Die Geschichte meiner Großeltern
Das ist jetzt das zweite Mal innerhalb von vier Wochen, das ich in der Schule fehle, weil ich zu einer Beerdigung muss – dabei hätten wir heute Kunst. Mein Grandpa hätte meinen Wehmut darüber, dass ich meinen Lieblingsunterricht verpasse, wohl verstanden… Er hat das Malen und die schönen Künste selbst so geliebt. Er starb zuerst und jetzt, nur kurze Zeit später, auch noch meine Grandma. Die Ärzte sagen, es war Altersschwäche, aber wenn ihr mich fragt, dann starb sie an einem gebrochenen Herzen. Meine Großeltern waren wie Perlhühner: Sie haben ihr ganzes Leben miteinander verbracht und wenn ein Partner stirbt, stirbt der zweite kurze Zeit später an Kummer. Ich habe mir eine Woche Hausarrest eingefangen für diese Bemerkung, aber ich weiß, meiner Granny hätte dieser Vergleich gefallen. Zusammen mit den drei Wochen Hausarrest für meine Trauerrede bei Grandpas Beerdigung gibt mir das viel Zeit, die Geschichte meiner Großeltern zu erzählen. Ich finde ja, ich habe den Hausarrest nicht verdient. Meine Trauerrede war spitze und ich bin mir ganz sicher, dass mein Grandpa auf seiner Wolke saß, zu uns hinunter geschaut hat und sich köstlich darüber amüsiert hat, wie ich all seine Lieblingsanekdoten erzählt habe. Meine Granny hat mich hinterher zu sich gerufen und gesagt, dass das die Art von Trauerfeier war, die sich mein Grandpa gewünscht hätte. Er wollte so in Erinnerung behalten werden, wie er war: Lebenslustig, immer gut gelaunt und einfach der liebenswerteste Mensch, den es auf der ganzen Welt gab. Der Abgang meines Grandpas stand in krassem Gegensatz zu seinem Leben: An einem verschneiten Januarmorgen, seinem Lieblingsmonat, ist er einfach nicht wieder aufgewacht – kein großes Tamtam, ganz unspektakulär und unbunt. Meine Granny hat schrecklich unter dem Verlust gelitten und darum bin ich jetzt auch nicht allzu traurig, dass sie nicht mehr unter uns weilt, weil ich weiß, sie ist wieder glücklich vereint mit meinem Grandpa. Bei dem vielen Hin und Her in ihrem Leben hat sie das auch verdient.
Ich bin übrigens Phina…ähm…Josephina Roberta Elisabeth Kowalski. Aber alle sagen nur Phina zu mir. Was sich meine Eltern dabei gedacht haben? Nun, sie wollten meinen Großeltern ein Denkmal setzen, aber für meinen Grandpa war meine Existenz Denkmal genug. „Worum's im Leben geht, das weiß ich nicht, aber ich glaube, es muss 'was mit Liebe zu tun haben." Das hat er immer gesagt. „Und du bist ein Kind der Liebe, mein Sternchen." Ich bin das jüngste Enkelkind von Rokko und Lisa Kowalski. Ich bin 15 und nächste Woche werde ich 16, aber hier in Kanada ist es nichts Besonderes 16 zu werden, man darf immer noch nicht wählen und Alkohol trinken darf man dann auch noch nicht. Autofahren dürfte ich jetzt, aber hier in GTA braucht man kein Auto, zur Rush Hour ist man sogar zu Fuß schneller… Ja, ich lebe in GTA – Greater Toronto Area. So hieß das schon, als meine Granny und mein Grandpa hierher kamen, aber seither ist es um einiges „Greater" geworden, nicht nur geographisch, sondern auch greater, weil Granny und Grandpa es durch ihre Anwesenheit greater gemacht haben… Überhaupt hat sich viel verändert, haben die beiden immer gesagt. Deutschland – da sind die beiden geboren und aufgewachsen – gibt es nicht mehr. Es gibt jetzt nur noch die Europäische Union, das waren früher alles einzelne Länder, aber heute ist es eine große Verwaltungseinheit. Manchmal glaube ich, wenn die Politiker könnten, dann würden sie die Kontinente zusammenschieben, dann bräuchten sie zum Krieg machen nicht so weit fliegen… „Wir leben in einer aufregenden Zeit, mein Stern", hat meine Granny mir gesagt, kurz bevor sie starb. „Aber du darfst dich nicht vor der Veränderung fürchten." Fürchte dich nicht vor der Veränderung, fürchte dich vor dem Stillstand – das hat sie immer gesagt. Ich war ja dafür, dass dieser Spruch auf Grannys Grabstein steht, aber auch dafür haben alle nur mit mir geschimpft – genauso wie für meine Kritik daran, dass auf den Grabsteinen nicht Rokko und Lisa steht, sondern Robert Konrad und Elisabeth Maria. Dabei hat sie nie jemand so genannt.
Ich glaube, niemand hat mich so verstanden wie meine Granny und mein Grandpa. Sie haben mich bei allem unterstützt. Zum Beispiel, als ich lieber Eishockeyspielen wollte, statt dieser blöden Schnörkeldreherei. O-Ton meiner Mutter: „Du bist ein Mädchen und Mädchen machen Eiskunstlauf. Eishockey ist ein Jungensport." Mein Grandpa hat mich ermutigt: „Wenn es das ist, was du willst, dann lebe deinen Traum." Wenn ich mich so umsehe, dann glaube ich, niemand aus der Verwandtschaft und von den Freunden hat sie so gekannt wie ich – naja, Onkel Jürgen, der dürfte meine Granny dann wohl doch besser gekannt haben als ich, aber ich mache einen guten zweiten Platz hinter ihm, allein schon, weil ich meinen Grandpa besser kannte als er. Onkel Jürgen ist schon wieder den ganzen Weg von Berlin hierher gereist, um nun auch Abschied von meiner Granny, seiner besten Freundin, zu nehmen.
Ich habe so viel Zeit mit meinen Großeltern verbracht und jede einzelne ihrer Geschichten aufgesogen und ich finde, es ist Zeit – und davon hab ich mit meinen vier Wochen Hausarrest mehr als genug –, dass sie zu einem Bild zusammengefügt werden und als eine große Geschichte erzählt werden, eine Geschichte über große Gefühle, Irrungen und Wirrungen, Neid und Missgunst, sprich eine Geschichte wie sie nur das Leben schreibt… Die Geschichte meiner Großeltern:
