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Der Angriff
Niemand hätte an diesem warmen Junitag des Jahres 2062 gedacht, dass sich weit draußen in der Kälte des Weltalls ein Weltkrieg anzubahnen drohte, auch die Menschen in der Hauptstadt nicht, dich sich doch für gewöhnlich als besonders gut informiert einschätzten. Metropolis, die umtriebige und weltoffene Stadt, die alle wichtigen Regierungsorgane beherbergte, hatte sich im Gegenteil täglich über neue positive Agenturmeldungen zum Verhältnis der beiden Machtblöcke der Erde gefreut. Fast schien es, als wäre seit Amtsantritt des neu gewählten Präsidenten so etwas wie ein freundliches Miteinander zwischen Ost und West entstanden, und dies nach Jahrzehnten des misstrauischen gegenseitigen Beobachtens. Samuel Hirschmann hatte bei seinen Gesprächen mit seinen asiatischen Kollegen aber immer den richtigen Ton getroffen und es war ihm gelungen – kaum zwei Wochen im Amt – ins Allerheiligste des chinesischen Regierungsbezirks eingeladen zu werden, dessen Türen bisher noch jedem Politiker der westlichen Hemisphäre verschlossen geblieben waren. Vielleicht hatte es ja daran gelegen, dass Hirschmann als politischer Außenseiter galt und sich keiner der etablierten Parteien verbunden fühlte. Bisher hatte er die Bühne der Weltpolitik nur als Regierungsberater betreten, ein integerer älterer Herr, dessen Vermittlungsgeschick als legendär galt. Als man ihm schließlich vorschlug, selbst für das höchste Amt der EAAU – des westlichen Machtblocks, bestehend aus Europa, Afrika und Amerika – zu kandidieren, hielt er dies zunächst für einen Scherz und lachte nur. Es hatte eine ganze Legislaturperiode gedauert, bis seine Freunde ihn überzeugt hatten, zur Freude der Bevölkerung, die ihn mit großer Mehrheit gewählte hatte. Sogar die großen Konzerne begrüßten diese Entwicklung, konnten sie ihre Geschäfte mit den asiatischen Staaten doch endlich problemlos und legal abwickeln. Einige Geschäftsleute allerdings hätten auch weiterhin den kalten Krieg vorgezogen...
Die VOR-Station Indira hatte schon seit Baubeginn im Jahre 2057 das Interesse des Geheimdienstes auf sich gezogen, offiziell als gigantische Raumwerft und Forschungsstation geplant, sollte sie auch inoffiziell der strategischen Raumflotte der asiatischen Staaten als Stützpunkt dienen. Neben einem der modernsten Teleskopsysteme, mit dem ein Team von Astronomen ins All hinaus blickte und einem medizinischen Forschungslabor beherbergte sie zweifellos auch Anlagen, die der Weiterentwicklung von Waffensystemen dienten. Der Militärische Geheimdienst der EAAU wusste nicht genau, was dort erforscht oder weiterentwickelt wurde und genau das machte dem Verteidigungsministerium Sorgen. Jean Habersham, die Verteidigungsministerin hatte den Präsidenten schon des öfteren zu überreden versucht, bei seinem Amtskollegen in Peking um Aufklärung zu ersuchen, aber der Präsident hatte dies immer kategorisch abgelehnt. Auch die EAAU unterhielt derartige Raumstationen, daher gab es seit Jahrzehnten ein stillschweigendes Abkommen zwischen beiden Machtblöcken, zumindest auf dem offiziellen Dienstweg nicht näher nachzuforschen. Dies freilich hinderte die Geheimdienste nicht daran, sich gegenseitig zu belauern und stets das Schlimmste zu befürchten.
Die Größe und Leistungsfähigkeit von Indira überstieg allerdings alles, was bisher an derartigen Stationen erbaut worden war, zudem bestanden sich die VOR auf einer größeren Sicherheitszone als üblich – niemand durfte sich der Station näher als auf 30.000 km nähern, was etwas 10 Flugminuten entsprach. Jean Habersham hätte gern selbst eine Protestnote an ihren asiatischen Kollegen übersandt, aber Hirschmann hatte angesichts des derzeitigen Tauwetters strikt jeglichen Schritt in dieser Richtung untersagt. Habersham befürchtete seitdem, dass ihre eigenen Militärs ihr das Vertrauen entziehen würden, denn die meisten Offiziere wurden ungeduldig. Es hieß in Armeekreisen, die VOR würden unter den Augen der EAAU den Krieg vorbereiten und den friedensverliebten Politikern in Metropolis eine lange Nase drehen. Freilich blieb es bei zornigen Reden, da ein Gerücht die Runde gemacht hatte: Hirschmann, der den offenen Konflikt mit den Hardlinern der Armeeführung scheute, wolle diese in einen unfreiwilligen Vorruhestand schicken. Der alte Mann wusste genau, dass Entlassungen zu lautstarken Protesten führen würden, also wählte er einen eleganteren Weg, um diese unliebsamen Störenfriede loszuwerden. Die die VOR bauten unbehelligt an Indira weiter.
An jenem Tag im Juni war die strategische Raumflotte wie immer ihre Patrouillen im Grenzgebiet geflogen. Auf den Radarschirmen der Tauruszerstörer erschien die asiatische Station stets als provozierender, ausladender Lichtpunkt und mancher Pilot mochte sich versucht fühlen, einmal weiter heranzugehen und sich das Gebilde aus der Nähe anzusehen. Dies bot ein unerschöpfliches Gesprächsthema, abends tauschten die Piloten dann in der Kneipe ihre Stützpunktes ihre Vermutungen aus. Sie träumten davon, es den Chinesen einmal richtig zu zeigen und das „verdammte Ding" in die Luft zu jagen. Schließlich waren auch die militärischen Forschungslabors der EAAU in den letzten Jahren nicht untätig geblieben – es hieß, ein Wissenschaftler in den Labors von Ammotec habe eine Waffe entwickelt, die ein enormes Vernichtungspotential besaß, dem auch eine Station wie Indira nichts entgegenzusetzen hatte. Bisher hatte aber niemand diese Waffe erprobt, und, obwohl das keiner der Piloten offen zugeben mochte, sie waren auch froh darum. Ihre Träume von einem Angriff gegen die VOR entsprangen meist auch nur einem gewissen Hang zur Prahlerei, denn im Grunde wusste jeder von ihnen, was ein offener Krieg gegen die Asiaten letztlich bedeutete: Die Vernichtung aller menschlichen Zivilisation auf der Erde wäre die Folge gewesen.
Daniel Mertens, Commander bei der strategischen Raumflotte, machte an diesem Junitag allerdings die Erfahrung, dass nicht jeder Angehörige der Armee diese vernünftige Zurückhaltung besaß. Eben gerade war ihm der Befehl erteilt worden, einen Angriff auf Indira zu fliegen, was er zunächst für einen üblen Scherz gehalten hatte. Dem General, der ihm diese Order gegeben hatte, waren sowohl makabere Witze als auch Aktionen dieser Art zuzutrauen, also verharrte Mertens zunächst in ungläubiger Starre. Ihm war nicht nach Lachen zumute, schon gar nicht, als er begriff, dass es der General durchaus ernst gemeint hatte.
„Das können wir doch nicht tun! Die Friedensverträge..."
„Die Friedensverträge sind ein Fall für den Müllschlucker. Habe ich Ihnen nicht eben einen klaren Befehl erteilt?"
„Aber Sir, das ist ein Kriegsverbrechen!" rief Mertens empört. „Ich werde den Teufel tun, eine solchen Befehl auszuführen!"
Der Commander hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl gehabt, als Smith an Bord erschien. Als er selbst zur strategischen Raumflotte ging, war seine Motivation, sein eigenes Land zu schützen, nicht Krieg mit den VOR anzufangen. Smith aber war dafür bekannt, das Gefecht mit den gegnerischen Patrouillen geradezu zu suchen. Es hieß, er habe nur deshalb die höhere Offizierslaufbahn gewählt, weil ihm dies einen größeren Handlungsspielraum für seine Abenteuer gab, sonst wäre er lieber Pilot geworden, um selbst Raketen auf die VOR-Pagoden abfeuern zu können.
Und mit Raketen waren sie reichlich bestückt worden, auch das ein Umstand, der Mertens stutzig machte. Statt der konventionellen Abwehrraketen führte das Schiff jetzt einen neuen Kampfstoff mit sich, den Mertens bisher für ein Produkt der Fantasie bierseliger Piloten gehalten hatte. Er wusste nicht viel darüber, ahnte aber nichts Gutes. Allein die Anwesenheit des Generals, der zunächst nur einige Tests angekündigt hatte, hatte ihn stutzig gemacht. Zunächst war er aber nur dann davon ausgegangen, dass es sich um harmlose Schießübungen an Meteoriten oder aufgegebenen Raumstationen der EAAU handeln solle, weil der General einfach gerne Dinge explodieren sah.
„Commander, Sie sollten wirklich einsichtiger sein." Der General seufzte gelangweilt und winkte Carson, den Navigator heran. „Oder wollen Sie wirklich vor einem Kriegsgericht enden? Sie sind doch ein fähiger Pilot – an Ihrer Stelle würde ich meine Karriere nicht so einfach wegwerfen."
„Sir, ich bin Soldat, und kein Mörder", empörte sich Mertens. „Was Sie vorhaben ist Mord, wir wissen ja noch nicht einmal, ob Indira wirklich eine militärische Einrichtung ist!"
„Ich betrachte jede Einrichtung der VOR als potentielle Bedrohung, Commander." Der General blieb noch immer ruhig, wer ihn nicht kannte, hätte ihn für einen besonnenen, nachdenklichen Menschen gehalten. „Daher begehe ich keinen Mord, sondern unternehme die notwendigen Schritte, um unser Land zu schützen." Carson war neben Smith getreten. „Also, folgen Sie jetzt meinem Befehl oder nicht? Uns läuft die Zeit davon, und ich sehe nicht ein, weitere kostbare Minuten in einer sinnlosen Diskussion zu vergeuden."
„Schießen Sie mich doch am besten gleich über den Haufen, dann gibt es wenigstens keine Zeugen für Ihr Verbrechen!" Mertens schätzte kurz seine Chancen ab, ob es ihm gelingen konnte, den General zu überwältigen, aber es erschien sinnlos. Neben Carson, seinem Navigator, erschien eben auch der Ingenieur auf der Brücke und stellte sich auf die Seite des Generals. Drei gegen einen, das war zwecklos. Am meisten traf ihn, dass seine eigene Crew nicht zu ihm stand. Was war nur mit den Leuten los? Fast schien es ihm, als hätten hinter seinem Rücken schon seit längerer Zeit Absprachen stattgefunden. Eine andere Erklärung gab es für das Verhalten seiner Leute nicht.
„Da ich kein Verbrechen begehe, brauche ich mich auch nicht vor Ihrer Zeugenaussage zu fürchten. Aber jetzt genug davon, ab in Ihr Quartier, bevor ich es mir anders überlege!"
Mertens warf einen letzten verzweifelten Blick auf die Brücke, bevor sich die Hände der beiden Männer wie Stahlklammern um seine Arme schlossen. Sie schleppten ihn zu seiner Kabine und stießen ihn hinein. Bevor sie die Tür verriegelten, warf Carson ihm noch einmal einen entschuldigenden Blick zu.
„Tut mir Leid, Sir", verlegen hob er die Schultern, „aber die Order kam nun mal von oben."
Mertens rieb sich die schmerzenden Oberarme. „Lieutenant, das kann doch nicht ihr Ernst sein", machte er einen letzten Versuch, den Navigator umzustimmen. „Das ist ein Alleingang von Smith! Er wäre doch nie mit an Bord gekommen, wenn diese Aktion mit dem Oberkommando abgestimmt wäre! Wie hat er Sie nur zu diesem Blödsinn überreden können? Was haben Sie davon?!"
„Das ist vertraulich, Sir, tut mir Leid. Wir sind angehalten worden, nicht darüber zu reden."
Also doch eine Verschwörung! Mertens konnte sich gut vorstellen, wie das abgelaufen war: Der General war an seine Crew herangetreten und hatte ihnen etwas von einem geheimen Regierungsauftrag erzählt, einer ungemein wichtigen Mission, die nur von Spezialisten erfüllt werden konnte. Selbstverständlich war das Ganze streng vertraulich, niemand durfte Rücksprache mit dem direkten Vorgesetzten halten, um das Gelingen der Mission nicht zu gefährden. Ein Vorgehen wie in einem Roman, nur handelte es sich hier um die Realität.
Wollte Smith seine Karriere mit einem Knall beenden? Sicherlich stand er auf der Liste der Offiziere, die von Hirschmann in Frührente geschickt werden sollten, um die tickende Zeitbombe des Fanatismus in der EAAU zu entschärfen. Nach seinem rasanten Aufstieg in der strategischen Raumflotte wollte der General sich das nicht bieten lassen. Mertens zweifelte nicht daran, dass neben fehlgeleitetem Patriotismus hier auch persönliche Eitelkeit ins Spiel kam. Smith sollte aufs Abstellgleis geschoben werden und wollte das mit allen Mitteln verhindern. Warum nur hatte bisher niemand den gestörten Geisteszustand dieses Mannes bemerkt? Man hätte ihn erst gar nicht in seine jetzige Position aufsteigen lassen dürfen!
Mertens lief verzweifelt in seiner Kabine auf und ab, aber ihm wollte keine Lösung einfallen. Schließlich setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und schaltete seinen privaten Zugang zum militärischen Kommunikationsnetzwerk ein, aber wie zu erwarten bekam er keinen Zugang. Auch daran hatten die Verschwörer gedacht. Er versuchte verschiedene Kennwörter, aber das System warf ihn immer wieder hinaus. Nun blieb ihm nichts anderes übrig als abzuwarten und zu hoffen, eine andere Patrouille würde rechtzeitig auf das Treiben des Generals aufmerksam.
„Hillers, übernehmen Sie das Steuer."
Mertens war von Anfang an ein Risikofaktor im Plan gewesen, aber ihn ohne triftigen Plan aus dem Flugplan zu nehmen, hätte verdächtiger Erklärungen bedurft. Jane Hillers bestätigte den Befehl und schnallte sich im Pilotensessel an. Noch dreißig Raummeilen bis zum gesperrten Territorium! Der Navigationscomputer übernahm routinegemäß das automatische Warnsignal der Station und forderte die Pilotin auf, den Kurs zu ändern. Schon jetzt befanden sie sich gefährlich nahe an der Bannmeile der asiatischen Station, während sich die Raumüberwachung der VOR sich wahrscheinlich schon in hellem Aufruhr befand. Der General hatte sie angewiesen, möglichst schnell in den gesperrten Bereich hinein und wieder hinauszufliegen, um einen Gegenschlag herauszuzögern. Da auch in Peking der interkontinentale Frieden ausgerufen worden war, gab es sicherlich zunächst einmal eine Protestnote an den Präsidenten, bevor ernsthafte Schritte erwogen werden würden. Verlassen konnte man sich darauf allerdings nicht, auch die VOR mochten Generäle vom Schlage Smiths haben, die nicht lange auf Anweisungen aus dem Verteidigungsministerium warteten, bevor sie handelten.
„Sir, sollte jetzt nicht..." Hillers sah den General, der sich neben ihr im Sitz des Commanders angeschnallt hatte, fragend an. Etwas lief nicht ganz plangemäß. Außer Indiras riesigem Radarschatten sollte noch ein weiterer zu sehen sein, klein aber entscheidend. Aber das Signal blieb aus.
Smith hatte ihnen erklärt, ein politischer Freund aus der Rüstungsindustrie würde ihnen den nötigen Vorwand schaffen, die Grenze zu überqueren. Wie die Raumfahrtindustrie der VOR betrieben auch Schwesterfirmen in der EAAU rege Industriespionage, so war es dem geheimnisvollen Freund des Generals gelungen, ein neues Frachtermodell der Asiaten originalgetreu zu kopieren. Eigentlich sollte es erst in ein paar Monaten auf den Markt kommen, eine relativ günstige Alternative zu den teureren EAAU Frachtern. Ein ferngesteuerter Prototyp - frisch umlackiert und mit den Insignien der VOR versehen, sollte just zu diesem Zeitpunkt hier seine Bahn ziehen und ein falsches SOS funken. Dem SOS sollte ein ebenso vorgetäuschter Angriff folgen, der den nötigen Vorwand für ein Eindringen in den Raum der Station bot. Nichts dergleichen geschah, kein Schiff erschien und damit fiel auch der Vorwand weg. Das war nicht nur unerfreulich, sondern gab der Aktion auch einen ganz anderen Verlauf, nun waren sie die Aggressoren. Hillers gefiel das überhaupt nicht.
„Wir werden diese kleine Planänderung wohl in Kauf nehmen müssen, Captain", erwiderte der General ruhig. Nur eine kleine Furche zwischen seinen Augenbrauen verriet seine Anspannung und noch etwas anderes, war es Zorn? „Wenn wir jetzt zögern, können wir ebenso gut umkehren."
Es würde nicht lange dauern, bis auch die strategische Raumflotte der VOR auf diese Kursabweichung einer EAAU-Patrouille aufmerksam wurde. Bis dahin musste der Einsatz durchgeführt sein.
„Aye, Sir." Hillers wurde ein wenig nervös, diese Abweichung gefiel ihr gar nicht. Es war geplant gewesen, sich eine gewisse Rückversicherung zu schaffen, den VOR gewissermaßen den schwarzen Peter zuzuspielen. Als Helden sollten sie zurückkehren, nicht als Kriegsverbrecher. Allerdings galt es auch nicht als ratsam, sich den Zorn des Generals zuzuziehen, es hieß er habe schon einige Karrieren ruiniert. Entschlossen drückte sie den Schubregler durch und ignorierte das immer dringlichere Warnsignal des Computers. Leider ließ es sich nicht abschalten, so war es konzipiert: Ein vorprogrammiertes schlechtes Gewissen.
„Na also," sagte der General erleichtert, als die unsichtbare Grenze passiert war. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr, oder wir brauchen eine gute Ausrede."
Hillers hoffte, niemand würde ihr Händezittern bemerken. Wir sind im Recht, sagte sie sich immer wieder, wir retten unser Land vor einem Präventivschlag der Asiaten. So hatte es der General erklärt, aber als sie nun darüber nachdachte, ob er auch etwas über eine Legitimation durch das Ministerium gesagt hatte, wollte ihr nichts einfallen. Wahrscheinlich hatte Smith sie mit seinem Überzeugungstalent alle geblendet und sie glauben lassen, sie unternähmen etwas zur Rettung der westlichen Zivilisation. Da fragte keiner mehr genau nach.
„Captain, täusche ich mich oder sind Sie nervös?" Smith sah mit einem väterlichen Lächeln zu ihr hinüber. Obwohl er mit seinen vierzig Jahren kaum älter war als sie, verstand er es, andere Soldaten seine überlegene Lebens- und Kampferfahrung spüren zu lassen.
„Verzeihen Sie, Sir, aber die Situation ist doch etwas ungewohnt." Hillers fühlte Zorn in sich aufsteigen, nicht auf den General, sondern auf sich selbst. Sie flog seit fast zwanzig Jahren im Dienst der strategischen Raumflotte, es durfte einfach nicht sein, dass sie die Nerven verlor.
„Wir schreiben hier Geschichte, Hillers, Sie brauchen sich nicht zu schämen. Sie machen Ihre Sache gut."
Die VOR-Station war mittlerweile schon gut mit bloßem Auge zu erkennen, zehn miteinander verbundene scheibenförmige Gebilde, die das gleißende Sonnenlicht reflektierten. Kleine silberne Punkte an den Seiten verrieten, dass Dutzende Versorgungsschiffe an den Seiten angedockt hatten, um ihre Ladung zu löschen. Hillers fragte sich nicht lange, was sie zur Station gebracht haben mochten, Lebensmittel, wissenschaftliche Geräte oder Waffensysteme? Fest stand nur, dass Indira zu diesem Zeitpunkt noch nicht verteidigungsbereit war. Aber wo waren die Kampfverbände der Chinesen, die Indira doch eigentlich vor Angriffen abschirmen sollten? Warum ließen die VOR eine militärische Anlage derart unbewacht? Hillers gestattete sich nicht, den Gedanken fortzuführen. Indira war ein militärisches Ziel, kein ziviles, das hatte Smith ihnen versichert. Eine immense Bedrohung für die Sicherheit der EAAU, eine Rüstungsschmiede, eine Kaserne für tausende Soldaten, die nur darauf warteten, endlich gegen den Westen zuzuschlagen. Hillers drosselte den Antrieb, schließlich sollte es kein Kamikaze-Flug werden.
Wenn die Aussagen des Generals der Wahrheit entsprachen, so verbargen die VOR das bisher sehr gut. Kein Anzeichen von Selbstverteidigung, auf der Station ging alles seinen Gang, Frachter kamen und gingen, während schwere Kräne Transportcontainer ins innere der Station hievten. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar schon einzelne Menschen erkennen, die wie winzige Ameisen über die Plattformen huschten.
„Sollten hier nicht ein paar chinesische Kreuzer herumschwirren, Sir?" fragte sie mit schwer im Zaum zu haltender Nervosität.
„Angst, Captain?" fragte der General, der ihre Frage missverstand. „Keine Sorge, wir sind hier schnell wieder weg. Sind wir schon in Gefechtsreichweite?"
„Ja, Sir" Sie warf einen raschen Blick auf ihren Bildschirm. „Ich entsichere die Waffensysteme, Sir."
Der Kampfcomputer sah aus wie gewohnt, nur das in den Schächten nun andere Raketen als üblich lagen, die nach Aussage des Generals eine höhere Treffsicherheit und effektivere Sprengstoffe besaßen. Eine enorme Entlastung für die strategische Raumflotte, wie er versichert hatte.
Der Navigator kehrte auf die Brücke zurück, als wolle er sich einen Logenplatz für die kommenden Ereignisse sichern. Kurz nach ihm tauchte der Ingenieur auf und machte Meldung, der meuternde Captain war sicher in seinem Quartier verwahrt.
Hillers hatte ein immer stärkeres flaues Gefühl im Bauch. Der General galt nicht gerade als zimperlich, wenn es um Einsätze gegen die asiatischen Streitkräfte ging und freute sich über jede Gelegenheit, den Pagoden eine Rakete vor den Bug zu feuern. Aber das hier schien etwas anderes zu sein, sie hatten diese neue Bewaffnung an Bord, zudem wurde sei den Eindruck nicht los, dass Indira keineswegs so bedrohlich war, wie Smith behauptet hatte. Wenn wir nun auf Zivilisten schießen?
Neben ihr lehnte sich der General bequem in seinem Sitz zurück, während sie die Klappe über der Zielautomatik öffnete. Ihre Hand zitterte heftig über den Tasten, sie zögerte. Noch ist nichts passiert, noch können wir umkehren und behaupten, unser Navigationscomputer hätte uns in die Irre geleitet.
„Was ist, Captain? Skrupel?" Die Drohung in der Stimme des Generals war unüberhörbar.
„Sir, ich weiß nicht, ob wir uns nicht getäuscht..."
„Blödsinn!" Smith stieß ihre Hand weg und drückte die Taste selbst.
Es war so einfach, den Auslöser zu drücken, und nur ein leichtes Vibrieren ging durch das Schiff, als sich die erste Rakete aus dem Schacht löste. „Wenn Sie jetzt weitermachen, habe ich Ihren letzten Satz nicht gehört."
Daraufhin feuerte Hillers die zweite Rakete ab, dann die dritte, es schien gar nicht schwer, die tödliche Fracht in Richtung der Station zu schicken. Auf dem Radarschirm sah sie, dass die beiden anderen Schiffe ebenfalls das Feuer eröffnet hatten und ihre Zerstörungkraft gegen die nichts ahnenden Bewohner der Plattform entluden. Vermutlich hätten bereits die Geschosse des SK Herkules vollkommen ausgereicht, um Indira zu vernichten, aber der General wollte sichergehen, niemanden dort am Leben zu lassen. Es durfte keine Zeugen dieses Kampfeinsatzes geben. Gemetzel wäre wohl ein passender Ausdruck gewesen, angesichts der Wehrlosigkeit der Asiaten, eine Wehrlosigkeit, die fast unheimlich erschien.
Eine Explosion erschütterte Indira, kurz darauf die zweite. Grelles Licht stieg aus allen Kuppeln auf, während vor Hillers innerem Auge das Bild schreiender Menschen entstand, die in Panik durcheinander liefen.
Kaltes Licht, begriff Hillers, KL, die neue Superwaffe in den Arsenalen der EAAU! Der schrecklichste Kampfstoff, den Wissenschaftler je entwickelt hatten und den es eigentlich gar nicht geben dürfte. Entsetzt sah sie die gleißenden Explosionen, die furchtbare Vernichtungskraft, die in ihrer Gewaltigkeit eine obszöne Schönheit besaß. Gleichzeitig wurde ihr klar, wofür sie und die anderen Offiziere missbraucht worden waren, hier ging es nicht darum, eine Bedrohung zu beseitigen, sondern eine solche gegenüber den VOR auszusprechen. Wir sind die einzige Weltmacht!
Es hieß, KL töte schnell, wenn man sich mitten im Feuer befand. Und wenn es in diesem Falle nicht das KL war, so doch die augenblickliche Vernichtung der schützenden Kuppeln. Wer nicht durch die Explosionen getötet wurde, starb einen schnellen Erstickungstod.
Der Navigator stieß einen lauten Freudenschrei aus, auch der General seufzte zufrieden. „Der Professor hat ganze Arbeit geleistet. Aber es muss noch ein etwas sauberer ablaufen." Fast verzückt starrte Smith in das helle Licht, als sei es eine Theophanie des Schreckens und er der auserwählte Prophet. „Jetzt wird man in Peking erkennen, dass man uns nicht länger manipulieren und für dumm verkaufen kann."
Binnen Sekunden war die riesige Station Indira nur noch ein totes Gerippe. Fast 100.000 Menschen hatten dort gelebt und gearbeitet, rechnete man die Mannschaften der Versorgungsschiffe und die nur zeitweise dort stationierten Techniker mit ein. Indira sollte ein Wunderwerk asiatischer Konstruktionstechnik werden, mit dem die VOR der westlichen Welt die Vorrangstellung in der Raumfahrttechnik ablaufen wollte. Nun erinnerten nur noch Tausende von Wrackteilen daran, die sich langsam schwebend im Raumsektor verteilten.
Noch immer tauchten keine VOR-Schiffe auf, so als habe noch niemand begriffen, was eben geschehen war. Hillers ungutes Gefühl verwandelte sich in Panik. Sie war im Kampf geschult und plagte sich während eines Gefechts selten mit Gewissensbissen, aber nun wußte sie mit Bestimmtheit, sie hatte sich auf die falsche Seite geschlagen. Mertens hatte recht, das war ein Kriegsverbrechen. Doch nun war es zu spät für Widerstand.
Dem General fiel es sichtlich schwer, sich vom Anblick der Zerstörung zu lösen, Hillers sah, dass er sich einen deutlichen Ruck geben musste.
„Dann wollen wir mal machen, dass wir hier weg kommen. Hillers, Kurs Metropolis."
Hillers tat nichts lieber, als diesen Befehl zu befolgen.
