Autorin: Viper
Inhalt: Eine Geschichte über Liebe, Leichtsinn und Verrat
– und dass Freundschaften im Banne der Dunkelheit wie zartes Glas zerbrechen können.
Ginny und ein geheimnisvoller Junge reisen ungewollt in die Zeit der Marauders,
in der auch Snape und Lily zur Schule gehen, und die Zeit beginnt,
ein grausames Spiel mit ihnen zu spielen
(Ginnys 6. Schuljahr, 1997 und Marauders 7. Schuljahr, 1977.).
Disclaimer: alle wiedererkannten Figuren gehören J.K. Rowling.
Prolog
Es ist an der Zeit,
bist du dafür bereit -
Bereit, deine Welt hinter dir zu lassen,
sie womöglich auf ewig zu verlassen?
Düsternis beherrscht unsere Seelen,
Sterne funkeln am Himmel wie Juwelen,
Ich stehe hier und erflehe Macht,
über mich, über uns und über die Nacht.
Es offenbart sich pure Finsternis,
nichts ist uns mehr ein Hindernis -
Selbst die unsterbliche Wahrheit,
wird übermannt von Dunkelheit.
O, bittere Tränen der Verzweiflung,
vergeblich warten sie auf Erlösung,
denn die Zeit treibt mit uns ein Spiel,
ohne einen Sinn und ohne ein Ziel.
© Viper 2003
1. Kapitel ~ Das Tor der Zeit
Nicht wir Menschen sind es, die mit der Zeit zu spielen vermögen. Die Zeit spielt mit uns...
September 1388.
Stumm stand er vor dem sorgsam aus Rosenholz geschnitztem Tisch.
Obwohl es draußen hell war, hatten sich dunkle Wolken aufgetan, die die Sonne verbargen. Vögel krächzten warnend und flogen davon, dann war es still.
Er hob seinen Zauberstab und tippte damit auf einen kleinen Gegenstand, während er die uralten Worte des Zaubers sprach.
Er wusste, dass das, was er tat, verboten war. Doch er glaubte nicht, dass es wirklich funktionieren würde. Und wenn, dann würde er den Zauber und die Folgen zu überlisten wissen.
Ein Wirbelsturm wurde geboren und näherte sich ihm.
Mystische Farben blendeten ihn und warfen silberne Schatten in der Dunkelheit des Raumes.
Sie erinnerten ihn an Einhornblut.
Dann hörte er eine uralte Stimme Wortfetzen flüstern.
* * * * * * * * * * * * * * * * * *
September 1997.
Ginny lief über die Ländereien zurück in die Burg. Sie war bei Hagrid gewesen, doch als sie sah, wie der eben noch strahlend blaue Himmel sich verdunkelt hatte und finstere Gewitterwolken im Norden aufgezogen waren, machte sie sich schnell auf dem Rückweg.
Doch natürlich war es zu spät.
Dicke Tropfen hagelten plötzlich von oben herab, ein lautes Donnergrollen ließ Ginny zusammenzucken und ein greller Blitz erhellte den Himmel. Obwohl es ein Septembernachmittag war, war es richtig düster geworden.
Ginny lief ein wenig schneller. Sie fluchte in Gedanken und fragte sich, wo in Gottes Namen die dicken Gewitterwolken so plötzlich aufgetaucht waren. Es waren noch etwa hundert Meter bis zur Burg und Ginny gab auf, einen Sprint hinzulegen, nur um halbwegs trocken anzukommen. Sie war bereits vollkommen durchnässt.
Wieder zuckte ein Blitz am Himmel und tauchte die Ländereien in ein bizarres Licht. Ginny schaute zum Himmel auf, bemerkte etwas scheinbar Kosmisches und wandte den Blick wieder ab.
‚Was?'
Sie erstarrte und schaute wieder zum Himmel empor. Verblüfft riss sie die Augen auf, als sie tatsächlich etwas scheinbar Kosmisches entdeckte. Direkt schräg über sie waren die schwarzen Gewitterwolken auseinandergerissen und bildeten eine Lücke. Doch statt dahinter weitere Wolken zu erblicken, oder das Blau des Himmels, sah Ginny, dass sich diese Stelle mystisch violett verfärbt hatte - wie der Nebel des Orion im All - umringt von einem hellen Grau und Sternenweiß. Das Grau und Sternenweiß glitten sanft in das Violett über. Schwache Sterne blinkten auf und das Violett wurde zur Mitte des Lochs hin immer stärker.
‚Was ist denn das?'
Wie gebannt verfolgte Ginny dieses Naturschauspiel und fragte sich, was es zu bedeuten hatte. Sie beobachtete, wie das mysteriöse Farbige plötzlich aufgestoßen wurde, wie ein Tor, so würde Ginny sich später erinnern; dahinter war es pechschwarz. Das Donnergrollen wurde mit einem Male lauter und lauter und schien nicht aufhören zu wollen. Gleich mehrere Blitze zuckten am Himmel, doch Ginny nahm von alldem nichts wahr. Sie schenkte nur dem Naturschauspiel in den mystischen Farben ihre Aufmerksamkeit. Die Wolken ringsherum wirbelten durcheinander und machten das Ganze noch imposanter, als es schon war.
Als der Donner am lautesten, die Blitze am Grellsten waren und der Regen wild und unbeherrscht herunterprasselte, sah Ginny fassungslos, wie etwas aus dem pechschwarzen Loch hinausgeworfen wurde. Sie nahm ein Flüstern wahr, aber der Donner war zu laut, um zu verstehen, was es zu sagen hatte. Ein unheimliches, uraltes, lauerndes Flüstern schien aus dem Loch am Himmel zu kommen. Nur Fetzen drangen an ihr Ohr.
"...aufgestoßen... des Zeiten Tore... und aus der Asche der Unendlichkeit..."
Ginny konnte sich keinen Reim daraus machen, außerdem war sie viel zu sehr von dem Schauspiel fasziniert, was sich ihr am Himmelsgewölbe bot.
Die mystischen Farben schlossen sich wieder und von dem Schwarz war nichts mehr zu sehen. Das Flüstern verstummte. Das fliegende Etwas segelte Ginny entgegen und sie machte einen erschrockenen Sprung zur Seite. Der Wind war stark und nahm dem Sturz des Etwas an Kraft. Mit einem schnellem Blick zum Himmel sah sie, dass die Farben verschwunden waren. Dunkle Gewitterwolken zogen drüber hinweg, als wäre nichts geschehen, der Donner wurde leiser und die Blitze wurden seltener. Selbst der Regen peitschte Ginny nicht mehr hart ins Gesicht, sondern fiel sanft vom Himmel herab.
Etwa zwei Meter vor dem Boden wurde der Flug des Etwas durch offenbar unsichtbare Kraft angehalten. Für einige Sekunden schwebte es dicht über dem Boden, dann wurde es endgültig fallengelassen.
Es gab einen dumpfen Schlag, als das dunkle Etwas hart auf dem Boden aufschlug. Ginny hörte ein Stöhnen und kreischte entsetzt auf, als sie merkte, dass dieses Etwas menschliche Formen und Umrisse hatte.
Fassungslos starrte sie es an. Ihre Gedanken wirbelten durch ihren Kopf und versuchten eine Erklärung zu finden - vergeblich. Es war eindeutig ein Mensch. Es hatte einen Kopf und trug einen schwarzen, langen pelzbesetzten Mantel. Es lag auf der Seite, mit dem Rücken zu ihr und zusammengekrümmt. Offensichtlich vor Schmerzen. Ginnys Gedanken wirbelten noch immer durch ihren Kopf und sie schien sie nicht bändigen zu können.
Sie wusste nicht, wie lange sie dort gestanden und das Etwas angestarrt hatte, aber als es erneut stöhnte, kam sie wieder zur Besinnung, bekam ihre auflehnenden Gedanken zur Ruhe und machte einen vorsichtigen Schritt darauf zu. Sie zog ihren Zauberstab und näherte sich einen weiteren Schritt. Dann ließ sie alle Vorsicht fallen und lief dahin, kniete sich auf dem schlammigen Boden nieder und maß es mit schnellen Blicken. Es war eine schlanke Gestalt. Vorsichtig berührte sie es am Arm und drehte es leicht auf den Rücken.
Sie zuckte leicht zusammen, als es sofort nachgab und auf den Rücken fiel.
Ginny konnte nun sein Gesicht sehen.
Es war ein bleicher Junge, wie sie verblüfft feststellte. Hastig griff sie nach seinem rechten Handgelenk und fühlte nach seinem Puls. Sie konnte ihn fühlen. Er lebte. Er war offenbar nicht ganz bei Bewusstsein. Im Moment also ungefährlich.
Endlich gestatte sie sich einen genaueren Blick in sein Gesicht.
Der Junge musste in ihrem Alter sein. Er war blass, nahezu bleich und hatte dunkle, fast schwarze Haare. Sie fielen ihm in die Stirn und wurden am Hinterkopf kürzer. Eine Wunde war an seiner rechten Schläfe und Blut sickerte langsam heraus. Seine Nase war schmal und gerade und seine Gesichtszüge waren sehr fein und aristokratisch. Er hatte hohe Wangenknochen und sah sehr friedlich und versonnen aus. Die großen Augen hatte er geschlossen, aber er hatte lange, dichte Wimpern, was ihm etwas Unschuldiges verlieh.
Unter dem enganliegenden kostbaren Mantel trug er ein schwarzes Hemd mit einem schmalen, aber langen Ausschnitt ohne Kragen, was sehr teuer aussah, eine schwarze Hose und schwarze, edle Stiefel. Ein silbernes Schwert, was er um die Hüften trug, blitzte Ginny entgegen und sie hob überrascht die Augenbrauen. In seiner linken Hand hielt er seinen Zauberstab.
Der Junge war hübsch, aber das interessierte Ginny nicht. Wer war er und wieso fiel er vom Himmel?
Ginny bemerkte gar nicht, wie das Gewitter so plötzlich vorüberzog, wie es gekommen war. Es fielen nur noch leichte Regentropfen vom Himmel, aber auch das bemerkte sie nicht. Sie war zu sehr in Gedanken vertieft. Sie kniete noch immer neben dem Jungen und überlegte mittlerweile nicht nur, wer er war und warum neuerdings junge Zauberer vom Himmel fielen, sondern auch, was sie tun sollte.
Sollte sie in die Burg rennen und jemanden holen, der ihr half, den Jungen zur Krankenstation zu bringen? Das wäre das Naheliegendste und auch das Vernünftigste, wie sie sich einredete. Aber da war etwas, irgendetwas in ihrem Gefühl, dass ihr verriet, niemandem den Jungen zu zeigen. Es war schließlich nicht normal, dass man vom Himmel fiel.
Doch was war, wenn er Böses und Gefährliches im Schilde führte? Wenn er ein schwarzer Magier war? Gerade, weil es nicht normal war, auf welche Art und Weise er auf die Ländereien Hogwarts gesegelt war, sollte sie ihn offiziell melden.
Ginny nahm ihm seinen Zauberstab weg und steckte ihn vorsichtshalber ein.
Sie grübelte weiter. Würde man ihr überhaupt glauben? Der Junge konnte alles abstreiten und man würde sie auslachen. Andererseits gab es keinen Grund, warum sie sich so etwas ausdenken sollte.
Ginny wurde langsam verzweifelt. Sie wusste nicht, was sie tun sollte und die Versuche, das Für und Wider abzuwägen, halfen nichts. Vielleicht sollte sie es wenigstens Hermione erzählen. Aber Hermione würde es vielleicht Harry und Ron erzählen oder gleich zu Dumbledore gehen. Hermione war Schulsprecherin, es wäre keine gute Idee, es ihr als Erste zu erzählen. Aber wem sonst? Ron würde sie auslachen, wenn sie ihm erzählen würde, der Junge hier wäre durch die Wolken gefallen. Und Harry würde sie zwar vielleicht nicht auslachen, aber sie zumindest mit einem dieser ‚Ja ja, die Kleinen spinnen mal wieder'- belustigten Blicke bedenken.
Sie war so sehr in ihre Gedanken vertieft, dass sie erst einen Augenblick später realisierte, dass der Junge seine Augen aufgeschlagen und sich geregt hatte.
Doch als sie seine hellgrauen Augen wahrnahm, stieß Ginny einen erschrockenen Schrei aus, umklammerte ihren Zauberstab und wich zurück, mit dem Ergebnis, dass sie sich auf ihren Po setzte.
Hastig rappelte Ginny sich auf, ihr Körper war angespannt. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie sicher war, er würde es hören. Kalter Schweiß brach ihr aus, aber sie behielt die Ruhe. Etwas Ruhe, zumindest.
Benommen richtete der Junge sich auf und versuchte, aufzustehen. "Was war los?", murmelte er leise. Er fasste sich mit der Hand an seiner verwundeten Schläfe und verzog kurz das Gesicht, als er die Platzwunde berührte.
"Halt", sagte Ginny. Ihre Stimme zitterte leicht, aber sie meinte es ernst. Sie richtete ihren Zauberstab auf ihn.
Verblüfft hielt der Junge in seiner Bewegung inne und ließ sich wieder zurücksinken. Er saß auf dem nassen Boden und schaute zu ihr auf. Verwirrt. Und anmaßend. Seine Hand glitt dorthin, wo sein Zauberstab bis vor kurzem noch seinen Platz hatte, doch er zeigte keine Reaktion, als er merkte, dass er fehlte.
"Wer bist du?", fragte er barsch; Ginny und ihren Zauberstab nicht aus den Augen lassend.
Seine dunklen Haarsträhnen klebten ihm nass vom Regen auf der Stirn.
"Dasselbe wollte ich dich auch gerade fragen", meinte Ginny und war überrascht, wie mutig sie klang.
Sie sah, wie der Junge missmutig seine Stirn runzelte.
Jetzt, wo er wach war, wirkte er nicht mehr so friedlich und unschuldig. Seine hellgrauen Augen waren kalt und trotz seiner langen, dunklen Wimpern, die ihm etwas Unschuldiges verliehen, strahlten sie Arroganz aus. Auf seinen feinen Zügen lag ebenfalls Arroganz. Und Anmaßung.
"Du bist vom Himmel gefallen."
Diesmal riss der Junge seine Augen auf. Ungläubig, fand Ginny.
"Du bist vom Himmel gefallen. Die Wolken haben sich geteilt und mystische Farben waren an dieser Stelle zu sehen. Dann bist du..." Ginny wurde bewusst, wie seltsam und unglaubwürdig sich ihre Erklärung anhörte. Verrückt. "...von dort hier herunter gefallen", beendete sie langsam den Satz.
Der Junge stand nun auf, vorsichtig und anmutig, mit den Bewegungen einer Raubkatze, und ohne Ginny aus den Augen zu lassen. Als er stand, schwankte er leicht. Sein Haar klebte ihm nass auf der Stirn.
Er war hochgewachsen, einen ganzen Kopf größer als Ginny. Spöttisch sah er sie an. "Dein Gehirn ist nicht im Geringsten mit deinem Mund verbunden, oder?", fragte er voller Hohn und maß sie mit knappen Blicken.
Ginny starrte ihn an, ihr Mund klappte herunter. So viel Frechheit hatte sie nicht erwartet. Natürlich klang ihre Behauptung absurd, aber er musste doch wissen, dass es wahr war! Hastig schloss sie ihren Mund.
"Du erinnerst dich nicht mehr?", fragte sie, ohne auf seine Provokationen einzugehen. "Du bist wirklich vom Himmel gefallen. Was hast du zuletzt getan?"
Der Junge betrachtete sie zornig und Ginny fragte sich, warum. Sie vermutete, weil sie ihn bedrohte.
Nachdenklich holte sie seinen Zauberstab hervor und beobachtete, wie der Junge seine Augenbrauen finster zusammenzog. "Wenn du es mir erzählst, gebe ich ihn dir zurück."
Der Junge schnappte nach Luft. "Du willst mich erpressen, Bauernmädchen? !", fragte er ungläubig. "Das würdest du nicht wagen!"
Ginny merkte, wie er seine linke Hand auf sein Schwertgriff unter dem Mantel legte, aber es machte ihr keine Angst. Sie war diejenige mit dem Zauberstab und somit im Moment die Mächtigere. Sie wusste noch immer nicht, was sie eigentlich tun sollte und hatte sich entschieden, es sich erst zu überlegen, wenn der Junge ihr alles erzählt hatte. Wer weiß, vielleicht war er ja ein Anhänger Voldemorts... .
"Erzähl'", forderte sie ihn auf.
Der Junge legte seinen Kopf etwas zur Seite und schaute sie nachdenklich und immer noch finster an. Seine Lage schien ihm ganz und gar nicht zu gefallen, dass sah man ihm an. "Es war ein Zeitzauber", sagte er schließlich.
Ginny riss die Augen auf. "Ein Zeitzauber...", wiederholte sie lahm.
Der Junge nickte. "Ich wollte fünf Jahre in die Zukunft reisen."
"Du beherrschst einen Zeitzauber..." Ginny konnte es kaum fassen. Sie kannte gar keinen Zeitzauber. Sie hatte zwar immer angenommen, dass es einen gibt, aber sie hatte nie etwas darüber gelesen. Vielleicht, weil es verboten war.
"Du bist ziemlich unhöflich", bemerkte der Junge barsch.
Ginny blinzelte verwirrt.
"In welchem Jahr bin ich? Und wo um Gottes Willen sind wir?"
"Wir haben das Jahr 1997", antwortete Ginny langsam. "Und das hier ist Hogwarts, die englische Schule für Zauberei und Hexerei."
"1997?", wiederholte der Junge ungläubig und starrte Ginny fassungslos an. Er sah aus, als ob seine Knie jeden Augenblick nachgeben würden. Aber sie taten es nicht. Stattdessen starrte er Ginny weiterhin an. "1997? Bist du dir sicher?"
Ginny nickte. "Natürlich bin ich mir sicher. Aus welchem Jahr kommst du denn?" Sie sah ihn neugierig an. Sie hatte keine Zweifel, dass er die Wahrheit sprach. Er hatte keinen Grund zu lügen, fand sie. Außerdem machte es Sinn. Schließlich war er vom Himmel gefallen.
"Dann ist irgendetwas mit meinem Zeitzauber schiefgelaufen", murmelte der Junge. Er raufte sich die Haare. Dann blinzelte er Ginny an. "Wie? Ach so... ich komme aus dem Jahr 1388. Und ich wollte ins Jahr 1393."
Nun war es Ginny, die fassungslos dreinblickte. "1388?", wiederholte sie. Sie lachte ungläubig auf. Sie dachte, er würde sie auf den Arm nehmen, aber dann besah sie sich noch einmal seine Kleidung. Es würde hinkommen. Seine Art zu Reden. Und sein Schwert... es würde für sich sprechen, dass er tatsächlich aus dem Jahr 1388 käme. Aber es war verrückt. Ihre Gedanken wirbelten wild in ihrem Kopf herum. "Das ist verrückt."
Der Junge zuckte mit den Achseln und spieß sie mit seinen verächtlichen Blicken auf. "Wie sprichst du überhaupt mit mir, Bauernmädchen!"
Ginny sah ihn empört an. "Ich bin kein Bauernmädchen."
"Nicht? Und was bist du dann?" Er glitt mit seinem Blick über ihre Kleidung.
Ginny errötete leicht. Natürlich sah ihre Kleidung nicht kostbar aus. Aber sie schämte sich dessen normalerweise nicht. "Ich bin ein ganz normales Mädchen."
Der Junge lachte höhnisch auf. "Was ist dein Vater? Er wird wohl kaum ein Graf, Lord oder gar ein Earl sein bei der Kleidung. Also kannst du ja nur ein Bauernmädchen sein. Und demnach hast du mir Respekt zu zollen."
Ginny presste ihre Lippen aufeinander. "Mein Vater arbeitet im Zauberministerium. Und du bist derjenige ohne Zauberstab, wenn ich dich daran erinnern darf. Außerdem gibt es heutzutage keine Lords mehr."
"Was?" Der Junge schien aus allen Wolken zu fallen.
"Was hast du jetzt vor?"
"Was hast du da eben gesagt?"
"Erzähl' mir erst, was du vorhast."
Der Junge sah sie wieder finster an. Er sah aus, als ob er sie zurechtweisen wolle. Aber dann blickte er auf ihren, dann auf seinen Zauberstab in ihren Händen, zuckte erneut mit den Achseln und überlegte. "Ich muss zurück. Ich weiß aber nicht wie."
"Bitte?"
"Ich dachte, ich hätte Zeit genug, mir zu überlegen, wie ich zurückkomme, wenn ich erst mal ans Ziel gekommen bin", rechtfertigte er sich. "Außerdem hatte ich nur vor, fünf Jahre in die Zukunft zu reisen."
"Was wolltest du überhaupt in der Zukunft?"
"Privatangelegenheiten", winkte der Junge hochmütig ab. "Und nun erzähl' mir, warum es keine Lords mehr gibt."
Ginny merkte erst jetzt, dass sie fror. Ihre Anspannung wich langsam zurück, sie merkte, dass keine Gefahr von dem Jungen ausging - zumindest solange nicht, wie er keinen Zauberstab hatte - und sie spürte die Nässe und Kälte, die sich in ihrer Kleidung, auf ihrer Haut und in ihren Knochen festgesetzt hatte. "Vielleicht sollten wir reingehen", sagte sie langsam.
Der Junge nickte. "Und es wäre besser, wenn du nicht gleich jedem davon erzählen würdest."
"Du gibst also zu, vom Himmel gefallen zu sein?"
Nachdenklich musterte der Junge sie aus seinen hellgrauen Augen. "Wenn du es sagst, wird es wohl so gewesen sein, hm."
"Ich erzähl' es niemandem. Vorerst nicht", versprach sie. Vielleicht lag es daran, dass Ginny keine wirklichen Freunde in Hogwatrs hatte und sich oft einsam fühlte. Vielleicht lag es aber auch einfach nur daran, dass sie zu naiv war. Vielleicht war es eine Mischung aus beidem, was dazu führte, dass sie dem Jungen in gewisser Weise vertraute.
"Ich bin übrigens Ginny." Sie steckte seinen Zauberstab wieder weg und hielt ihm ihre freie Hand entgegen.
Er schlug nicht ein, sondern verschränkte finster die Arme vor die Brust. "Du bist meines Standes nicht würdig. Ich bin Mortimer Colwell of Worcester. Du hast mich mit 'Sir' oder 'Mylord' anzureden. Außerdem ziemt es sich überhaupt nicht, mich zu duzen." Er sah sie noch einmal hochmütig an, ehe er an ihr vorbeischritt.
Sprachlos wandte Ginny sich um und starrte ihm auf den Rücken. "Gott, bist du arrogant", stieß sie hervor.
Mortimer blieb stehen und drehte sich zu ihr um. "Ich dachte, du wolltest reingehen."
Ginny ging auf ihn zu und holte ihn ein.
"Ich nehme an, du hast nicht vor, mir meinen Zauberstab zurückzugeben, du Diebin?"
Ginny lachte ungläubig auf. "Diebin?", wiederholte sie. Langsam fand sie es amüsant. "Ich bin keine Diebin. Und genau, ich habe ich nicht vor, dir deinen Zauberstab wiederzugeben, ehe ich nicht weiß, ob du eine Gefahr darstellst."
Sie hielt ihren Zauberstab noch immer in der Hand. Dann ging sie los und Mortimer beeilte sich, neben ihr herzugehen.
Sie stiegen die Treppen zu Hogwarts hoch. Ginny wollte gerade die schwere Eichenholztür öffnen, als Mortimer zuvorkam. "Mylady", sagte er und gewährte ihr den Vortritt. Doch in seiner Stimme lag zuviel Hohn, um es als höfliche Geste aufzufassen.
"Wenigstens weiß einer von uns beiden, wie man sich zu benehmen hat", fügte er hinzu, als sie die Eingangshalle betraten.
Ginny wandte sich zu ihm um. "Deine Wunde...", murmelte sie. "Tut mir leid, dass ich gar nicht danach gefragt habe." Sie legte ihren Zauberstab an seine Wunde, doch Mortimer wich zurück.
"He, lass das!", forderte er.
"Ich will sie doch nur heilen", erklärte Ginny beschwichtigend. Sie unternahm einen erneuten Versuch und diesmal ließ er sie gewähren. Als sie die Wunde geheilt hatte, trat sie einen Schritt zurück, nickte kurz und wandte sich um. "Du sagst jetzt am Besten nichts mehr. Es ist einfacher, wenn niemand weiß, dass du aus dem Mittelalter bist. Folge mir einfach."
"Mittelalter?", wiederholte Mortimer verwirrt.
Doch Ginny hatte sich schon eilig zu den Treppen, die zur Bibliothek führten, gewandt.
"So weit ist es schon gekommen, dass ich mir etwas von einem Bauernmädchen befehlen lassen muss", hörte sie Mortimer dicht hinter sich murmeln, sie ignorierte ihn aber.
"Hier ist die Bibliothek", sagte Ginny, als sie oben angekommen waren. Sie trat ein und stoppte plötzlich, als sie Harry, Ron und Hermione auf sich zukommen sah.
Sie fühlte einen Stoß im Rücken und prallte einen Schritt nach vorne. Mortimer war ihr in den Rücken gelaufen.
"Hey Ginny", rief Ron ihr laut entgegen. "Müsst ihr Schularbeiten machen? Mann, ihr seid aber nass." Ron grinste sie unverschämt an.
"Hal-lo", sagte Ginny lahm. ‚Was soll ich tun, was soll ich tun?', dachte sie panisch. ‚Oh Gott, hoffentlich hält dieser Mortimer die Klappe.'
"Wer ist denn das?", fragte Hermione interessiert, als sie Mortimer sah. Sie musterte ihn neugierig.
Ginny schaute über die Schulter.
Ja, so wie Mortimer da stand, mit einem langen Mantel und den anderen kostbaren Sachen, völlig durchnässt und keinen Hauch von einer Hogwartsuniform, war er alles andere als unauffällig. Sein Schwert zeichnete sich deutlich unter seinem offenen Mantel ab.
"Das ist Mortimer. Er ist aus Ravenclaw. Wir müssen was für den Unterricht zusammen machen", sagte Ginny hastig.
"Aha", meinte Ron dumpf und musterte Mortimer mit einer Mischung aus Neugier und Misstrauen.
"Wo ist denn deine Hogwartskluft?", wollte Harry von Mortimer wissen.
"Wollt ihr euch nicht etwas Trockenes anziehen?", fragte Hermione und runzelte die Stirn. "Ihr holt euch noch einen weg."
"Ja, ja, das machen wir gleich", sagte Ginny schnell.
"Meine Güte, was ist denn hier los", erscholl eine neue Stimme.
"Madam Pince", sagte Hermione schnell. "Wir gehen ja schon."
"Ja, ihr stört nämlich die anderen." Madam Pince war herangetreten und musterte die Gruppe ärgerlich. "Ihr seid ja vollkommen durchnässt! So kommt ihr mir aber nicht herein", fuhr sie Ginny und Mortimer an.
"Wer ist denn das, die Empfangsdame?", raunte Mortimer und sah Ginny fragend an. Er machte bereits Anstalten, seinen Mantel auszuziehen, womöglich, um ihn Madam Pince zu geben.
Ginny geriet in Panik. "Nein, behalt den bloß an", zischte sie.
"Empfangsdame?", wiederholte Ron dümmlich.
Ginny seufzte leise. Sie hatte gehofft, Mortimers Frage sei ungehört geblieben.
Madam Pince hatte empört ihre Hände in die Hüften gestützt. "Also wirklich. Raus hier, alle Mann, aber sofort."
"Empfangsdame?", wiederholte Ron, als sie sich auf den Weg hinaus machten.
"Du bist kein Hogwartsschüler, kann das sein?", fragte Harry. Es klang mehr wie eine Feststellung, als nach einer Frage.
"Doch, doch, natürlich ist er einer. Aber ein Ravenclaw. Ihr wisst doch, wie sie sind", lachte Ginny nervös.
Hermione, Ron und Harry sahen sie verwirrt an.
"Wohl eher ihr geheimer Lover", grinste Hermione.
"Also wirklich", schnaubte Ginny.
"Was trägst du da überhaupt unter deinem Mantel?", wollte Ron wissen und wies auf das Schwert.
"Mein Schwert, was denn sonst, Bauerntölpel", lautete die hochmütige Antwort des Jungen.
"Was?", fragte Harry perplex.
"Bauerntölpel?", wiederholte Ron halb verärgert, halb amüsiert.
"Mortimers Familie legt großen Wert auf die alten, mittelalterlichen Sitten", erklärte Ginny hastig.
‚Oh Mann, warum mache ich das nur. Soll doch jeder wissen, dass er einen Zeitsprung gemacht hat...'
Aber Ginny verriet ihn nicht. Dazu mischte sich ihr Gewissen zu sehr ein.
"Ah ja?", sagten Hermione und Harry zweifelnd und wie aus einem Mund.
"Also, wir gehen schon mal vor", sagte Ginny. Sie packte Mortimer entschlossen am linken Arm. Sie lächelte Hermione, Harry und Ron über die Schulter an. "Wir sehen uns beim Abendessen."
Mortimer ließ sich resigniert mitziehen und Ginny brachte ihn um die Ecke. Sie wusste, dass Hermione, Harry und Ron einen anderen Weg gehen würden.
So blieben sie mitten im Gang stehen und warteten.
"Ich habe gar nicht daran gedacht, uns trocken zu zaubern", sagte Ginny. Sie holte es nach und als sie anschließend um die Ecke lugte und keine Spur mehr von ihren drei Freunden sah, winkte sie Mortimer herbei. "Okay, wir können jetzt in die Bibliothek." Sie drehte sich zu ihm um und musterte ihn aufmerksam. "Du kannst nicht jedem erzählen, dass du ein Schwert mit dir rumträgst, Mortimer", versuchte sie ihm einzutrichtern und kam sich vor wie ihre Mutter, wenn sie ihr etwas erklären wollte, als sie noch ein kleines Kind gewesen war.
Mortimer runzelte die Stirn. "Aber..."
"Es ist unüblich", unterbrach sie ihn. "Niemand trägt heutzutage ein Schwert."
Mortimer hob perplex die Augenbrauen in die Höhe. "Was? Warum nicht?"
"Komm erst einmal mit in die Bibliothek", meinte Ginny.
Sie gingen wieder zurück und unter höchst misstrauischen Blicken von Madam Pince führte sie ihn hastig in die hinterste Ecke der Bücherei. Sie setzten sich an einen Tisch, der direkt unter einem Fenster stand.
Draußen regnete es immer noch etwas, aber weit hinten im Norden konnte Ginny schon das Blau des Himmels erkennen.
Sie saß Mortimer gegenüber und sah ihn neugierig an. "Welchen Zauber hast du benutzt?"
Mortimer zuckte mit den Achseln. Mit zusammengekniffenen Augen sah er Ginny missmutig an, aber er schien nachzugeben. "Ich habe nicht wirklich damit gerechnet, dass es funktioniert. Ich habe ‚Tore der Zeit, öffnet euch. Um mich in ins Unbekannte zu wagen, trete ich ins Tor hinein, wie ich es verlasse. Ins Jahr 1393 möchte ich gelangen, als ein Reisender, im Herzen allein' gesagt, wobei ich ein gewisses Ritual durchgeführt habe. Ich hatte einen Giftzahn einer grünen Schlange, dass mit einem Einhornhaar umwickelt war, vor mir liegen und habe dabei dreimal mit dem Zauberstab draufgetippt. Plötzlich entstand ein Wirbel und hat mich erfasst. Ich war nicht bewusstlos, aber ich war auch nicht ganz bei Bewusstsein. Dann bin ich hier draußen wieder zu mir gekommen."
"Hm." Ginny beschrieb, was sich während dem Gewitter zugespielt hatte.
"Interessant", meinte Mortimer nachdenklich.
"Ich habe noch nie von diesem Zauber gehört. Ich habe noch nie von einem Zeitzauber gelesen."
"Es war Zufall, dass ich ihn entdeckte", gab er zu. "In unserer Zeit ist es verboten, einen Zeitzauber anzuwenden."
"Bei uns auch", nickte Ginny.
"Erzähl' mir endlich von eurer Zeit. Damit ich verstehen kann, wie ein Mädchen wie du es wagt, so mit einem wie mir zu reden", verlangte Mortimer.
Ginny schaute ihn kopfschüttelnd an. "In unserer Zeit haben die Adligen keine Macht mehr. Es gibt sie zwar noch, so wie es in England noch eine Königin gibt, aber heutzutage hat nur derjenige Macht, der über Geld und somit Einfluss verfügt."
"Na und, das ist bei uns auch so."
"Aber bei euch ist das durch Erbfolge geregelt, dass die Nachkommen den Reichtum erben. Be uns sind alle in dieser Hinsicht gleichgestellt. Jeder kann reich werden und Einfluss haben, verstehst du? Einfach jeder. Ob seine Vorfahren einfache Bauern waren oder hohe Lords. Nur wer Leistung zu Tage bringt, kann Karriere machen. Dadurch entsteht starkes Konkurrenzdenken, aber dafür sind die Menschen gleichgestellt."
Mortimer schien aus allen Wolken zu fallen.
"Außerdem gibt es keine Monarchie mehr. Die Königin Englands ist eine Muggle und selbst bei ihnen hat sie nichts zu sagen. Sowohl bei ihnen, als auch bei uns wird es durch Ministerien geregelt. Bei ihnen gibt es das Parlament, bei uns das Zaubereiminsterium. Und jeder kann dort tätig sein, wenn er will. Gesetze werden erlassen, an die sich jeder halten muss. Heutzutage wird durch Mehrheit entschieden. Und nicht durch den König und durch seine Lords."
Mortimer starrte sie nun endgültig schockiert an. "Was? Das ist ja krank!"
"England führt auch keine Kriege mehr", fuhr Ginny ungerührt fort. "Frankreich ist zum Beispiel ein Freund. Wie alle anderen demokratischen Länder. Es gibt sogar eine Vereinigung, in der die Länder auf internationaler Ebene diskutieren."
"Und der Pöbel regiert?"
Ginny musste grinsen. "Wenn du es so bezeichnen willst... ja."
"Heilige Jungfrau Maria", stieß Mortimer aus und bekreuzigte sich. "Wie konnte es dazu kommen?"
"Nun", sagte Ginny und sah ihn gespielt hochmütig an. "Die Menschen sind intelligenter geworden. Sie lassen sich nicht mehr alles gefallen und wollten Gleichberechtigung."
Mortimer nickte. "Ja, bei uns gab es auch vor kurzem Bauernaufstände. Die wollten auf einmal mehr Mitspracherecht. Viel Blut ist dabei vergossen worden, aber die Aufrührer wurden zum Glück gehängt."
"Tja. Ihr habt die Bauern Jahrtausende ausgebeutet. Kein Wunder, dass sie sich irgendwann erhoben haben. Aber sei unbesorgt, auch heutzutage wird ausgebeutet. Nur, dass es nichts mehr damit zu tun, als was man geboren wird. Nur wer Geld hat, kommt weiter. Der Rest wird unter Kontrolle gehalten. Ginny klang etwas bitter. "Und... die Muggle werden nach wie vor von einigen verachtet." Sie wickelte sich eine ihrer roten Locken um ihren Zeigefinger. "Es gibt bei uns dunkle Zauberer. Einer von ihnen ist mächtig und versucht, die Macht in der Zaubererwelt an sich zu reißen. Um die Welt in Tyrannei und Dunkelheit zu stoßen, um Muggle und Mugglefreunde zu töten und zu unterdrücken."
"Und?"
"Na ja... derzeit wird versucht, die Verteidigung standfest zu halten. Der Zauberer hält sich versteckt, aber man sagt, er warte nur auf einen geeigneten Zeitpunkt. Aber um auf mein ach-so-unhöfliches Wesen zurückzukommen... da wir in unserer Welt gleichgestellt sind, gibt es keinen Grund, sich nicht zu duzen. Ich würde niemals auf die Idee kommen, jemanden in meinem Alter zu siezen. Aber die Erwachsenen... die sieze ich natürlich."
"Und das wurde einfach so abgeschafft, ja." Mortimer machte ein finsteres Gesicht.
"Ich denke mal, dass kam mit der Zeit. Man ist modern geworden. Aber nicht unbedingt intelligenter", seufzte Ginny.
"Und die Welten der Muggle und Zauberer und Hexen haben sich offenbar endgültig getrennt?"
Ginny nickte. "Endgültig."
"Und diese Schule hier? Hogwarts... ich kenne sie vom Hörensagen. Offenbar ist sie ein voller Erfolg geworden, hm. Nicht zu fassen." Mortimer grinste ironisch.
"Jeder Engländer, der zaubern kann, geht heutzutage nach Hogwarts."
Es war Mortimer deutlich im Gesicht zu lesen, dass er es nicht verstehen konnte, wie man ungeachtet des Standes auf dieselbe Schule gehen konnte.
Ginny ließ ihm kurz Zeit, sich an den Gedanken zu gewöhnen, an den er sich wohl niemals gewöhnen würde. Sie selbst brannte vor Fragen, aber sie hatte sich in Geduld geübt. Schließlich war Mortimer der Fremde hier und es würde ihm vielleicht besser gehen, wenn er wenigstens einen groben Einblick auf die derzeitigen Zustände hatte. Außerdem wusste sie selbst ja aus dem Geschichtsunterricht, wie es im Mittelalter zuging. Aber natürlich war es etwas anderes, es von einer Person zu erfahren, die tatsächlich in dieser Zeit lebt - und vielleicht auch keine Schlaftablette wie Professor Binns war.
"Und bei euch? Gibt es viele Zauberer, die sich in schwarzer Magie üben?"
Mortimer schüttelte den Kopf. "Eigentlich nicht. Zumindest gibt es niemandem, der großartig versucht, mit schwarzer Magie an Macht zu kommen. Schließlich hat man dem König die Treue geschworen."
Ginny lächelte. "In unserer Zeit würde man bedenkenlos diese Treue brechen, weißt du."
Sie sah, wie es in seinen kalten Augen aufblitzte. "Ihr seid ja auch ein verräterisches Bauernpack."
Ginny stieß einen langen Atem aus. "Natürlich", sagte sie sarkastisch. "Und mit dem Teufel im Bunde."
Mortimer nickte ernst. "Ich befürchte es."
"Und was hast du nun vor?"
"Ich muss einen Zauber finden, der mich zurückbringt. Das Ritual ist dasselbe, nur der Spruch ist etwas anders, glaub ich."
"Ich könnte dir helfen", bot Ginny sich an.
Er sah sie überrascht an. Dann nickte er knapp. "Natürlich tust du das."
Ginny sagte nichts. Sie redete sich ein, dass er es so gewohnt war, im befehlenden Ton zu reden und Mädchen wie sie in seiner Zeit respektvoll taten, was er sagte. Woher sollte er also die Art des menschlichen Miteinanders kennen, die sie kannte.
"Du hast noch meinen Zauberstab", bemerkte er kühl.
Ginny überlegte. Mortimer schien kein dunkler Zauberer zu sein. Er schien die Wahrheit zu sagen und war somit auch kein Anhänger Voldemorts. Aber was war, wenn er die ganze Zeit nur log? Andererseits... warum sollte er es so kompliziert machen, wenn er tatsächlich ein Feind wäre. Dann hätte er wahrscheinlich schon längst sein Schwert gezogen und ihr den Kopf abgehackt, dachte sie und schüttelte sich leicht bei dieser Vorstellung. Wenn er seinen Zauberstab wirklich haben wollte, hätte er sich ihn längst geholt. Sie hatte ihren Zauberstab ja nicht mehr griffbereit in der Hand und wenn er sie mit seiner scharfen Klinge bedrohen würde, war sie diejenige, die nachgeben müsste. Er schien ihr also ein wenig zu vertrauen. Was wohl daran lag, dass er Hilfe in dieser fremden Welt brauchte.
Außerdem hatte sie selbst gesehen, wie er vom Himmel gefallen war. Sie hatte gesehen, wie sich das kosmisch Farbige aufgestoßen hatte, wie ein Tor, fiel ihr auf, und er hindurchgestoßen wurde. Wenn Voldemort zu so etwas fähig wäre, hätte er wohl gleich eine ganze Armee geschickt, wenn er denn eine zur Verfügung hätte.
Sie wusste nicht, warum sie dem Jungen ein wenig zu vertrauen schien. Es war wohl seine Art. Sie war... entwaffnend.
Zögernd holte sie seinen Zauberstab hervor. Sie umschloss ihren eigenen mit der anderen Hand, jederzeit bereit, ihn zu rücken und einen Abwehrzauber auszusprechen.
"Hier", sagte sie und hielt Mortimer seinen Zauberstab entgegen.
"Na endlich", knurrte er, nahm seinen Zauberstab und steckte ihn ein.
Ginny atmete auf. Sie ließ ihren Zauberstab los, ließ Mortimer aber nicht aus den Augen.
"Wenn ich dir helfen soll, dann musst du mir schon einiges näher erklären", meinte sie. Sie wusste, dass sie ihm nicht helfen musste. Aber in dem Moment, als sie ihn vom Himmel hatte fallen sehen, wurde sie doch schon in diese Situation mit hineingezogen. Sie konnte es also nicht einfach ignorieren, als ob nichts gewesen wäre. Aber sie konnte helfen, den Jungen, den sie gar nicht kannte, wieder zurück in seine Zeit zu bringen.
Mortimer nickte. "Wie im Spruch schon erwähnt, gibt es ein Zeittor. Dieses kann man durch den Zeitzauber öffnen und man gelangt in das gewünschte Jahr."
"Normalerweise", meinte Ginny.
"Ich weiß nicht, was schief gegangen ist. Ich wusste ja noch nicht einmal, dass der Zauber wirklich funktioniert. Weil, einen Zeitsprung habe ich ja gemacht. Nur eben in das falsche Jahr."
"Hmm."
"Es ist verboten, das Zeittor zu öffnen. Man könnte etwas an der Vergangenheit oder der Zukunft ändern, was dramatische Folgen auf die Gegenwart und der Zeit an sich hätte. So hat es zumindest immer Bruder Anthony gepredigt."
"Und das ist dein Lehrer?"
Mortimer nickte. "Aber wenn es funktioniert hat, kann es ja so schlimm nicht sein, nicht wahr?" Er grinste schelmisch und Grübchen entstanden links und rechts von seinem geschwungenen Mund.
Ginny sah ihn scharf an. "Auch bei uns sind Zeitreisen verboten. Es wird gute Gründe dafür geben."
Mortimer winkte gelassen ab. "Ja, um die Zeit zu schützen. Aber schau, wenn es bei mir so einfach funktioniert hat, kann es nun wirklich nicht gefährlich sein. Sonst hätte man besser darauf geachtet, dass man an solche Zeitzauber erst gar nicht gelangen kann."
Ginny dachte nach. Es klang logisch, was Mortimer sagte.
"Aber da ich ja erst einmal in mein Jahr zurück will, brauchen wir uns über den Schutz der Zeit sowieso keine Sorgen zu machen", fuhr er fort. "Ich habe den Zeitzauber in einem uraltem, pechschwarzen gebundenen Buch in einem geheimen Raum gefunden.
"Wo denn genau?"
"In der Burg meines Vaters."
"Ist dein Vater ein Lord?"
Mortimer nickte, aber Ginny sah, wie dunkle Wolken in seinen hellgrauen Augen vorüberhuschten. "Ja, er ist Lord. Uns gehört Worcester." Er klang gepresst.
Ginny wartete, aber als er dem nichts mehr hinzufügte, nickte sie knapp. Sie fragte nicht weiter. Wenn Mortimer mehr vorgehabt hätte zu erzählen, hätte er es sicher getan.
"Wir können ja mal die Bibliothek durchforsten", schlug sie vor. "Den Verbotenen Bereich. Da müssen wir aber die Nacht abwarten."
Vielleicht würden sie ja etwas finden. Wenn Mortimer so einfach an einen Zeitzauber herangekommen war, obgleich es die Zeit doch immer zu schützen galt, würden sie vielleicht auch etwas finden, dachte Ginny.
Weder ihr noch Mortimer wurde der mögliche Fehler in ihren Gedanken bewusst. Dass man die Zeit nicht zu schützen brauchte, weil sie mächtig genug war, es selbst zu tun...
