Eine größtenteils aus Daryls Perspektive geschriebene Fanfiction, die inspiriert wurde von dem brillianten Foo Fighters-Album „Echoes, Silence, Patience and Grace".

Die von mir erdachten Charaktere, insbesondere Avery, sind als Mittel zum Zweck zu sehen. Ich weiß, mit Mary-Sues stellt man den geneigten Leser auf eine harte Probe, doch in diesem Falle bitte ich um Vertrauen.

Unter dem Motto „Stay calm and hide behind Daryl Dixon" wünsche ich viel Spaß bei meiner Version des Beginns von Staffel 3, die erst im Herbst ausgestrahlt wird. Also für alle, die nicht so lange warten können:

Ich habe euch gewarnt!

I

Die Ruine bot nur unzureichend Schutz vor dem kalten Wind, der aufzog, als die Nacht endgültig hereinbrach. Daryl hockte auf dem bröckelnden Gestein und bemühte sich, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Es war schwer auszumachen, ob sich gegen die düsteren Baumgruppen ein Beißer abzeichnete, durch das Fehlen des Mondes fast unmöglich. Doch er benutzte nicht nur seine Augen. Um die Beute möglichst schnell aufspüren zu können, hatte er früh gelernt, sich auf seine anderen Sinne zu verlassen, allem voran sein Gehör.

Neben dem Knistern des Feuers, das für Daryl beinah heimelnd anmutete, lauschte er dem Rascheln der Blätter, wenn der Wind die Baumkronen durchfuhr, dem Knacken der kleinen Zweiglein, während Rick pausenlos unter ihm auf und ab ging, so als fände er keine Ruhe, während der Großteil der Gruppe es zumindest in einen unruhigen Dämmerzustand geschafft hatte.

„Soll ich dich ablösen?"

Daryl war nicht überrascht, als Rick an dem Punkt der Mauer halt machte, auf dem er Wache hielt.

„Du musst doch hundemüde sein. Und da oben bist du dem Wind quasi schutzlos ausgeliefert."

„Es zieht schon ärger hier oben als bei euch da unten", erwiderte Daryl, stützte sich auf seine Armbrust und schaute zu Rick hinab. Dunkle Ringe zeichneten sich unter seinen Augen ab, im vagen Schein des Feuers war es, als lägen seine Augen in tiefen Höhlen.

„Na dann, lass uns tauschen. Ich kann sowieso nicht schlafen."

„Dacht ich mir schon. In dem Licht siehst du aus wie ein Beißer."

Rick verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Daryl überlegte, ob er vielleicht versuchte zu lächeln.

„Wie wär´s, wenn du T-Dog ablösen gehst? Der sieht aus, als könnte er auch ´ne Mütze Schlaf vertragen."

Daryl nickte zu dem zusammengesunkenen Mann, der auf der anderen Seite der Ruine saß und Wache halten sollte, aber vermutlich dabei eingenickt war.

„Schläft er etwa?"

Rick klang erschöpft.

„Keine Sorge, ist mir schon vor ´ner ganzen Weile aufgefallen. Ich hab die andere Seite von meinen Plätzchen aus auch im Blick, darum würde ich es nur ungern aufgeben."

Rick nickte ihm zu, offenbar dankbar, dass zumindest einer mit ihm die Stellung hielt. Dann betrat er den Kreis am Feuer, um den zusammengerollt, in Schlafsäcken oder unter mehreren Decken, die einzelnen Mitglieder der Gruppe schliefen. Die Nächte wurden kälter, nicht mehr lange und die Bäume würden ihre Blätter verlieren, darum lagen sie dicht beieinander. Hershel hielt Beth im Arm. Das blonde Mädchen schmiegte sich fest an ihren Vater. Lori strich Carl unermüdlich über den Kopf. Soweit Daryl sehen konnte, war sie die einzige, die von den Leuten am Lagerfeuer noch wach war.

Als Rick an ihr vorbeiging, hob sie kurz den Kopf, um zu sehen, wer sich so dicht neben ihr bewegte. Daryl konnte ihr ihre Paranoia nicht verdenken – alle waren schreckhaft, am Rand einer Panik. Jeden von ihnen kostete es die ganze Selbstbeherrschung, nicht der Müdigkeit und der Angst nachzugeben und einfach nur zu schreien. Daryl spürte die schwelende Angst selbst in der Brust, die Bedrohung im Nacken, die ihm die feinen Härchen sträubte, wie lange nicht. Die Zeit auf der Farm hatte sie alle ihre Deckung aufgeben lassen, auch er hatte sich in Sicherheit gewiegt. Und nun traf sie die Realität wie ein Faustschlag in die Magengrube.

Rick öffnete den Mund, er sagte leise etwas zu seiner Frau, die jedoch den Blick abwandte und den Kopf wieder an den Oberarm senkte. Offenbar war sie nicht bereit zu verzeihen, was Rick ihnen vor ein paar Stunden eröffnet hatte. Oder vielleicht hatten sie auch Streit wegen einem anderen Thema.

Daryl beunruhigte es so oder so, denn es gab nicht mehr viel, was die Gruppe zusammenhielt. Lori und Rick waren ein Teil des Klebstoffs, wenn ihre Beziehung brach, gab es auch bei der Gruppe nichts mehr zu kitten. Dann waren sie wirklich am Arsch. Nichts für ungut, Dale.

Daryl beobachtete, wie Rick seinen Weg fortsetzte, die Schultern schlaff und der Gang irgendwie schlurfend. Er weckte T-Dog nicht auf, sondern setzte sich lediglich in dessen Nähe. Daryl dachte, dass das die richtige Entscheidung gewesen war, denn der schwarze Mann hätte vor lauter Schuldgefühl wegen seines Wegnickens ohnehin nicht mehr einschlafen können.

Er wandte den Blick wieder der Baumgruppe zu und begann, von hundert rückwärts zu zählen. Rick hatte Recht gehabt, als er gesagt hatte, er müsse hundemüde sein. Ihm waren die Lider so schwer, dass er meinte, ihm hingen Tonnenschwere Gewichte daran. Doch er hielt die Augen offen, weil es die einzige Möglichkeit war zu überleben.

Der nächste Morgen brach lautlos an, es gab keine Vögel mehr, die irgendwelchen Lärm veranstalten konnten. Die hatte es auf der Farm nur noch vereinzelt gegeben, nun waren sie entweder gen Süden gezogen oder die Beißer hatten ihre Nester geplündert. Wer konnte das schon so genau sagen?

Daryl kauerte auf seinem Aufsichtspunkt und wünschte sich, ein Vogel zu sein. Wollte man die Beißer überleben, hatte man wohl die besten Chancen, wenn man einfach aufsteigen und ihnen davonfliegen konnte, dem Horizont entgegen.

„He, Daryl."

Es war Carol, die ihn aus dem leichten Dämmer schrecken ließ. Er wandte den Blick zu ihr, blieb sonst aber regungslos. Seine Glieder waren steif vom langen Sitzen.

„Was gibt´s?"
„Die Sonne geht auf … siehst du?"

Natürlich sah er es. Der dünne, orange-rote Streifen am Horizont, der sich bald zu einem immer breiter werdenden Balken ausdehnen und das violett des Himmels vertreiben würde, dann der glühende Feuerball, der langsam Richtung Zenit wanderte, bis zum Mittag, Nachmittag, Abend.

Ein endloser Kreislauf. Zumindest für diejenigen, die immer noch am Leben waren.

„Du musst halb erfroren sein. Ich bringe dir etwas von dem Tee, den Lori gekocht hat." Daryl sah ihr nach, als sie davonging, hinüber zum nach wie vor prasselnden Feuer, an dem sich nun nach und nach die Gruppenmitglieder regten. Der asiatische Junge und seine neue Freundin waren schon auf den Beinen und dabei, ihre Schlafsäcke zusammenzupacken.

Daryl beschloss, dass es an der Zeit war, seinen Posten aufzugeben. Die ganze Nacht über hatte sich nichts geregt. Er konnte eine heiße Tasse Tee wirklich gut gebrauchen, noch lieber mit einem Schuss Brandy, so wie Merle sie ihm immer in die Hand gedrückt hatte, wenn sie von der Jagd nach Hause gekommen waren.

Das Aufstehen nahm sich schwerer aus, als er erwartet hatte. Er begann, sich zu strecken und seine Gliedmaßen langsam aufzuwärmen, indem er sie der Reihe nach bewegte. Die Arme. Den Rücken. Er ließ die Gelenke leise knacken. Richtete sich auf. Seine Beine waren starr, aber nicht eingeschlafen, er bewegte sie langsam hin und her, erst das linke Bein, dann das rechte. Schließlich streckte er sich noch einmal zur vollen Körpergröße aus, wie ein Kater, der aus tiefem Schlaf erwacht, hob die Arme in die Höhe und gähnte herzhaft.

„Man hält sich die Hand vor den Mund beim Gähnen."

Daryl schielte zu Carl hinab. Der Kleine stand an der Mauer, einen dampfenden Becher in der Hand.

„Sagt wer?"

„Meine Mom." Die ultimative Antwort für so einen Knirps.

Daryl sprang von seinem Aussichtspunkt und landete behände neben Carl.

„Ist das für mich?", fragte er mit Blick auf die Tasse.

Carl nickte und gab ihm den Becher. Er fühlte sich wunderbar heiß an zwischen seinen klammen Finger. Als er einen Schluck nahm, brannte die heiße Flüssigkeit sich schmerzhaft ihren Weg hinab in seinen Magen, doch er war zu durstig um zu warten, also trank er zwei weitere große Schlucke, bevor er die Tasse absetzen musste, um zu husten.

„Alles okay? Vielleicht hättest du erst pusten sollen."

„Klugscheißer kann niemand gebrauchen."

Daryl ließ den Jungen stehen und betrat die Ruine. Sofort spürte er die Wärme des Feuers in sanften Wellen auf der Haut, die vor Dreck und Schweiß klebrig war.

Carl lief an ihm vorbei zu seinem Vater, der mit T-Dog in diesem Moment auch das Lager betrat.

„Wir brechen auf."

Er strich dem Jungen beiläufig über den Schopf, sah ihn dabei aber nicht an. Seine Miene war entschlossen, er hatte die Befehlsgewalt.

„Wohin?", fragte Hershel, der sich nun aufrappelte. Maggie half ihm dabei.

„Geht schon", fuhr er sie an, doch anstatt zurückzuweichen, warf sie ihm nur einen strengen Blick zu.

„Wir machen uns auf die Suche nach Benzin für den Wagen."

„Und wie wollen wir das anstellen? Willst du, dass wir alle zu Fuß die Straße lang laufen, ohne den geringsten Schutz?" Das kam von Lori. Sie stand etwas abseits, eine gefaltete Decke an sich gedrückt.

„Uns bleibt wohl keine andere Wahl. Wir werden uns nicht trennen. Im Wagen ist nicht genug Platz für alle."

„Auf meinem Bike hat noch einer Platz. Im Wagen mindestens fünf … sechs, wenn jemand den Kleinen auf den Schoß nimmt", sagte Daryl und zählte im Kopf nach.

„Wir sind zehn, das geht sich niemals aus", sagte Maggie.

„Stimmt", sagte Daryl, der eben zu demselben Schluss gekommen war. „Aber es gibt da noch ´ne andere Möglichkeit." Er warf Rick einen Blick zu um zu sehen, ob er ihm zuhörte. Rick sah ihn direkt an.

„Ich könnte vorfahren und nach ´ner Tanke suchen. Mit meiner Maschine bin ich schnell, der Tank reicht noch für ein paar Meilen und zur Not hab ich die Armbrust."

„Ich weiß dein Angebot zu schätzen", erwiderte Rick. „Aber ich bleibe dabei: Wir bleiben zusammen."

Daryl sah aus den Augenwinkeln, wie die anderen unbehagliche Blicke wechselten. Keiner sagte etwas.

Rick wandte sich an seine Frau.

„So schutzlos sind wir außerdem gar nicht. Wir gehen in Zweier-Formation, du, Carol und Carl in der Mitte und T-Dog, Daryl und ich mit den Waffen außen."

„Ich kann auch mit außen gehen!", kam es von Carl wie aus der Pistole geschossen.

„Kommt gar nicht in Frage", sagte Lori sofort. Ihre Stimme klang sehr streng.

„Aber ich kann schießen!", beharrte der Junge. Sie warf Rick einen bitteren Blick zu, der legte den Arm um Carl und zog ihn sanft an sich.

„Nicht jetzt, Partner, okay? Wir machen es so, wie ich gesagt habe."

Carl senkte den Kopf in scheinbarer Resignation, doch Daryl sah den aufkeimenden Trotz in seinem Gesicht, zusammen mit der Enttäuschung über die Tatsache, dass ihn niemand ernst nahm.

Sie packten ihre Sachen zusammen und löschten das Feuer.

„Wenn wir wieder einer Horde begegnen, können wir nicht mal wegfahren", sagte T-Dog, als sie den Hang hinauf stapften, der sie zurück zur Straße führte. „Toller Plan, Anführer."

„Was murmelst du da vor dich hin, Fettklops?"

Daryl ging direkt hinter dem Schwarzen und hatte ihn genau gehört. T-Dog drehte sich zu ihm um.

„Wie hast du mich gerade genannt?"

„Ich hab dir eine Frage gestellt, Mann. Hat dir deine Mami nicht beigebracht, dass es unhöflich ist, eine Frage mit ´ner Gegenfrage zu beantworten?"

T-Dog runzelte unwirsch die Stirn.

„Was willst du eigentlich von mir, Daryl? Lass mich doch einfach in Ruhe", sagte er und vollführte dabei eine Geste, als wollte er eine lästige Fliege vor seinem Gesicht verscheuchen. Er drehte sich wieder um und setzte seinen Weg fort, ohne Daryl weiter zu beachten.

„He", rief Daryl, die alte dumpfe Wut brodelte in ihm hoch, wie er es hasste, wenn man behandelte wie Dreck im Straßengraben, „ich hab dich was gefragt, Nigger!"

Es war, als hätte er mit diesem einen Wort die Luft aus der Atmosphäre geschlagen wie nur ein Faustschlag in die Lunge es vermochte. Die Zeit stand für eine Millisekunde still. Alle blieben stehen, Köpfe ruckten zu ihm. Die hellen Monde ihrer Gesichter leuchteten ihn an.

Er schämte sich bereits, doch um sich davon nichts anmerken zu lassen, baute er sich zu seiner vollen Größe auf, reckte T-Dog, der durch den Abhang höher stand, provozierend die Brust entgegen, während er die Arme in einer Drohgebärde ausbreitete.

„Wie bitte?"
„Du hast mich schon gehört!" Soweit zum Trotz auf Carls Gesicht. Daryl konnte den Jungen plötzlich so gut verstehen, gleichzeitig konnte er kaum glauben, dass er zu keiner anderen Empfindung fähig war, als der eines zehnjährigen Kindes.

„Leute", kam es von einer der Frauen.

„Fängst du jetzt an wie dein Bruder?" T-Dog blickte auf Daryl hinab. Ihm stand die gleiche Verachtung ins Gesicht geschrieben, die die Menschen schon immer für Daryl übrig gehabt hatten.

„Lass Merle da raus." Es klang mehr wie das Knurren eines wilden Tieres, das kurz davor ist, sein Gegenüber anzufallen. Daryls Muskeln spannten sich.

„Wieso? Du hast damit angefangen, mich zu beschimpfen, genau wie dieser Feigling es getan hat!"
„Hey, das bringt doch nichts." Glenn. Genervt.

„Hört auf! Hört auf zu streiten." Carol. Verzweifelt.

„Du nennst meinen Bruder einen Feigling? Wer war es denn, der ihn da oben auf dem Dach angekettet hat?"

Es war wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Daryl traf keine bewusste Entscheidung, als er auf T-Dog losging, das tat er nie, wenn die Wut ihn übermannte. Er war seinem Zorn so hilflos ausgeliefert wie ein gefesselter Mann den Beißern ausgeliefert ist.

„Es reicht!"

Arme schlangen sich von hinten um seine Oberarme. Er wurde heftig nach hinten gezerrt, stieß mit dem Rücken gegen die Brust eines anderen. Ricks Stimme nah an seinem Ohr:
„Daryl, lass den Scheiß. Beherrsch dich!"

Es sagte es so leise, dass nur Daryl es hören konnte, und das war vermutlich der Grund, warum mit einem Mal der Großteil seiner Wut verrauchte. Seine Arme erschlafften.

Rick löste seine Umklammerung und trat zwischen ihn und T-Dog.

„Was soll dieser Unsinn? Haben wir nicht schon genug Ärger am Hals? Müsst ihr euch unbedingt die Köpfe einschlagen?"

„Ich weiß nicht, was sein Problem ist", erwiderte T-Dog, die Arme abwehrend vor der Brust verschränkt.

Daryl spuckte verächtlich zur Seite aus, sagte jedoch nichts. Was würde es bringen, wenn Rick erfahren würde, wie T-Dog, wie vielleicht die meisten aus der Gruppe gerade über ihn dachten? Einen Scheißdreck, genau. Darum sagte er nichts und stapfte an beiden vorbei.

Hinter ihm blieben die anderen noch ein paar Augenblicke stehen.

„Verstehst du das?", fragte Maggie Glenn.

„Ne", sagte Glenn, „aber unser Zombiejäger ist nun mal leicht zu reizen. Teil seiner Natur. Darum ist er wohl so´n Naturtalent."

„Los, weiter. Je länger wir hier herrumstehen, desto gefährlicher wird es", sagte Rick laut. Sie setzten sich wieder in Bewegung.

Auf der Straße angekommen, begaben sie sich stumm in die Formation, die Rick vorgesehen hatte – Carol, Lori und Carl bildeten den Kern, dann kamen Hershel, Beth und Maggie. Glenn weigerte sich, Maggies Hand zu nehmen.

„Hör zu, Maggie. Ich geh mit den anderen um euch rum, okay?"

„Glenn …"

„Da ist es auch nicht wesentlich gefährlicher, aber ich habe eine Chance, euch zu beschützen. Okay?" Er sah sie beschwörend an. Daryl hatte den Eindruck, als wolle er eine Szene vermeiden. Er ging an den beiden vorbei, die Armbrust am Anschlag, ohne den Ausgang ihres Gesprächs mitzuverfolgen. Jedoch musste der Asiate sich durchgesetzt haben, denn wenig später bildete er zusammen mit Rick und T-Dog einen der vier Pfeiler ihrer kleinen Aufstellung, ein jeder eine Schusswaffe in der Hand und die Augen aufmerksam geradeaus gerichtet.

Daryl übernahm zusammen mit Rick die Führung. Sie nickten einander zu, das stumme Einverständnis, dass Daryl keinen Ärger machen und Rick ihm diesbezüglich vertrauen würde.

Die Straße führte gute drei Meilen gerade aus, bevor sie eine erste Kurve tat. Sie hatten Wasser und alles an Proviant mitgenommen, was noch übrig war, doch als sie rasteten und ihr spätes Frühstück verzehrten, reichte es kaum aus, um alle satt zu kriegen.

Sie blieben nicht lange stehen, denn sie fühlten sich wie auf dem Präsentierteller. Daryl lief mit knurrendem Magen weiter und nahm dankbar die Wasserflasche entgegen, die Hershel ihm reichte, als er an ihm vorbei patrouillierte.

„Nichts in Sicht. Keine Tankstelle, nicht einmal ein verlassenes Auto", sagte Glenn. Er hob sein Baseballcap an und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Die Sonne stand inzwischen hoch und brannte ihnen allen im Nacken, eine Farce nach der durchfrorenen Nacht.

„Zum Teufel damit. Das war ´ne bescheuerte Idee!" T-Dog schon wieder. Daryl wandte sich zu ihm um. Der Schwarze hielt sein Gewehr mit beiden Händen fest umklammert und starrte Rick vorwurfsvoll an.

„Wohin führst du uns denn, häh? Wie lang sollen wir noch so weitermachen?"

„Bis wir eine Tankstelle finden", erwiderte Rick ruhig. Er machte sich kaum die Mühe, T-Dog überhaupt anzusehen.

„Vertraut mir."

„Dir vertrauen?" Daryl blickte mit gerunzelter Stirn zu Carol. Sie etwa auch?
„Wie sollen wir jemandem vertrauen, der seinen besten Freund skrupellos ermordet?"

Rick senkte den Kopf, blieb aber nicht stehen.
„Ich habe euch gesagt, was wirklich vorgefallen ist."
„Du kannst viel behaupten."
„Moment mal! Mein Dad lügt nicht!"

Carl, der von Lori und Carol flankiert wurde, sah sich wutentbrannt nach allen Seiten um.

„Wer das glaubt, hat keine Ahnung!"

Lori schien im Begriff etwas zu sagen, doch sie schloss den Mund wieder.

Das gibt´s doch nicht, dachte Daryl. Dann musste er eben seinen Senf dazu geben.

„Wann hat Rick uns das letzte Mal belogen?", fragte er herausfordernd in die Runde. „Ich meine nicht die Sache mit dem Infiziert-sein", fügte er schnell hinzu, als er in die Gesichter sah. „Klar, dass hat er uns verschwiegen. Ich finde auch, dass das ´n ziemlich großer Scheiß-Fehler war, aber jetzt ist´s nun mal, wie´s ist. Was hätte uns die Wahrheit denn gebracht? Also jetzt, wo ich weiß, dass ich mich in so´n scheiß Beißer verwandle, sobald ich sterbe, hab ich nur noch mehr Grund zu überleben. Wie sieht´s bei euch aus?"

„Das ist doch nicht dein Ernst, Daryl." Carol sah ihn mit ihren großen, dunklen Augen an. Sie wirkte ernstlich verstört.

„Es verändert alles. Es gibt keine Hoffnung!"

Die Gruppe war stehen geblieben. Alle starrten Carol an.

„Egal, wo wir hingehen, egal, wie viele Beißer wir erledigen oder wie lange wir überleben … Es wird niemals enden! Wir alle werden zu diesen … diesen Dingern. Keiner von uns wird je ein friedliches Leben haben, noch nicht mal einen friedlichen Tod!"

Alle schienen sprachlos, betroffen davon, dass Carol ausgesprochen hatte, was alle dachten.

Daryl erwiderte wütend: „Und ich soll mich jetzt in den Straßengraben legen und sterben? Soll mir ´ne Kugel in den Kopf jagen? Dir vielleicht zuerst? Am besten, wir fangen mit den Kindern an, dann die Frauen, wie sieht´s aus?"
Seine Stimme kippte fast vor Aggression. Wie ihm diese dämlichen Diskussionen zuwider waren. Wie konnte man sich nur darüber streiten, ob man leben wollte oder nicht? Sein Leben war schon immer beschissen gewesen und er hatte nie darüber nachgedacht, einfach alles hinzuwerfen. Niemals ernsthaft zumindest. Das sprach gegen jedes Naturgesetz, das auf der Welt noch gelten mochte.

Carol sah ihn lange an.

„Vielleicht wäre das wirklich das beste", sagte sie schließlich.

Lori trat unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurück. In ihrem Gesicht stand die Bestürzung geschrieben, die auch Daryl empfand.

„Das meinst du doch nicht ernst."

Maggie packte Glenn am Handgelenk. Sie starrte Carol an, in ihrem Ausdruck lag mehr Furcht als Entsetzen.

„Wir suchen eine Tankstelle", schaltete Rick sich ein. Daryl fand, er hörte sich an wie ein kaputtes Tonband.

„Füllen unsere Vorräte auf, bringen das Benzin zu den Wagen und fahren weiter. Dann suchen wir nach einem Ort, an dem wir bleiben können. Leben können. Ich weiß, dass es so einen Ort da draußen gibt. Und wenn nicht, werden wir ihn uns schaffen. Denn das ist, was wir Menschen auf der Erde seit Anbeginn der Zeit tun: Wir schaffen uns Lebensraum."

Er wandte sich wieder um.

„Aber eins nach dem anderen. Also los, weiter."

T-Dog machte den Mund auf, aber Daryl warf ihm einen warnenden Blick zu.

„Rick hat Recht", sagte Hershel. „Wir gehen weiter, uns bleibt sowieso keine andere Wahl. Keine Vernünftige, meine ich."
Niemand sah Carol direkt ins Gesicht, als die Gruppe weiter zog. Daryl schulterte seine Armbrust und stapfte voran. Ihm lief die Suppe den Rücken hinab, sein Hemd war durchtränkt, obwohl er die Ärmel abgerissen hatte. Seine Füße pulsierten in den dichten Schuhen.

Er sehnte sich gerade ein Plätzchen im Schatten herbei, mit einer kühlen Dose Bier in der Hand, als ein gellender Schrei die Stille durchriss.

„Was war das?", rief Glenn vom hinteren Teil des Zuges.

Rick und Daryl sahen sich an.

„Das kam von da vorne", sagte Rick.

„Sehen wir nach." Daryl sprintete los.

Rick sah sich nach den anderen um, sein Blick blieb auf seiner Familie haften.

„Bleibt hier. Sucht Deckung im Gestrüpp, aber bleibt zusammen. T-Dog, Glenn, Hershel … Ihr übernehmt das. Hershel hat das Kommando."

Damit folgte er Daryl, halb einen Ruf von Lori erwartend, der ihn zurückhalten sollte, doch er kam nicht. Carl rief ihn und das Herz tat ihm in der Brust weh, seinen eigenen Sohn zu ignorieren, doch Daryl war schon gut zwanzig Schritte voraus. Er durfte keine Zeit verlieren, wenn er ihn einholen wollte.