmer. Während Tilly ihrem Gast einschenkte, traf auch schon die Akte aus dem Büro ein. Als sie sich endlich zurechtgesetzt hatte, die Akte auf den Schoß hatte und aufsah, um das längst fällige Bewerbungsgespräch zu führen, bemerkte sie, wie Kaine Raithfords schwarze Augen sie einer seltsam kühlen Musterung unterzogen. Sie war deswegen keineswegs verunsichert, sondern eher verärgert über seine offensichtliche Unhöflichkeit ihr gegenüber. Das war wirklich kein guter Start für Kaine Raithford. Dennoch. Mit dem Rest Freundlichkeit, die ihr nach dem Schock über sein plötzliches Auftauchen übriggeblieben war, fragte sie: „Ist etwas, Mr. Raithford?"
Es war kaum zu erkennen gewesen, aber er war aus seiner intensiven Betrachtung aufgeschreckt. Außerdem behielt seine Stimme zwar den charmanten und freundlichen Ton bei, aber seine Augen sahen sie derart scharf an, als würde er sie sezieren wollen. „Kennen wir uns nicht von irgendwoher?"
„Tatsächlich kennen wir uns von Hogwarts", erwiderte Tilly lächelnd, „es wunderte mich allerdings, dass Sie mich nicht erkennen."
„Nun ja", lachte er verlegen und sah ihr dabei tief in die Augen, „mit der Zeit wurde es auch für mich schwer, jedes noch so liebreizende Gesicht in Gedächtnis zu behalten. Ich bedaure es natürlich, aber wissen Sie, es waren so viele."
Zu seiner endlosen Überraschung begann sie zu lächeln und es verwirrte ihn, so etwas wie Ironie in ihrer Miene zu erkennen. Obendrein wurde ihre Antwort von einem fröhlichen Kichern begleitet: „So oft wie ich dich nachts auf den Gängen und am schwarzen See erwischt habe, ist es kein Wunder, dass du mich vergessen hast, Raithford. Ich darf doch duzen, oder?"
„Ich erinnere mich", sagte er langsam und seine Augen wurden ein wenig schmaler. „Hufflepuff, stimmt's?"
Tilly nickte bedächtig. „Da wir das geklärt haben, können ja mit unserem Gespräch beginnen, Raithford."
„Ich sehe, du bist immer noch so gradlinig wie damals", bemerkte er mit einem geradezu beleidigend gönnerhaften Unterton. Es schien, als habe er sich von seiner Überraschung wieder erholt. „Aber das liebe ich an Frauen. Kommen wir zur Sache. - Dürfte ich bitte anfangen?"
Sie sah ihn zwar erstaunt an, hatte aber nichts dagegen. „Hast du etwas auf dem Herzen, Raithford?"
„In der Tat", begann er und machte eine in Tillys Augen unnötige dramatische Pause. „Ich will diese Stelle nicht."
Sie sank in ihren Sessel zurück und sah ihn stirnrunzelnd und schweigend an, was er als Zeichen deutete, fortzufahren. „Um ehrlich zu sein, hat mein Vater, Zachary Raithford, diese Anstellung für mich arrangiert. Er findet es wichtig, dass ein Mann in meinem Alter arbeiten muss, um wahre Selbstachtung zu erfahren." Kaine unterbrach sich hier mit einem sarkastischen Lächeln. „Ich bin natürlich nicht einer Meinung mit ihm, aber mein alter Herr wird keine Ruhe geben, bis schwarz auf weiß steht, dass ich eine ordentliche Anstellung habe. Daher..." Wieder hielt er inne und schenkte Tilly diesmal ein verführerisches Lächeln, das er gekonnt mit einem Hauch aristokratischer Arroganz verknüpfte. „...möchte ich dir einen Handel vorschlagen."
Völlig sprachlos hatte sie ihm bisher gelauscht und ihre Brauen waren dabei immer mehr in die Höhe gewandert. „Was für einen Handel?"
„Du bestätigst du meinem Vater, dass ich hier arbeite", erklärte Kaine, „dafür kannst du meinen Lohn behalten und damit tun, was du für richtig hältst. Außerdem werde ich dir und deinen Leuten nicht im Weg stehen und mich aus diesem Büro fernhalten."
„Bitte was?"
„Es wäre aber sehr freundlich, wenn man mich benachrichtigt, falls es Kontrollbesuche des Ministeriums geben sollte", fuhr er unbekümmert fort und betrachtete dabei kritisch seine perfekt manikürten Nägel, „ich werde dann selbstverständlich anwesend sein und dir die Verlegenheit zu ersparen, dir Entschuldigungen für meine Abwesenheit ausdenken zu müssen. Soviel von Gemeinschaft verstehe ich dann doch noch." Wieder machte er eine kurze Pause, um ihr mit einem gewinnenden Lächeln tief in die Augen zu sehen. Seine Stimme wurde um einige Nuancen tiefer und klang samtig und gefährlich einschmeichelnd. „Es sei denn, es macht dir nichts aus. Aber ich werde mich selbstverständlich ganz nach dir richten."
„Das soll heißen, du wirst nur zum Schein hier sein?" fragte sie ungläubig, „und du erwartest, dass ich mich dafür verbürge?"
Kaine sah sie mit einer Mischung aus Amüsement und Herablassung an. „Wir wissen doch beide, dass ich nicht freiwillig hier bin und dass du mich niemals freiwillig eingestellt hättest. Also, warum helfen wir uns nicht einander?"
„Es stimmt, daß ich dich nicht eingestellt hätte, aber es ist nun dazu gekommen und wir müssen das Beste daraus machen", erwiderte Tilly ruhig.
Kaine lächelte sie charmant an. „Exakt meine Meinung." Spöttisch deutete er eine Verbeugung an. „Dann wünsche ich dir eine geruhsame Nacht."
„Wir sind noch nicht fertig", sagte Tilly so ruhig, wie sie nur konnte. Sie hatte ihre Finger ineinander verschlungen, um nicht nach ihren Zauberstab zu greifen. Dieser kleine arrogante Dreckskerl hatte sich um keinen Deut verändert!
„Ich denke doch", erwiderte Kaine immer noch mit diesem kleinen spöttischen Lächeln.
„Du weißt noch nicht, wann die Arbeitszeiten sind", erinnerte sie ihn und bemühte, tief ein- und auszuatmen, „oder welchen Tisch du bekommst. Ganz zu schweigen von der Kleiderordnung, die hier herrscht. Oder was noch wichtiger ist, wer dein Ausbilder sein wird, denn so wie es aussieht, hast du vom Beraterberuf keinerlei Ahnung."
„Wozu?" fragte er lachend, „ich werde ja doch nicht hier sein."
„Doch, du wirst", bekräftigte Tilly entschlossen, „wir sind unterbesetzt und da ich nehme jeden, den mir das Ministerium zugesteht. – Selbst dich, Kaine Raithford."
„Wie willst du mich dazu bringen, für dich zu arbeiten?" fragte er mit einem herablassenden Lächeln. Seine tiefschwarzen Augen glitzerten selbst dann noch wie Edelsteine, als er sie herausfordernd unter halbgesenkten Lidern ansah. „Wie willst du mich dazu bringen, jeden Tag hierher zukommen? Willst du mich mit einem der unverzeihlichen Sprüchen belegen? – Oh, ich vergaß, so etwas ist ja verboten in dieser Abteilung. - Mein Fehler."
Tillys Brauen zuckten unter der Anstrengung, sich zurückzuhalten. Sie schloss die Augen und zählte angestrengt bis 10. Als sie wieder dieses eklig triumphierende Grinsen sah, konnte sie nicht umhin doch mit den Zähnen zu fletschen. „Nein, ich mach es wie die Muggel. Wenn du nicht kommst, zerquetsche ich dir einfach die Eier."
Ende des 1. Kapitels
Schlussbemerkungen:
Zur Einstimmung bin ich die Geschichte mal langsam angegangen.
Ja, es geht so langweilig weiter.
Auf Englisch klingt doch alles viel besser...
Filmmusik ist cool.
