Das Sonnenlicht brannte in ihren Augen, ganz als ob es das erste Mal war, dass sie ihre Lider geöffnet hatte. Sie hob ihre Hand, um das Licht von sich fernzuhalten, und sie erblickte das Schimmern auf ihrer Haut, wie ein Meer von tausenden kleinen Kristallen. Fasziniert beobachtete sie, wie der Glanz sich auf ihrer Haut ausbreitete, während die aufgehende Sonne die Schatten um sie herum immer mehr vertrieb. Doch lange war ihr der Anblick nicht vergönnt, denn in jenem Moment sank der junge Vampir in die erste ihrer unzähligen Visionen.

Damals sah sie ihn zum ersten Mal, den jungen blonden Mann, der ihr auf eine unbeschreibliche Art und Weise verbunden zu sein schien.

Und es gab nichts, an dass sich Alice genauer oder intensiver erinnern konnte, als diese kurzen Augenblicke ihres neuen Lebens. Auch wenn ein Vampir niemals vergaß und ihnen niemals etwas entglitt – so waren es diese Momente, die etwas ganz besonderes für sie waren.

Derjenige, der sie ihrem neuen Leben selbst überlassen hatte, kam niemals mehr zurück. Niemand konnte Alice erklären, woher der brennende Durst kam, welcher die ersten Bilder des fremden Mannes aus ihren Gedanken verwischte.

Die folgenden Tage und Wochen ihres neuen Lebens waren wie ein rotes Tuch, das sich über ihre Augen gelegt hatte. Doch je mehr Zeit verging, desto deutlicher wurden die Bilder in ihrem Kopf, welche ihr jenen Mann zeigten und den Weg, den sie zu gehen hatte.

Natürlich war ihr bewusst, dass es etwas davor gab. Ein menschliches Leben, an welches sie sich nicht mehr erinnern konnte. Wann immer Alice versuchte nach den schemenhaften Bildern ihrer Erinnerung zu greifen, sah sie nur die Dunkelheit. Sie spürte eine unendliche Kälte und das erdrückende Gefühl der Leere.

In dieser Welt, in welcher der Gesang des Blutes ihre Existenz bestimmte, war die Einsamkeit ein vertrauter, wie auch grausamer Begleiter. Doch Alice ließ das Gefühl nicht los, das jener blonde Vampir, von dem sie fortlaufende Visionen ereilte, diese Empfindung aus ihrem Leben vertreiben konnte.

Anders als bei den anderen Vampiren, erfüllten Alice Augen nach den langen Jahren der Entbehrung ein schillerndes Gold. Denn nicht nur der unbekannte Vampir kehrte immer wieder zurück in ihre Visionen, sondern auch ein ungewöhnlich lebender Zusammenschluss von Vampiren, die sich dazu entschlossen hatten nur Tierblut zu trinken.

Viel schwerer als diesen Weg zu akzeptieren war, ihm zu folgen. Doch jener Lebensstil wurde schon bald ihr eigener und machte Alice immer mehr zu einer Außenseiterin ihrer eigenen Art.

Aber auch dieses Gefühl barg etwas Vertrautes für die zierliche junge Frau.

Ein beigefarbenes Satinkopftuch verdeckte ihr dunkles Haar. Nur wenige Ponysträhnen verliefen von links über ihre Stirn, bis sie rechts unter dem Tuch verschwanden. Die dunkle Sonnenbrille, welche in diesem Jahrzehnt langsam in Mode kam, verdeckte ihre goldenen Augen vor den neugierigen Blicken der Menschen.

Ihre Augen waren golden, es hatte Sie einige Jahre gekostet, um sich an diesen Lebensstil zu gewöhnen, von dem sie wusste, dass es der ihre war. Es vermochte niemals das Verlangen zu stillen, doch es wurde leichter.

Für das milde Klima, das in Pennsylvania herrschte, war sie recht warm angezogen. Ihr Halstuch verbarg die helle Haut ihres Dekolletés und verschwand im Ausschnitt des weißen Mantels, welcher ihr bis zu den Knien reichte. Eine dicke Nylonstrumpfhose ließ den menschlichen Augen keine Chance ihre Haut im Licht der Frühlingssonne schimmern zu sehen. Schwarze Hackenschuhe bildeten den perfekten Abschluss und passten sich farblich an die Damenhandschuhe an, welche sie trug und mit jenen sie nun die Sonnenbrille ein Stück weiter hinab schob, um sich über den Rand hinweg umzusehen.

Das Ziel der jungen Frau war es, so unauffällig wie möglich zu wirken, umso einfacher würde es sein, sich unbeobachtet nach einem Vampir umzusehen.

Alice befand sich in einem Vorort von Philadelphia nahe der Ostküste Amerikas. Sie konnte nicht nachvollziehen, was den noch unbekannten Vampir hierher ziehen würde. Doch sie hatte ihn an diesem Ort gesehen, dessen war sie sich sicher.

Das Ganze glich einer Verfolgungsjagd, wie es die Menschen in ihren Kriminalromanen beschreiben. Seit Jahren war sie auf der Suche nach dem noch Unbekannten, den sie immer wieder anhand seiner rötlichen Augen als einen Vampir erkannte. Doch war sie immer zu langsam, um ihn aufzuspüren, denn, ganz zu ihrem Verdruss, hatten ihre Visionen weder Zeit noch Ortsangaben. Immer blieben ihr nur wenige Sekunden, die ihr genügen mussten, um zu erkennen, wo er sich zu welcher Zeit befand.

In einer Stadt in Mexiko hinterließ er einen toten Mann, der von seiner Familie betrauert wurde. In einer kleinen Dorfgesellschaft in Missouri jedoch nur Angst und Schrecken. Sie erkannte seine Fußspur im Sand der Zeit, doch der Wind hatte ihr längst die Chance genommen, dieser zu folgen.

Alice hoffte, dass sie eines Tages schneller war und ihn erwarten würde, an dem Ort, an welchen es ihn trieb.

Er war nie lange an einem Ort, als suchte er selbst nach etwas. Vielleicht wusste er es noch nicht, doch Alice war sich sicher, dass sie es war und dass ihre beiden Seelen erst dann zur Ruhe kommen würden, wenn sie voreinander stehen würden.

Die Zeit der Dämonen und Vampire war längst vergessen, doch in kleinen Gemeinden, wie dieser hier, schien jemand die Zeit angehalten zu haben. Der Fortschritt war auch in diesem Teil des Landes kaum zu übersehen. Einzelne Automobile bildeten einen seltsamen Gegensatz zu dem ländlichen Kleidungsstil der Menschen und dem Sheriff, der auf seinem Pferd durch die teilweise noch ungepflasterten Straßen ritt.

Der kleine Ort, in den es sie verschlagen hatte, und der einzige, in welchem die Kirche am Ende einer Allee von Kirsch- und Apfelbäumen in dieser Kombination stand, war sehr religiös und besaß noch genug Aberglauben, an welchem die Menschen hier festhielten. Das Letzte, was Alice brauchte, war eine Horde Mistgabel schwenkender Bauern, die sie berechtigterweise für einen Vampir oder Dämon hielten.
Alice war sich sicher, dass sie ihn hier gesehen hatte. Doch ob dieser Moment in der Vergangenheit lag oder weit in der Zukunft, wusste sie nicht. Sie hatte Jahre gesucht, und war sich bewusst, dass sie weitersuchen würde. Und wenn es ihre Ewigkeit bedeuten würde, so würde sie damit zufrieden sein. Doch in dieser Stadt war etwas anders, denn niemand hier sprach von einem Mord oder das Verschwinden eines Menschen. All ihre Hoffnung lag in dem Gedanken, dass sie zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war.

Sie sah sich um, betrachtete die Menschen um sich herum, auf der Suche nach dem einen Gesicht, welches sie immer und immer wieder vor Augen hatte. Sie hörte das Pochen ihrer Herzen, das Rauschen ihres Blutes und dennoch suchte sie nach dem einen Wesen, welches beides nicht mehr besaß.

Sein Anblick war ihr so vertraut, wie ihr eigenes Spiegelbild, denn schon längst bedeutet das Ende einer Vision nicht mehr, dass auch sein Anblick verschwand. Der Unbekannte war in ihren Gedanken und flüsterte immer und immer wieder ihren Namen. Nichts wünschte sich Alice sehnlicher, als ihn zu finden. Sie wollte durch sein blondes, krauses Haar streichen und sein Gesicht berühren.

Überall hätte sie ihn wiedererkannt, und wenn er heute hier wäre, so würde sie ihn finden. Dieses eine Mal würde der Wind seine Spuren nicht verwischen.

Es war lange her, dass sie etwas in sich spürte, was dem der menschlichen Aufregung sehr nahe kam. Vielleicht war es nur die Hoffnung, die sie in diesem Moment so sehr beflügelte oder das Wissen, dass es der eine Moment war, auf den sie so lange hatte warten müssen.

Die Menschen um sie herum waren so beschäftigt mit sich selbst und ihren Erledigungen, dass sie die junge Frau, welche sich durch die Masse drängelte, kaum wahrnahmen. Sicherlich hätten sie alle schon längst begriffen, dass Wesen wie Alice auf dieser Welt lebten, wenn sie mit offenen Augen durch die Welt gehen würden.

Doch all diese Gedanken kümmerten die zierliche Frau nicht.

Ohne jemanden anzurempeln oder zu streifen, folgte sie einem Weg, von dem sie nicht wusste, wohin er sie führte. Womöglich hätte ihr Herz in purer Aufregung geschlagen, wenn sie es noch besessen hätte. Jedoch erfasste sie in diesem Moment eine Euphorie, welche schon längst vergessen geglaubt war. Ihre Schritte wurden immer schneller, und es fiel ihr immer schwerer sich zur Unauffälligkeit zu ermahnen.

Ihr Weg führte Alice zu einem Haus mit einer bunt bemalten Fassade. Es wirkte recht modern und passte dennoch zu der Umgebung, in welcher es errichtet wurde. Zu beiden Seiten des Hauses war eine enge Gasse zu finden, in denen sich jene verbergen konnten, die nur des Nachts auf die Straßen kamen.

Der Anblick erinnerte Alice an etwas. Sofort suchten ihre Blicke die Fassade ab, bis sie über dem Türrahmen die Zeichen des Segens ‚19-C-M-B-48' fand. Ein christlicher Brauch , der ihr nun die Gewissheit gab, dass dies der richtige Ort war. Hier hatte sie ihn gesehen, jedoch in einer Vision die mehrere Monate zurück lag.

Noch während Alice darüber nachdachte, ob sie ihre Suche all die Zeit völlig falsch geplant hatte, öffnete sich vor ihr die Tür und ein Mann trat heraus. Der betrunkene Mensch sah sie von unten nach oben an und lächelte ihr aufreizend zu. Natürlich wirkte es in seinem Zustand mehr als unbeholfen. Alice wandte ihren Blick ab und versuchte ihn möglichst zu ignorieren. Der Mann säuselte etwas, das in einem Schluckauf unterging.

Aus den Räumlichkeiten hinter der Tür war ein reges Treiben zu hören. Stimmen mischten sich in den Klang der Musik, das Klappern von Gläsern auf den Tabletts und Tischen. Der Geruch von Alkohol und Männern, welche schon seit dem letzten Abend in dieser Lokalität saßen, war kaum zu ignorieren. Nur einen kurzen Blick konnte Alice in die Bar werfen, bevor die Tür sich wieder schloss.

Alice war entschlossen sich in der Bar umzusehen. Während sie die letzten Stufen der kleinen Treppe überwand, nahm sie ihre Sonnenbrille ab. Die Menschen waren ihr in jenem Moment egal.

Jedoch endete ihr Weg nach wenigen Schritten auf der obersten Stufe vor der Eingangstür. Aus dem Inneren hörte sie Schritte, welche sich auf die Tür zu bewegten und sie dazu veranlassten stehenzubleiben.

Es war nicht der Gang eines Menschen. Es klang viel weicher, und auch die alten Holzdielen ächzten nicht unter dem Gewicht jener Person, welche offensichtlich auf sie zukam. Dem Unbekannten eilte ein Geruch voraus. Es war nicht der süßlich metallene Geruch des Blutes, welche unter der Haut eines jeden Menschen pulsiert. Sie konnte es mit ziemlicher Sicherheit einem Vampir zuordnen und doch war es anders, als all die Male, in welchen sie Ihresgleichen getroffen hatte. Es wirkte beinahe anziehend auf sie.

Alice Augen weiteten sich für einen kurzen Moment, als ihr Körper erneut von Aufregung erfüllt wurde. Es war nicht vergleichbar mit dem Gefühl, dass sie hatte, wann immer sie auf der Jagd war. Es war eine gänzlich neue Empfindung.

Sie schloss ihre Augen und nutze den kurzen Augenblick, der ihr blieb, bevor der Fremde sie erreichen würde.

Als die Tür ein weiteres Mal aufging, wagte es Alice kaum die Augen zu öffnen. Ihre Augenlider zitterten, als sie es dennoch tat. Und dann stand er vor ihr, wie in so vielen ihrer Tagträume.

Die Farbe seiner Haut war eine Nuance dunkler als die ihre und dennoch so hell und gleichmäßig, wie die eines jeden anderen Vampirs. Sein Gesicht wurde von einigen Strähnen seiner blonden Haare umrahmt, welche von seinen Augen ablenkten. Der dunkle Farbton eben jener verriet, dass er hier auf der Jagd war und sich bisher nur noch nicht entschieden hatte. Es gab kein Zweifel daran, dass er es war, dessen Anblick eines der ersten Dinge in Alice neuen Leben darstellte.

„Wir sind uns ähnlicher als du denkst", hauchte sie ihm leise entgegen, ignorierte die interessierten Blicke der Menschen um sich herum. Sie ahnte, dass ihre ungewöhnliche Augenfarbe ihn veranlasst hatte zu zögern und ihr darum die Möglichkeit gab, mit ihm zu sprechen. „Wenn du erlaubst, würde ich gerne ein wenig deiner Zeit beanspruchen."

Ein Lächeln erschien auf Alice Lippen, während sie einen weiteren Schritt auf ihn zuging. „Du hast mich lange warten lassen." Sie beugte sich ein Stück weiter vor, um jedem menschlichem Wesen die Chance zu nehmen, ihren Worten zu lauschen. Doch er würde sie ganz sicher verstehen. „Ich werde dich nicht davon abhalten zuerst deinen Durst zu stillen. Doch danach möchte ich dich kennenlernen."